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IV. Tusculanarum disput. ad Brutum

libri quinque.

Den Namen verdanken die Tusculanae disputationes dem Landgute Ciceros bei Tusculum, auf welchem er diese fünf, für die Regelung des Lebens in hervorragendem Grade wichtigen Fragen so ungefähr in philosophischen Gesprächen behandelt zu haben vorgiebt. Den leitenden Gedanken der ganzen Schrift kann man in diese Formel zusammenfassen, daß ein reines, sicheres, unverlierbares Glück nur auf der unerschütterlichen Grundlage der Vernunft und Tugend möglich ist. In einer Zeit, wie die damalige war (s. Einl. 15), regte sich in allen Besseren das Verlangen, die Bande, welche den Menschen an das Zeitliche und Vergängliche knüpfen, zu lockern, sich auf Tod, Schmerz und Verluste aller Art gefaßt zu machen und jenseits dieser politischen Welt, deren Stüßen zusammenbrachen, jene andere Heimat zu suchen, welche der Unruhe des Ehrgeizes und der leidenschaftlichen Begehrlichkeit nicht zugänglich ist. Aus der friedlichen Sicherheit eines gut geordneten modernen Staates heraus betrachtet, scheinen diese Gespräche leicht wie Disputierübungen, durch welche sich der rege und schaffensfreudige Geist Ciceros über die Leere seiner Muße zu trösten gesucht habe. Um sie in ihrem wahren Lichte zu erblicken, muß man sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß sie am Vorabend der Proskriptionen geschrieben sind und daß Cicero, wie viele seiner Freunde, die sich an diesem Werke erbaut hatten, kaum ein Jahr später schon Gelegenheit fand, sterbend an sich die Kraft dieser ernsten Lehren zu erproben.

Gewidmet ist diese Schrift, wie die meisten anderen philosophischen Schriften Ciceros, dem M. Brutus, welcher damals eben das Haupt jener Verschwörung gegen Cäsar wurde. Zehn Jahre hindurch stand er mit dem um mehr als zwanzig Jahr älteren Cicero in einer innigen, auf Achtung und Liebe zugleich gegründeten Freundschaft. Wurde diese Freundschaft auch bisweilen getrübt, vor allem nach dem Morde Cäsars, wo es Brutus' Unwillen erregte, daß Cicero mit so viel Wärme dem,,Knaben" Octavius huldigte, so kann sie doch als eine Freundschaft von seltener Echtheit gelten. Zugleich kann sie als Beweis dienen, daß jene berühmte Definition der Freundschaft im Laelius: Est amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio' doch wohl eines Zusaßes bedarf. Denn soll auch in Bezug auf die Hauptpunkte zwischen Freunden Übereinstimmung herrschen, so wirkt doch die Verschiedenheit im weniger Wichtigen nicht störend, sondern erfrischend und wird so sogar zu einem mächtigen Bindemittel. Gemeinsam war beiden die Liebe zum Vaterlande und der unerschütterliche, enthusiastische Glaube an die alleinseligmachende Kraft der Tugend; gemeinsam war ihnen auch die angeborene Gleichgültigkeit gegen alle sinnlichen Genüsse. Ferner war ihr politisches Ideal dasselbe. Schließlich trafen sie in ihrer Liebe zur Philosophie zusammen. Das Ziel ihrer Wünsche war, dem Staate in einer hervorragenden Stellung nüßen zu dürfen und durch emsige Geisteskultur, besonders durch das Studium der Philosophie, nicht bloß ihre Muße veredeln, sondern alle Keime des Menschlichen in sich zur Entwickelung bringen zu können. Im übrigen waren sie nicht nur an Alter, sondern auch hinsichtlich ihres Charakters, wie hinsichtlich ihrer geistigen Anlagen durchaus verschieden.

Der Unterschied des Alters fiel wenig ins Gewicht. War Cicero auch an Jahren der ältere, so war er doch bis an sein Ende von einer beweglichen Jugendlichkeit des Innern, neben welcher der ernste und langsame Brutus vielmehr als der ältere Freund erscheint. Was den Charakter des Brutus betrifft, so ist man zu allen Zeiten einstimmig in seinem Lobe

gewesen. Die Bewunderung, welche einmal entzündet, maßlos zu sein pflegt, hat in seinem Bilde nichts zurückgelassen, woran sich der leiseste Tadel heften könnte. Ja, man darf behaupten, daß er und Cato im ersten Jahrhundert nach Christo fast über das Maß des Menschlichen hinaus idealisiert worden sind. In dieser Zeit, im Hinblick auf welche Tacitus sagte, non esse curae deis securitatem nostram, esse ultionem, ließ die Liebe zur Philosophie im Verein mit der noch glimmenden Liebe zur politischen Freiheit, welche man durch jene, keiner Herrscherwillkür zugängliche Freiheit des Innern damals je länger je mehr entbehren lernte, einen Kultus der sittenstrengen römischen Vergangenheit entstehen, deren Hauptheroen Brutus und Cato wurden. Aber auch Ciceros Briefe und Brutus' eigne Briefe an Cicero, deren Echtheit vielfach mit Unrecht angezweifelt worden ist, lassen sein Bild, abgesehen von seinen nach den Anschauungen der römischen Aristokratie allerdings erlaubten Wuchergeschäften mit dem armenischen Könige Ariobarzanes und den Salaminiern auf der Insel Cypern, verehrungswürdig erscheinen. Seine spätere Verwaltung der Gallia cisalpina kam an tadelloser Rechtlichkeit Ciceros Verwaltung der Provinz Cilicien gleich. Doch hören wir vor allem Ciceros Urteil über Brutus. Im Orator (10, 33), der auf Anregung des Brutus verfaßt ist, redet er den Freund so an: „Amo et semper amavi ingenium, studia, mores tuos. Incendor porro cotidie magis, non desiderio solum, quo quidem conficior, congressus nostros, consuetudinem victus, doctissimos sermones requirens tuos, sed etiam incredibilium admirabili fama virtutum, quae specie dispares, prudentia coniunguntur. Quid enim tam distans quam a severitate comitas? Quis tamen unquam te aut sanctior est habitus aut dulcior? Quid tam difficile quam in plurimorum controversiis diiudicandis ab omnibus diligi? Consequeris tamen, ut eos ipsos, quos contra statuas, aequos placatosque dimittas. Itaque efficis, ut cum gratiae causa nihil facias, omnia tamen sint grata, quae facis..... Iam quantum illud est, quod in maximis occupationibus

nunquam intermittis studia doctrinae, semper aut ipse scribis aliquid, aut me vocas ad scribendum? Itaque hoc sum aggressus statim Catone absoluto, quem ipsum nunquam attigissem, tempora timens inimica virtuti, nisi tibi hortanti et illius memoriam mihi caram excitanti non parere nefas esse duxissem. Sed testificor me a te rogatum et recusantem haec scribere esse ausum."

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Widersprechende Eigenschaften, sagt Cicero, wußte Brutus zu verbinden. Er war streng und milde zugleich. Daher die durch Liebe belebte Achtung, welche alle für ihn empfanden. So treu er auch an einmal gefaßten Grundsäzen hing, verfiel er doch nicht in den schroffen Eigensinn Catos. Er verstand es offenbar, die Charakterfestigkeit mit kluger Rücksichtnahme auf das Besondere der einzelnen Fälle zu verbinden. Daher das Sympathische und menschlich Wahre seines Wesens. Man begreift darnach auch, daß er, der geborene Stoiker, sich doch lieber zur freieren Lehre der neueren Akademie bekannte (f. Einl. 10). Er besaß nicht den leicht erregbaren Enthusiasmus, das schnell aufflackernde Feuer Ciceros, und selbst die Tugend, welcher er einen Kultus weihte, liebte er, im Sinne der Stoiker, vor allem als das Vernunftgemäße. Was ihn aber neben der Achtung, welche seine Sittenstrenge einflößte, zugleich liebenswert erscheinen ließ, war gleichwohl die Wärme seines Empfindens, die sich allerdings kaum je zur schwärmerischen Hingabe steigerte, dafür aber sich gleich blieb und nie ohne zwingenden Grund zur Kälte herabsank. Was ihm die Neigung als empfehlenswert pries, mußte erst, ehe er's ausführte, die langsame und nüchterne Prüfung des Verstandes bestehen. Wie ein echter Stoiker aber hatte er stets den Mut, seiner Meinung durchaus gemäß zu handeln. War das Prinzip einmal gebilligt, so zog er auch alle Konsequenzen daraus.

Seiner sittlichen Anlage entsprach seine geistige Begabung. Er war für die Philosophie, nicht aber für die Beredsamkeit geschaffen. Es fehlte ihm an Wortfreudigkeit. Er verstand es nicht und verschmähte es, seine Gedanken durch eine gefällige Ausprägung wirkungsvoller zu machen.

Der gleichmäßigen ruhigen Klarheit seines Wesens widerstrebte alles Pathetische im Ausdruck. Jene Fülle und jene Erregtheit der Rede, welche Cicero mühelos als den natürlichen Ausdruck seiner Anlage zustande brachte, wäre ihm nur durch eine Art schauspielerischer Affektation möglich gewesen. Demgemäß erblickte er in dem tenue genus die wahre Beredsamkeit. Freilich ging es ihm wie den meisten Neo-Attikern damals in Rom, welche den Lysias als den vollendeten und einzigen wahrhaft attischen Redner priesen: anstatt tenues zu werden, wie ihr bewunderter Lysias, wurden fie nur sicci und exsangues.

Seine politische Laufbahn ist bekannt. Er bezwang seine Abneigung gegen Pompejus und kämpfte bei Pharsalus auf seiner Seite. Nach der Schlacht aber trug er kein Bedenken zu Cäsar überzutreten; ja er trat in ein inniges Verhältnis zu diesem, bewunderte ihn und mißbilligte es offen, daß sein Dheim Cato nach der Schlacht bei Thapsus sich selbst den Tod gegeben und so sich der Gnade Cäsars entzogen hätte. Aber freilich der Republik wollte er nicht untreu werden. Sobald es ihm daher klar geworden war, daß Cäsar nicht daran dachte, nach Wiederherstellung des Staates seine außerordentliche Gewalt niederzulegen, trat er an die Spize jener Verschwörer. Aber troß seiner sich langsam entschließenden Besonnenheit hatte er, geblendet durch den Idealismus seines eigenen Innern, doch das Wichtigste übersehen, daß nämlich jene Römer die Freiheit, die er ihnen wiedergeben wollte, gar nicht mehr zu würdigen verstanden. Er sah bald zu seinem Schmerze ein, daß Cäsar vergeblich geblutet hatte. Brutus' langsam abwägende Gerechtigkeit erlag der rücksichtslosen Klugheit des Antonius, die keck den Augenblick zu ergreifen wußte. Kein persönliches Opfer war ihm zu schwer, um die Greuel des Bürgerkrieges zu verhindern. Endlich verließ er Italien und schiffte sich nach Griechenland ein. Aber auch so war der Krieg nicht zu vermeiden, und Brutus mußte an die Spige der Unternehmungen treten. Seine männliche und philosophische Festigkeit blieb ihm treu bis zum Tage von Philippi; aber er starb doch mit der traurigen

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