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§. 426. Seit dem Beginn der Völkerwanderung (375) mischte sich der altnationale Heldengesang der Germanen mit griechischen und römischen Sagen, und so entstanden neue germanische Sagen und Sagenkreise, die sich grösstentheils an die Geschichte anlehnten, ohne jedoch Zeit und Raum zu sondern.

1. Der ostgothische Sagenkreis beschäftigt sich mit den Königen der Ostgothen aus dem Geschlechte der Amaler, daher Amelungen genannt, Ermanrich und dessen Neffen Theodorich d. Gr., oder, wie er in der Sage heisst, Dietrich von Bern (Verona, daher auch Dietrichsage), mit seinen Dienstmannen, den Wölfingen, worunter der alte Waffenmeister Hildebrand hervorragt.

2. Der burgundisch-niederrheinische oder fränkische (beide verschmolzen ineinander) Sagenkreis enthält die burgundischen Könige Gunther, Gernot und Giselher mit ihrer Mutter Ute, ihrer Schwester Chriemhield, ihren Mannen Hagen, Dankwart und Volker, mit Gunther's Gemahlin Brunhild und deren früherm Verlobten, dem niederrheinischen Helden Siegfried.

3. In den hunnischen Sagenkreis gehört der Hunnenkönig Attila (Etzel in der Sage) und die Helden Walther von Aquitanien, Rüdiger von Pechlaren, Irnfried von Thüringen u. A.

4. Den friesisch-dänisch- normannischen Sagenkreis bilden der Friesen- oder Hegelingenkönig Hettel mit seiner Tochter Gudrun, der Normannen- oder Dänenkönig Horand mit seinem ungeheuerlichen Oheim Wate, welchen die Normannenkönige Ludwig und Hartmuth gegenüberstehen.

5. Der nordische Sagenkreis führt uns den Jütenkönig Beowulf vor und die skandinavischen Helden Wittich und Wieland mit ihrer mythischen Umgebung.

Verwandtschaft der Sprache und Sage der Germanen mit den nordischen oder skandinavischen Völkern.

6. In den lombardischen Sagenkreis gehören die lombardischen Könige und Helden Rother, Otnit, Hugdietrich und Wolfdietrich.

§. 427. Zugleich trat durch die Wanderung eine Veränderung der Sprache ein: Gothisch, Althochdeutsch (Fränkisch-Alemannisch), Altniederdeutsch (Altsächsisch)

und Angelsächsisch. In den Gedichten der ältesten Zeit und bis ins 9. Jahrh. findet sich der Stabreim oder die Alliteration, dann folgt der Endreim. Die älteste Versstrophe besteht aus zwei Langzeilen. Künstliche Masse und Liederstrophen kamen erst zur Zeit des Minnegesangs auf1.

Schon frühzeitig gab es fahrende Sänger und Spielleute, und selbst Könige und Helden übten Gesang und Saitenspiel, wie der alte König Beowulf, Volker in den Nibelungen und Horand in der,Gudrun'.

Gegen diese Volkspoesie eiferte der Fanatismus der christlichen Pfaffheit seit Bonifaz, 718-815; darum ist im Ganzen so wenig aus jener Zeit erhalten, und wir besitzen von alten Gedichten in alter Fassung (aus dem 8. oder 9. Jahrh.) nur noch drei:

1) den in angelsächsischer Sprache gedichteten,Beowulf' (oben §. 406), 2) das,Lied von Hildebrand und seinem Sohne Hadubrand' (Hildebrandslied) 2, 3) den,Walther von Aquitanien' 3, dessen Gegenstück, ,Ruodlieb' (Anfang des 11. Jahrh.), von tegernseer Mönchen, auch nur fragmentarisch in lateinischen Versen erhalten ist 4.

1 LACHMANN, Ueber althochdeutsche Betonung und Verskunst. 2 Als Theil der Dietrichsage in althochdeutscher alliterirender Fassung nur noch fragmentarisch, bearbeitet von KASPAR VON DER ROEN am Ende des 15. Jahrh. Gebrüder GRIMM, Die beiden ältesten deutschen Gedichte etc., 1812; W. GRIMM 1830; LACHMANN in den Schriften der berliner Akad. d. Wiss., 1833. 3 Nur noch in latein. Hexametern des St.-galler Mönchs ECKEHARD d. Aelt., † 973, oder dessen Zeitgenossen GERALDUS, herausgeg. von JAK. GRIMM u. SCHMELLER, neudeutsch von SIMROCK. 4 Bei JAK. GRIMM und SCHMELLER, wo sich auch die latein. abgefassten Gestaltungen der deutsch. Thiersage finden: Ecbasis captivi, Isengrimus und Reinardus vulpes.

§. 428. Mit der Christianisirung Deutschlands und des Nordens durch Karl d. Gr. trat an die Stelle des altnationalen Heldengesangs die geistlich-christliche Dichtung. Alcuin's Schüler Hrabanus Maurus (776 — 856) wurde der eigentliche Begründer mönchischer Gelehrsamkeit in Deutschland und die von ihm zu Fulda 804 eingerichtete Klosterschule Muster für die übrigen.

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In althochdeutscher (oder oberdeutscher) Mundart: das ,Ludwigslied' des Mönchs Hucbald († 930) zu St.-Amand sur l'Elnon (oben §. 317); das Lied auf Athelstan's Sieg über die Dänen bei Brunanburgh, 937; Evangelienharmonien: Tatian's, Otfried's, eines Mönchs von Weissenburg im Elsass, 870,,Krist genannt, in gereimten Versen 1.

In niederdeutscher Mundart die Evangelienharmonie,Heliand' (Heiland), angeblich von einem sächsischen Bauer im Auftrage Ludwig's des Frommen verfasst 2. Das,Wessobrunner. Gebet. Muspilli' oder Gedicht vom Jüngsten Gericht. Die Schriften des Königs Alfred.

1 Ausgabe von GRAFF 4830.

2 Ausgabe und Benennung von SCHMELLER 1830; neudeutsch von Kannegiesser 1847 und Rapp 1856.

§. 429. Unter den Prosawerken steht die Bibelübersetzung des Ulfilas oben an, 348-88, als ältestes Denkmal deutscher Sprache (oben §. 304).

Aus den Zeiten der sächsischen Kaiser (919-1024) ist das wichtigste Sprachdenkmal die Uebersetzung der Psalmen von Notker Labeo (952-1022), Mönch in St.-Gallen. Unter den Ottonen wurde durch den Verkehr mit Italien die classische Literatur in Deutschland heimisch. Die Aebtissin Hroswitha von Gandersheim dichtete in lateinischer Sprache religiöse Dramen 1, um den frivolen Terenz zu verdrängen, auch fing man an, Volksgesänge (§. 427) in lateinische Verse zu kleiden und aus Homer und Virgil Zuthaten und Reminiscenzen einzuschalten. So entwickelte sich in dem nächsten Zeitraum die christlich-romantische Dichtung (oben §. 307, 321).

Aus den Zeiten der fränkischen Kaiser (1024-1125) ist die Uebersetzung und Erklärung des Hohen Liedes von Williram († 1085), Abt zu Ebersberg in Baiern. Die augsburger Schenkungsurkunde ist die erste in deutscher Sprache, 1070.

Lateinisch schrieben die berühmten Chronisten: Wittekind von Korvey, † 1004, Dietmar von Merseburg, † 1011, und Lambert von Aschaffenburg, † 1077.

1 Uebersetzt und erläutert von Bendixen. Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffenmären, Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden, meist zum ersten mal gedruckt und herausgeg. von F. H. v. D. HAGEN, 1855. Kurz, Gesch. d. deutsch. Lit., I, 1853.

B. Die Blüte der schwäbischen Mundart unter den Hohenstaufen, 1137-1300.

§. 430. Literatur des hohenstaufischen oder schwäbischen Zeitalters, 1150-1350, 12. und 13. Jahrhundert. Süddeutsche oder mittelhochdeutsche Mundart. Romantische Poesie im Gegensatz der classischen. Das Zusammentreffen

MERLEKER.

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verschiedenartiger Elemente bringt eine Bewegung des geistigen Lebens der abendländischen Völker hervor, die nach allen Seiten in That und Wort sich kundgibt: Kampf der weltlichen und geistlichen Macht, Ritterthum, Bürgerthum, Universitäten, scholastische Philosophie, Mönchthum, Kreuzzüge. Ausgehende Bewegung von Spanien und Südfrankreich. Die Hohenstaufen (1137—1254) sind Pfleger der ritterlichen Poesie, ebenso Leopold von Oestreich, 1198–1230, Landgraf Hermann von Franken und Thüringen, 1490-1215. Süddeutschland ist der Sitz der höfischen Bildung und Poesie. Volks- und Kunstpoesie, letztere wiederum getheilt in die romantische Ritterepopõe und in den Minnegesang.

1. Epische Poesie.

§. 431. Die Epopõe behandelt theils einheimische, theils ausländische Sagenstoffe. Zu den einheimischen gehören zunächst alle deutschen Heldensagen, die dem Nibelungenliede zum Grunde liegen: die fränkisch-burgundische Siegfriedsage (Sigurdsage bei den Skandinaviern), welche dem ersten Theil, und die gothische Dietrichsage, die der zweiten Hälfte jenes Nationalepos zum Grunde liegt; ferner das Lied von Walther von Aquitanien und die Thiersage. Zu den ausländischen Stoffen gehört die Karls-, Artusund Graalsage, Titurel und Parzival. Auch zerfällt die Epopõe in das Volksepos, das Epos der Kirche, das romantische und historische Epos.

a) Volksepos.

§. 432. Das Heldenbuch ist eine Sammlung von epischen Gedichten, deren Mittelpunkt Siegfried und Dietrich sind, enthaltend den ,Otnit',,Wolfdietrich', den,Grossen Rosengarten und den ,Laurin' oder sogenannten „Kleinen Rosengarten'.

Dieselben Gedichte (zwischen 1490-1590 mehrmals gedruckt), ausserdem das Eckenlied (Ecke's Ausfahrt, bezüglich auf Dietrich's Jugend), die Gedichte vom Riesen Sigenot, von Dietrich's Drachenkämpfen, von Etzel's Hofhaltung, das jüngere Hildebrandslied und ausserdem zwei nicht zu diesem Kreise gehörige Gedichte, das Meerwunder und eine Bearbeitung der Sage vom Herzog Ernst, vereinigte in einer geistlosen, sprachlich verwilderten Ueberarbeitung Kaspar von Roen (Röhn) aus Münnerstadt in Franken 1472. F. H. v. D. HAGEN und PRIMISSER, Heldenbuch, 1820, und F. H. v. D. HAGEN 1855.

§. 433. Die beiden grossen Volksepen der Deutschen sind das Nibelungenlied, gleichsam die deutsche,Ilias', und ,Gudrun', die deutsche ,Odyssee'.

Das Nibelungenlied, eigentlich ,Der Nibelunge Not', ist das grossartigste und bedeutendste unter den Denkmälern der mittelhochdeutschen epischen Volkspoesie. Seine metrische Form ist die vierzeilige Strophe, die sogenannte Nibelungen- oder Heldenstrophe, deren Zeilen paarweise stumpf reimen und durch Cäsur in Halbzeilen zerfallen. Dem Inhalt nach zerfällt das Gedicht in drei Haupttheile:

1. Siegfried's Thaten bis zu seinem Tode. Nachdem Siegfried die Nibelungen unterworfen, zieht er nach Worms und wirbt um Chriemhield, die sich bei ihrer Mutter Ute und bei ihren Brüdern (Gunther, Gernot und Giselher) aufhält. Er hilft Gunther die Brunhild erwerben. Streit der Frauen. Brunhildens Rache durch Hagen; Siegfried's Tod.

2. Chriemhieldens Rache. Sie heirathet Etzel, den Hunnenkönig, um Mittel zur Sättigung ihrer Rache zu erlangen. Nach sieben Jahren ladet sie die Burgunder an ihren Hof (Hagen und Volker, Rüdiger und Dietrich von Bern). Chriemhield tödtet Hagen und wird selbst von Hildebrand getödtet.

3. Die Klage. Etzel, Dietrich und Hildebrand, die einzig übriggebliebenen Helden, stimmen die Klage über die Gefallenen an, und das Leben und die Thaten jedes Einzelnen werden erzählt.

Die Frage nach dem Verfasser des Gedichts, für den z. B. Schlegel (im,Deutschen Museum', Bd. 1) Ofterdingen oder Klinsor annahm, hat Lachmann dahin beantwortet, dass aus der Zusammensetzung von 20 noch erkennbaren epischen Volksliedern, die vorher einzeln gesungen wurden und deren letzte Fassung gegen das Ende des 12. Jahrh. fällt, um das Jahr 1210 das Gedicht durch die Hand eines unbekannten Ordners in der Form des Textes hervorging, den die münchner (sonst zweite hohenemser) Handschrift darbietet. Noch vor 1225 erfuhr das Gedicht zwei neue Ueberarbeitungen, die in der sanctgaller und ersten hohenemser Handschrift erhalten sind. Die Klage ist wahrscheinlich eine schon zu Ende des 12. Jahrh. verfasste Umdichtung eines ältern Gedichts.

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