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gend auch die äußeren Güter nötig. Ähnliches lehrte ein späterer Akademiker, Polemon, dessen wunderbare Bekehrung von Horaz erwähnt wird (sat. II, 3, 254). Der Schüler dieses war Crantor, dessen Schrift negì névdovs von Cicero für seine Consolatio benußt wurde.

Fünftes Kapitel.
Ariftoteles.

47 Platos bedeutendster Schüler, der aber bald der Begründer einer eigenen Schule wurde, ist Aristoteles (384-322) aus Stageira in der Nähe des Athos. Sein Vater Nikomachus war Leibarzt des Königs Amyntas von Makedonien. Achtzehn Jahr alt wurde er in Athen Platos Schüler. Nach Platos Tode (347) verließ er Athen und wurde bald darauf (343) vom Könige Philipp zum Erzieher seines damals dreizehnjährigen Sohns Alexander berufen. Als dieser seinen Zug nach Asien antrat, siedelte Aristoteles nach Athen über und gründete dort die peripatetische Schule, der er zwölf Jahre hindurch (335—323), fast bis zu seinem Tode, vorstand. Er lehrte im Lyceum, einem dem Apollo Lykeios geweihten Gymnasium.

Das Interesse des Aristoteles war ohne Zweifel frühzeitig durch seinen Vater auf die Naturwissenschaften gelenkt worden. Nachdem er mit nüchternem, aber scharfem Blicke die Wirklichkeit und die Einzelheiten der Erfahrung erfassen gelernt hatte, wurde seinem Denken durch Plato die philosophische Weihe gegeben. Er lernte nunmehr das Viele zusammenzufassen und aus der Fülle des einzelnen die philosophische Wissenschaft zu gestalten. Das ausgedehnte Gebiet, welches sein Geist umspannte und bis ins einzelne durchforschte, zwingt zu der Annahme, daß nach bestimmtem Plane von ihm geleitete Hülfsarbeiter ihm große Massen von Materialien zur wissenschaftlichen Verarbeitung zugeführt haben.

Von seinen Schriften sind die exoterischen, d. H. die 48 für einen weiteren Kreis bestimmten, verloren gegangen. Diese waren so ziemlich alle in Dialogform verfaßt. Zwar glänzten sie nicht durch hohe ästhetische Vorzüge, wie die Platonischen Dialoge (f. Einl. 40); aber sie müssen doch auch nicht gewöhnliche schriftstellerische Vorzüge besessen haben, weil das Lob, welches die Alten und vor allem Cicero der Darstellung dieses Philosophen spenden, im Hinblick auf seine uns erhaltenen Schriften völlig unverständlich ist. Seine esoterischen Schriften, d. h. seine Lehrschriften, wiewohl in der Ausführung sehr ungleich, können auf das Lob einer anmutigen oder gar künstlerischen Darstellung keinerlei Anspruch erheben. Charakteristisch im Gegensatz zu der im ganzen naiven Sprache Platos ist ihre reiche und scharf ausgeprägte Terminologie, welche ihnen gleich beim ersten Blicke das Aussehen streng wissenschaftlicher Werke der Schulphilosophie giebt.

Wenn es wahr ist, daß der ovvоntinós der Philosoph 49 ist, so ist Aristoteles der Philosoph xar' koxýv. Durch den Zufall der Geburt in eine Zeit versezt, wo das griechische Geistesleben alle seine Bahnen durchlaufen hatte, hält er das Auge rückwärts gewendet, sammelt und sichtet mit. ordnendem Sinn, ohne sich durch das Viele verwirren zu Lassen, und sucht das Wesen des Gewordenen in festen Formeln zum Ausdruck zu bringen. Sein Geist ist in gleicher Weise bereit zu dem Kleinsten herab, zum Höchsten hinaufzusteigen. Kein Gebiet des menschlichen Lebens und des menschlichen Nachdenkens läßt er undurchsucht. Nur ein Reich scheint ihm, nach seinem Stile zu urteilen, verschlossen gewesen zu sein: das Reich des Schönen. Und doch erfaßt er in seiner Poetik das Wesen der Dichtung tiefer, als es Plato, dem Dichterphilosophen, gelungen ist (f. Einl. 44). Die Poesie, lehrt er, habe es mit dem Allgemeinen, d. H. Wesenhaften zu thun. Nicht Geschehenes bloß, sondern was nach dem Gesetze der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkei stets geschehen könne, zeige sie. Deshalb gilt sie ihm at etwas Würdigeres und Philosophischeres als die Geschich

(οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ ̓ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. Ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ ̓ ἱστορία τὰ καθ ̓ ἕκαστον λέγει). Mufgabe ser Kunst überhaupt ist nach Aristoteles nicht bloß die Wirklichkeit nachzuahmen, sondern auch das von der Natur unvollendet Gelassene zu Ende zu führen (ý téxvn và μèv ἐπιτελεῖ ἃ ἡ φύσις ἀδυνατεῖ ἀπεργάζεσθαι, τὰ δὲ μιμεῖται).

Aristoteles wendete sich mit demselben Interesse allen Teilen der Philosophie zu. Mit der größten Subtilität behandelte er alle Probleme der Erkenntnis und Seelenlehre, erforschte er die Geseze der Rhetorik und Poetik. Die Moralphilosophie, mit der Politik im Gefolge, war ihm nicht das höchste, wie den Sokratischen Philosophen; aber er betritt doch auch ihren durchwühlten Boden mit sicherem Schritt und zeichnet dem Leben und Handeln seine Geseze. In welcher Fülle naturwissenschaftlicher Werke vollends hat er, dabei stets den Gesezen des Werdens zustrebend, die Ergebnisse zahlloser Beobachtungen niedergelegt! Der Gipfel seines philosophischen Gebäudes aber ist die Metaphysik, melde er felbft πρώτη φιλοσοφία per θεολογία nennt und als Wissenschaft der obersten Principien definiert. 50 Sein Verhältnis zu Plato ist nicht leicht zu erfassen. Der Gesamteindruck, den sein Philosophieren macht, steht allerdings in geradem Gegensaße zu dem Eindruck, den man aus Plato gewinnt. Gleichwohl stimmt beider Erkenntnistheorie, wie ihr Weltbild, in wichtigen Punkten überein. Bemerkenswert ist dieser Unterschied, daß Plato von der Höhe des Allgemeinen nur ungern zu dem Besonderen der Erfahrung herabsteigt, in welcher er ja nur ein unvollkommenes Abbild der Idee erblickt, während Aristoteles mit voller Hingabe das Thatsächliche durchforschte, weil er in dem Einzelnen etwas Wirkliches, ja in gewissem Sinne das allein Wirkliche erblickt. Aber auch Aristoteles tummelt sich nicht mit unersättlicher Sammellust auf der endlosen Fläche der Erfahrung. Auch er strebt vor allem nach begrifflicher

Erkenntnis; auch er sucht das Eine und in der Flucht der Erscheinungen Unveränderliche zu erfassen. An die Stelle der Platonischen, über den Erscheinungen thronenden Idee freilich, welche er ein v napà tà molλà nennt, tritt bei ihm das in allem Einzelnen lebende Wesen der Dinge (èv xaτà πollãov), welches stets der Verwirklichung zustrebt. Deshalb betrachtet er auch nicht, wie Plato, die Sinne als Hemmnisse der wahren Erkenntnis (5. Einl. 43), sondern lehrt, daß aus wiederholten Sinneseindrücken die Erfahrung (unɛioía) entsteht und daß aus dieser durch methodische Behandlung das wahre Wissen, das Wissen des Allgemeinen, gewonnen wird.

Für das Verständnis der philosophischen Schriften 51 Ciceros ist nur die Ethik und Politik des Aristoteles von Bedeutung. Außerdem beruft sich Cicero gelegentlich zur Bekräftigung seiner Ansichten auf die theologisch-teleologische Weltauffassung des Aristoteles.

Verglichen mit der stoischen Lehre trägt die Ethik des Aristoteles den Charakter einer großen Milde. Cicero macht ihr deshalb den Vorwurf der Halbheit und giebt, unbeschadet seiner Hochachtung vor Aristoteles, der strengeren Ethik der Stoiker, welche ihm der Würde des Menschen mehr zu entsprechen schien, den Vorzug. Bisweilen freilich, gesteht er, sei er schwankend, ob nicht doch vielmehr Aristoteles mit seiner milderen Lehre recht habe. Der höchste Zweck des Lebens nämlich, um dessen willen alles andere erstrebt wird, ist nach Aristoteles die Glückseligkeit (ɛvdαıμονία). μovía). Diese aber ist dann erreicht, wenn die eigentümliche Thätigkeit (oixelov oyov) des Menschen zur reifen Vollendung gelangt ist. In diesem Zustande besitzt der Mensch das menschliche Gut, die Tugend. Im Gegensat zu Plato nämlich sucht Aristoteles' Ethik nicht nach dem absolut Guten (rò ánlãs ¿yadóv), sondern nach dem eigentümlichen menschlichen Gute, welches zur Klasse der xad' Exaotov άyadá gehört. Im Grunde meint auch Aristoteles, daß gut und glücklich leben seiner Natur gemäß leben heißt. Gleichwohl stellt er die natürlichen Tugenden den ethischen

gegenüber. Erst in den letteren, welche mit vernünftigem Bewußtsein geübt werden, erkennt er reife Tugenden. Den unvernünftigen Seelenteil, die Begierde (öpeğis) unterscheidet er von der bewußten Einsicht (vovs). Diese Begierde nun, welche zugleich die egoistischen Triebe (indvuía) wie den dunklen Trieb zum Guten (vuós) umfaßt (s. Einl. 43), ist bestimmt, dem vernünftigen Seelenteil, dem sie zugesellt ist, zu gehorchen. Erst wenn die Vernunft dazwischentritt, wird der natürliche Trieb zum Guten, die ovoǹ ¿petǹ zur moralischen Tugend (ỷdinǹ ¿perń). Die Tugend ist nach Aristoteles also nicht einfach das Wissen. Durch lange Übungen, lehrt er vielmehr, muß unsere Begierde zum Guten gewöhnt werden. Erst viele tugendhafte Handlungen lassen einen zum tugendhaften Handeln geneigten Zustand δες Sunern entftehen. Μία χελιδὼν ἔαρ οὐ ποιεῖ. Gefellt sich dann die Einsicht hinzu, so ist die Tugend zur Reife gelangt und zu einer ethischen geworden. Erst aber, wenn der Wille erstarkt ist, kann die Einsicht über die Affekte und Begierden siegen. Welcher Art ist nun diese Herrschaft? Die Einsicht (pgóvnois) zeigt uns die richtige Mitte (medium oder mediocritas von Cicero genannt) zwischen dem fehlerhaften Zuviel (dлɛoßolń) und dem fehlerhaften Zuwenig (heups).) So steht der Mut in der

1) So sagt auch Horaz (epist. I 18, 9): Virtus est medium vitiorum et utrimque reductum. Auf diese Definition von der Tugend als der richtigen Mitte zwischen zwei Extremen gründet Lessing seine Erklärung jener geheimnisvollen tragischen Katharsis. In der Poetik des Aristoteles (6) nämlich wird das Wesen der Σragödie folgendermapen erflärt: Ἔστι τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας, μέγεθος ἐχούσης, δρώντων καὶ οὐ δι' ἀπαγγελίας, (ἀλλά Seţţing) δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν. Die Glugworte dieser Definition nun werden in der Hamburgischen Dramaturgie (Stück 78) so erläutert: Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anderm beruht, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserem Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extrem findet, zwischen welchem sie inne steht: so muß die Tragödie, wenn

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unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden

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