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Rhythmische Analyse

der Rede Ciceros

pro

S. Roscio Amerino.

Von

Dr. J. May,

Direktor des Großh. Progymnasiums

in

Durlach (Baden).

Leipzig.

Buchhandlung Gustav Fock G. m. b. H.

1905.

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Es ist nicht nur eine vollständige Verkennung des Wesens des Rhythmus überhaupt, sondern auch des bei Cicero in den Reden gebrauchten, diesen bloß an die Klausel oder an den Anfang oder an beides zu knüpfen. Ist denn auch nur anzunehmen, daß ein Mann wie Cicero, der in seinen rhetorischen Schriften die griechischen Redner so häufig erwähnt und beurteilt, von der rhetorisch-rhythmischen Gestaltung der Sätze z. B. bei Isokrates oder Demosthenes gar keine Ahnung gehabt und so wenig gemerkt haben sollte, daß die griechischen Redner, weit entfernt, den Rhythmus an die Klausel zu binden, vielmehr da, wo sie ihn anwandten, ein Ganzes gaben, wie auch natürlich ist? Man tut Cicero abgesehen von dem inneren Widersinn großes Unrecht mit der Behauptung, daß er niemals einen Gedanken in das Gewand eines rhythmischen Ganzen gekleidet, während dies bei Isokrates oder Demosthenes etwas ganz Gewöhnliches gewesen. Alle die Sammlungen und Theorien über Klauseln (E. Müller, Norden, J. Wolff), treffen das Wesen der Sache nicht, weil sie von der unrichtigen Voraussetzung ausgehen, als liege der Rhythmus nur im Schluß. Freilich ist Cicero vielleicht an dieser Verkennung des Wesens der bei ihm herrschenden Rhythmen selbst schuld, weil er im orator keine andern Beispiele gibt, als solche, die auf einen Ditrochäus ausgehen und weil er sich überhaupt dort nicht bestimmt genug ausdrückt. Trotzdem ist Verf. ds. gerade durch den orator zu einer andern Ansicht über den Ciceronianischen Rhythmus gelangt. Wenn Cic. § 147 sagt: de syllabis propemodum dinumerandis loquemur; quae etiamsi sunt, sicuti mihi videntur, necessaria, tamen fiunt magnificentius quam docentur oder § 38: aperte ac palam elaboratur, ut verba verbis quasi dimensa et paria respondeant, ut crebro conferantur

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pugnantia comparenturque contraria et ut pariter extrema terminentur eundemque referant in cadendo sonum, quae in veritate causarum et rarius multo facimus et certe occultius, so sieht man daraus, daß er die Silbenmessung und Silbenzählung für etwas Wesentliches hält. Wer denkt dabei aber daran, bloß die Silben der Klausel oder nur des Anfangs zu zählen? Das kann sich doch nur auf ein Ganzes beziehen, wie bei den Rhythmen der griechischen Redner die Silbenmessung und Silbenzählung auch eine Rolle spielt. Wenn er ferner § 39 und noch öfter im or. von den Gorgianischen Figuren (paria paribus referunt, adversa contrariis § 65) oder von den lumina orationis (§ 135) spricht, die er tatsächlich auch häufig anwendet, wie unten nachgewiesen wird, so sind gerade damit Rhythmen verbunden, die sich nicht auf einen Satz beschränken, sondern nicht selten ein Mittel der Responsion sind. Hier soll aus § 135 von den zahlreichen lumina orationis nur ein Beispiel angeführt werden: aut cum eiusdem nominis casus saepe commutantur. Praktisch illustriert wird dieser Fall durch Rosc. § 108:

(cum) Chrysogono communiter possidet? 11

Chrysogonum re cognita concessisse. 12 S.

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Man sieht, daß hier die Änderung des Kasus desselben Namens mit respondierenden Rhythmen verbunden ist, wobei am Schluß den zwei Kretikern der ersten Reihe ein Kret. mit Ditrochäus entspricht. Es mag voraus bemerkt werden, daß in den Klauseln respondierender Reihen fast immer ein Wechsel des Rhythmus eintritt. Bezüglich der Silbenzahl (11, 12) ist zu bemerken, daß nach Martianus Capella 40 (Halm, Rhet. Lat. min. p. 480) eine Silbe mehr oder weniger irrelevant ist. Rechnet man aber cum dazu, so ist die Zahl gleich. Wenn aber Cic. in jenem § 147 sagt, derartige Dinge werden rühmlicher angewendet als gelehrt, so trifft das insofern zu, als er sich im or. über die Anwendung der Rhythmen überhaupt ganz allgemein ausdrückt, getreu der Gepflogenheit der Redner, die Rhythmen eher zu verdecken, als offen zu zeigen (et certe occultius facimus § 38). Die Meinung jedoch, als sei der Rhythmus auf den Anfang oder den Schluß beschränkt, widerlegt Cic. § 203 selbst, indem er auf die Frage quo loco (sit numerus orationis) antwortet: in tota continuatione verborum oder in omni parte. Damit stimmt auch § 199: quare cum extremum semper expectent in eoque acquiescant, id vacare

aures

numero non oportet, sed ad hunc exitum tamen a principio ferri debet verborum illa comprehensio et tota a capite ita fluere, ut ad extremum veniens ipsa consistat. Theoretisch also dürfte die Unrichtigkeit der Behauptung bewiesen sein, als wolle Cic. den Rhythmus ausschließlich an den Anfang oder an den Schluß geknüpft wissen. Aber Bla1) tadelt Cicero überhaupt, denn er habe, trotzdem er soviel über numerus rede, weder sich, noch andern klar gemacht, was numerus sei. Von Entsprechen wisse er offenbar nichts. Das ist nun aber gerade ein Hauptpunkt, der durch die folgende Analyse bewiesen werden soll und kann. Allerdings ist die von Blaß aus or. § 67 zitierte Definition des numerus sehr allgemeim. Das kommt aber daher, daß Cic. den Begriff des numerus sehr weit faßt. Vor allen Dingen beschränkt er ihn nicht auf die Klausel. Ferner gehöre dazu das ganze reiche Gebiet der lumina orationis, von denen der § 135 eine reiche Blumenlese gibt. Demosthenes' Ruhm in der Beredsamkeit beruhe nicht zum wenigsten in dem Reichtum der lumina, und fast jeder Satz zeige ein bestimmtes rednerisches Gebilde (Redefigur) (§ 136: et vero nullus fere ab eo locus sine quadam conformatione sententiae dicitur). Cic. folgt darin Demosthenes, indem er solche Kunstformen überall anwendet, womit er meist Rhythmen verbindet, wie aus der Analyse der Rosciana hervorgehen wird. Ja, er geht so weit zu sagen, daß er or. § 198 jede sich gleichmäßig und stetig bewegende Rede numerosa oratio nennt; auch ohne daß sie aus numeri bestehe, wenn sie nur an dieselben heranreiche oder ihnen ähnlich sei, könne sie schon numerosa oratio genannt werden. Die Herausbildung einer solchen Rede sei aber sehr schwer, weil in ihr kein bestimmtes Gesetz herrsche, sondern nur verlangt werde: ut ne immoderata aut angusta aut dissoluta aut fluens sit oratio. Verse zu machen sei leichter als eine Rede. § 202 geht er noch weiter und sagt: was in der Rede rhythmisch sei, komme nicht immer durch den Rhythmus im engeren Sinn zustande, sondern manchmal schon concinnitate aut constructione verborum. constructio verborum ist das, was § 149 so ausgedrückt wird: Collocabuntur igitur verba, ut aut inter se aptissume cohaereant extrema cum primis eaque sint quam suavissumis vocibus; aut ut forma ipsa concinnitasque verborum conficiat orbem

1) Die Rhythmen der attischen Kunstprosa, Leipzig, Teubner 1901 S. 24.

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