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sein. Das Thatsächliche des Falles zu untersuchen war dem Prätor oft unmöglich. Er begnügte sich daher, die Rechtsentscheidung zu geben, nach welcher der Fall sich schlichtete, d. h. die von ihm, dem Prätor, aufgestellte Verwaltungsnorm den Parteien zu publiciren.

Zum Beispiel: es hat Jemand dem Andern eine Sache zu Bittbesitz (precario), d. h. auf beliebigen Widerruf, eingeräumt. Weigert der Empfänger (der Precarist) nach erfolgtem Widerruf die Rückerstattung, so konnte man in solchem Fall den Prätor als Polizei- und Verwaltungsbehörde angehen und von ihm verlangen, dass er extra ordinem (durch Interdict) vorläufig den früheren Besitz des precario dans wiederherstelle, ohne damit über die Rechtsfrage (wer Eigenthümer sei u. s. w.) zu entscheiden. Ursprünglich wird der Prätor die Sache selber ihrem Thatbestande nach untersucht haben und erkannt haben: weil Du, Beklagter, diese Sache precario von dem Andern empfangen hast, so musst Du sie ihm zurückgeben. Aber nun wird es dem Prätor unmöglich, den Thatbestand wirklich festzustellen. Daher empfängt seine Entscheidung den ganz anderen Inhalt: was Du, Beklagter, precario von dem Anderen empfangen hast, das musst Du ihm zurückgeben (quod precario ab illo habes, aut dolo malo fecisti, ut desineres habere, qua de re agitur, id illi restituas, vgl. 1. 2 pr. D. de precario 43, 26). Diese Entscheidung letzterer Art kann der Praetor ohne jede Untersuchung sofort abgeben, ja, er kann sie schon im Voraus in seinem Album formuliren und publiciren. Aus der unbedingten ist eine bedingte Entscheidung, aus dem Interdict alten Styls eine abstracte Norm geworden, welche für diesen Fall nichts aussagt, welche nur die Regel giebt, nach welcher entschieden werden soll, und nach welcher die Parteien sich zu richten haben, nicht aber die Entscheidung selbst. An Stelle eines Urtheils wird den Parteien eine Vorschrift publicirt.

Eine solche Vorschrift, welche auf Antrag einer Partei in Verwaltungssachen vom Prätor den Parteien ausdrücklich zur Nachachtung publicirt wurde, heisst jetzt interdictum im engeren und technischen Sinne. Interdictenverfahren ist jetzt dasjenige Verfahren extra ordinem, welches nicht mehr eine Entscheidung, sondern eine Vorschrift von dem Prätor extrahirt.

Aber die Parteien wollen doch zu einer Entscheidung gelangen: zu diesem Zweck ist im Anschluss an das Interdictenverfahren ein weiteres Verfahren nothwendig. Die Regel ist, dass mit sponsio und restipulatio verfahren wird, d. h. die Parteien versprechen sich gegenseitig eine Conventionalstrafe für den Fall, dass sie der vom Prätor ihnen speciell gegebenen Vorschrift (dem Interdict) zuwider gehandelt haben (oder zuwider handeln werden). Aus sponsio und restipulatio wird dann im Wege ordentlichen Civilprocesses Klage erhoben. Das Urtheil in diesem Process ist dann zugleich das Urtheil für den Interdictenprocess; auf Grund des Urtheils über die Conventionalstrafe kann nicht blos die Strafe, sondern auch die Befriedigung des Interdicten - Anspruchs im Wege eines arbitrium eingetrieben werden. Oder aber, es wird ohne sponsio und restipulatio, unmittelbar auf Grund des interdictum mit formula arbitraria auf Befriedigung des erhobenen Anspruchs (restituere oder exhibere) geklagt. Nur wo es sich nicht um positive Leistung des Gegners (restituere oder exhibere), sondern lediglich um ein Verbot (z. B. der Besitzstörung) handelt, wo also nur Einforderung einer Strafe wegen Verletzung des Verbots möglich ist, stellt selbstverständlich das Verfahren cum sponsione (und also cum poena) den einzig möglichen Weg dar.

Das Interdictenverfahren dient also jetzt nur dazu, um ein ordentliches Verfahren (mit judicium) vorzubereiten. Es ist dasjenige Verfahren, welches nicht nach einer Rechtsregel, sondern nach einer Verwaltungsnorm des Prätors entschieden werden will, und welches deshalb für jeden Einzelfall die Specialpublication der Verwaltungsnorm an die Parteien (das interdictum im formellen Sinn) erfordert. In Wirklichkeit liegt in diesem späteren Interdictenverfahren eine actio vor, welche nur in Bezug auf die Verhandlung in jure (zunächst Erlass der Vorschrift, u. s. w.) von der einfachen actio sich unterscheidet.

Gaj. Inst. IV § 139: Certis igitur ex causis praetor aut proconsul principaliter auctoritatem suam finiendis controversiis interponit; quod tum maxime facit, cum de possessione aut quasi possessione inter aliquos contenditur; et in summa aut jubet aliquid fieri, aut fieri prohibet; formulae autem et verborum conceptiones, quibus in ea re utitur, interdicta decretaque vocantur.

L. 2 pr. D. de precario (43, 26): Ait Praetor: QUOD PRECARIO AB ILLO HABES, AUT DOLO MALO FECISTI, UT DESINERES HABERE, QUA DE RE AGITUR, ID ILLI RESTITUAS.

L. 1 pr. D. uti possid. (43, 17): Ait Praetor: UTI EAS AEDES, QUIBUS DE AGITUR, NEC VI, NEC CLAM, NEC PRECARIO ALTER AB ALTERO POSSIDETIS: QUO MINUS ITA POSSIDEATIS, VIM FIERI VETO.

L. 1 pr. D. de liberis exhib. (43, 30): Ait Praetor: QUI QUAEVE IN POTESTATE LUCII TITII EST, SI IS EAVE APUD TE EST, DOLOVE MALO TUO FACTUM EST, QUOMINUS APUD TE ESSET, ITA EUM EAMVE EXHIBEAS.

III. Die in integrum restitutio ist eine vom Prätor extra ordinem gewährte Aufhebung eines von Rechtswegen eingetretenen Rechtsnachtheils, also ein Schutz gegen das Recht (nicht wie die actio ein Schutz gegen das Unrecht), welcher durch die Unmöglichkeit, von Rechtswegen alle concreten Umstände im Voraus zu berücksichtigen, nothwendig wird. Das Recht muss immer in gewissem Mass generalisiren, d. h. von den concreten Umständen absehen. Es heisst also z. B.: hast Du einen Vertrag in rechtsgültiger Form geschlossen, so musst Du ihn halten, und kannst nicht wieder zurück. Von dieser Regel kann das Recht Ausnahmen machen, indem es gewisse concrete Umstände, welche die Anwendung jenes Grundsatzes unbillig machen würden, berücksichtigt. Es sagt z. B. das römische Civilrecht (lex Plaetoria, 186 v. Chr.): auch wenn der Vertrag rechtsgültig geschlossen war, braucht er ausnahmsweise doch nicht gehalten zu werden, wenn durch denselben ein Minderjähriger (minor XXV annis) betrügerisch übervortheilt worden ist (circumscriptus est). Oder es sagte der Prätor in seinem Edict, die Ausnahme der Lex Plaetoria verallgemeinernd: überhaupt wenn Jemand (sei er minor oder major XXV annis) betrügerisch übervortheilt ist, will ich ihn gegen die rechtlichen Folgen des Rechtsgeschäfts in Schutz nehmen (oben S. 95). So entsteht ein Ausnahmsrecht (jus singulare, vergl. oben S. 12), durch welches das Recht concrete Umstände berücksichtigt, eine Selbstcorrectur des Rechts.

Aber diese Selbstcorrectur des Rechts reicht nicht aus, um Unbilligkeiten zu vermeiden. Es genügt nicht, dass im Wege der Gesetzgebung (oder Quasigesetzgebung, wie im prätorischen Edict) eine allgemeine Regel durch andere gleichfalls abstract gehaltene Regeln beschränkt werde. Darum benützt der Prätor sein

imperium, um das Recht in Form des Verwaltungsverfahrens für den concreten Einzelfall zu corrigiren: dies ist die in integrum restitutio. Durch Decret des Prätors wird extra ordinem (also ohne die Form des Rechtswegs, welche hier durch die Natur der Sache ausgeschlossen ist) ein von Rechtswegen eingetretener Rechtsnachtheil kraft des die concreten Umstände berücksichtigenden prätorischen Ermessens wieder aufgehoben. Bestand der Rechtsnachtheil in dem Verlust eines Klagerechts (z. B. durch Verjährung), so endigt das Restitutionsverfahren mit Ertheilung der actio, d. h. der formula, und auf die in jure (von dem Prätor) ertheilte Restitution folgt dann ein judicium, das sog. judicium rescissorium, d. h. die Untersuchung und Entscheidung über die restituirte Klage. Das Restitutionsverfahren selbst (sog. judicium rescindens) wird immer extra ordinem vom Prätor selber geführt und beendigt. Es gab zwei Klassen von Restitutionsfällen:

1) die restitutio minorum (XXV annis). Die Altersgrenze von 25 Jahren war zuerst von der vorhin genannten lex Plaetoria aufgestellt und mit Wirkung bekleidet worden (daher die Bezeichnung der Grossjährigkeit als legitima aetas), indem die lex Plaetoria dem minor circumscriptus Schutz gegen das in betrügerischer Weise mit ihm abgeschlossene Rechtsgeschäft gewährte. Der Prätor hatte dann durch sein Edict über den dolus denselben Schutz gegen Betrug auch dem Grossjährigen gewährt (S. 95). Indem das prätorische Edict so praktisch die Bedeutung der Altersgrenze von 25 Jahren aufhob, stellte es dieselbe in einem anderen Sinne wieder her. Der Prätor verhiess nämlich den Minderjährigen nicht bloss im Fall des dolus, sondern schlechtweg seinen Schutz. Er erklärte in seinem Edict, jegliches mit einem Minderjährigen abgeschlossene Rechtsgeschäft darauf ansehen zu wollen, ob es aufrecht zu erhalten sei. Der Minderjährige hatte also Aussicht, nicht bloss im Fall des Betrugs, sondern überhaupt, wenn der Erfolg des Rechtsgeschäfts zu seinen Ungunsten war, durch den Prätor die Wiederaufhebung des Rechtsgeschäfts (in integrum restitutio) zu bewirken. Daraus ging dann der allgemeine Grundsatz hervor, dass, wenn ein Minderjähriger auf irgend eine Weise (sei es durch Rechtsgeschäft oder ohne Rechtsgeschäft) in Folge seiner Minderjährigkeit zu Schaden gekommen sei, ihm in integrum restitutio gewährt werden müsse.

L. 1 § 1 D. de minor. (4, 4): Praetor edicit: QUOD CUM MINORE QUAM VIGINTI QUINQUE ANNIS NATU GESTUM ESSE DICETUR, UTI QUAEQUE RES ERIT, ANIMADVERTAM.

2) Die restitutio majorum (XXV annis). Unter Umständen kann auch für einen Grossjährigen in integrum restitutio billig erscheinen. So namentlich im Fall seiner Abwesenheit (restitutio propter absentiam). In Folge seiner Abwesenheit war ihm z. B. eine Klage verjährt oder seine Sache von einem Dritten ersessen worden. Den Ausgangspunkt bildete hier der Fall der Kriegsgefangenschaft. Dann wurden der Abwesenheit in Folge von Kriegsgefangenschaft, andere Abwesenheitsfälle (z. B. reipublicae causa), schliesslich alle begründeten Verhinderungsfälle gleichgestellt1). Wie die absentia, so kann auch Zwang (metus), Betrug (dolus), Irrtum (error) die in integrum restitutio für einen Grossjährigen motiviren.

Der Minderjährige hat also eine allgemeine Restitutionsverheissung für sich: er braucht. sich nur auf seine Minderjährigkeit zu berufen und darzuthun, dass er in Folge dieser seiner Minderjährigkeit in Schaden gekommen sei. Der Grossjährige aber hat nur für einzelne Fälle Aussicht auf Restitution (absentia metus, dolus, error), und muss nachweisen, dass in concreto ein solcher Einzelfall vorliegt.

§ 44.

Der spätkaiserliche Process.

Die uralte Scheidung des ordentlichen Processes in jus und judicium hatte schon seit Ausbildung des Formularprocesses ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüsst, da der judex durch das Mittel der formula zu einem Werkzeug und Organ des prätorischen Willens gemacht war (oben S. 127). Das judicium ward durch dieselbe Macht beherrscht, welche auch in jure regierte. Umgekehrt verlor der Prätor (und ebenso in den Provinzen die praesides provinciarum, welche hier die ordentliche Gerichtsbarkeit besassen) seit der definitiven Redaction des Edicts durch Hadrian (oben S. 39) das jus edicendi alten Styls: der Praetor (und praeses) war an das geltende Civilrecht und an das (kraft

1) Das Edict über die i. i. restitutio propter absentiam s. oben S. 40.

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