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seyn; so hebt gemeines Recht nicht das partikuläre auf, wean ihm nicht ausnahmsweise diese Bestimmung wirklich gegeben ist"), ferner eine neue Regel hebt die ältere Regel, und vielleicht auch ihre Ausnahmen, aber diese nicht immer auf). 3) Der aufhebende Rechtssaßz muß der neuere seyn: ius posterius derogat priori).

Modification von Rechtsfäßen.

§. 18.

Zwey Rechtsvorschriften können in dem Verhältniß zu einander stehen, daß eine die Wirksamkeit der andern zwar nicht aufhebt, aber sie doch verändert. Dies ist auf folgende Weise möglich: 1) durch Einschränkung, indem die eine der anderen gewisse Fälle entzieht, die außerdem unter sie fallen würden, entweder sie als Regel vollkommen stehen lassend, aber Ausnahmen hinzufügend, oder sonst ihren Umfang vermindernd1); 2) durch Erweiterung, indem der Umfang der einen Vorschrift durch die andere vergrößert wird.

Eine solche Modification kann sich namentlich auch aus inneren Gründen als nothwendig darstellen, also gegenüber dem auf äußerer Autorität beruhenden Recht durch das Recht der Wissenschaft erfolgen). Sie muß sich darauf gründen, daß der Wille des Urhebers der vorliegenden Rechtsvorschrift, obgleich er nicht ausgesprochen ist, vernünftigerweise die Beschränkung der Erweiterung fordere, und das

b) 3. B. L. 3 §. 5 D. de sepulcro viol. (47, 12).

c) Vgl. Thibaut, über das Verhältniß besonderer Säße des älteren Rechts zu neuen Regeln, Civil. Abhandlungen 1814 Abh. 7. (Es kommt darauf an, ob die Ausnahmen, Folgerungen und Nebensäße mit dem Princip des neuen Rechtssaßes vereinbar sind. Die alte Regel, daß das ältere Specialgeseß durch ein neueres generelles nicht aufgehoben werde, ist daher in dieser Allgemeinheit unrichtig. Vgl. Bruns in v. Holzendorffs Encyclopädie I. S. 262. R.)

d) L. 4 D. de const. princ. (1, 4). (Ein anderer Begriff ist die Ausschließung eines (dispositiven) Rechtssaves durch Willkür oder örtliches Recht; §. 6 d. §. 13 o. p. R.)

a) Vgl. L. 80 D. de R. I. (50, 17): in toto iure generi per speciem derogatur, et illud potissimum habetur, quod ad speciem directum est.

b) Dieß ist es, was die Römer interpretatio in einem vorzüglichen Sinne nannten. Beispiel einer Beschränkung L. 8 §. 6 D. de transact. (2, 15), einer Erweiterung L. 2 §. 29 D. ad S. C. Tertull. (38, 17). — Etwas anderes ist die Nachweisung, daß der Sinn des Rechtsjaķes selbst ein engerer oder weiterer sey, als in dem gewöhnlichen Wortverstand zu liegen scheint; diese ist eine gewöhnliche Interpretation in unserm Sinn (§. 15), bey der man in dieser Beziehung zwey Arten unter dem Namen int. restrictiva und extensiva aufgestellt hat, eine Eintheilung, die eigentlich nur auf jene Interpretation im römischen Sinne paßt.

Gegentheil ein dem wahren und wohlverstandenen Gedanken des Rechtssaßes unangemessenes Resultat gebe©).

Widersprüche),

§. 19.

Ein Widerspruch (Antinomie) besteht zwischen zwey Rechtssäßen desselben Rechtskörpers, von denen der eine den anderen aufhebt oder modificirt, ohne daß sich bestimmen läßt, welchem von beiden die aufhebende oder modificirende Function zukommt. Es ist ein nur scheinbarer Widerspruch, der einer richtigen Interpretation weicht, sey es, daß diese den beiden Stellen einen Sinn giebt, in welchem sie gar nicht mit einander collidiren), oder daß sie nachweist, welche nach der wirklichen Absicht des Urhebers vorgehen solle). Wirklich widersprechende Rechtsfäße heben einander gegenseitig auf, und der Punct, den sie betreffen, ist so zu entscheiden, wie wenn er in dem auf äußerer Autorität beruhenden Recht gar nicht entschieden wärea).

Drittes Kapitel.

Verhältniß der Rechtsvorschriften zu nicht-
juristischen Principien.

Sittlichkeit und Religion.
§. 20.

Die rechtliche Beurtheilung der Verhältnisse ist selbstständig gegenüber der sittlichen und religiösen; eine Handlung kann unsittlich und irreligiös seyn, ohne darum auch widerrechtlich zu seyn. Ein Recht,

ubi

c) Mit den gewöhnlichen Regeln: cessante ratione, cessat lex ipsa eadem legis ratio, ibi eadem legis dispositio, fommt man nicht weit, da gleich der Ausdruck ratio legis mehrdeutig ist.

a) Besonders in Beziehung auf die Gesetzgebung Justinian's: Thibaut, civil. Abhandl. 6. 1814, Löhr, Magaz. für Rechtswiss. und Gesetg. III. 7. 1818, Savigny, System I. §. 42-45, von denen nur die beiden leßten von einer richtigen Ansicht über das Wesen der justinianischen Legislation ausgehen.

b) 3. B. bey den §. 13 Note o und p cit. Stellen.

c) Gewöhnlich wird das wissenschaftliche Verfahren bey scheinbaren Widersprüchen in diese Lehre hereingezogen, was die richtige Entscheidung unserer Frage erschwert. Jenes ist eine Sache der Interpretation, die wahren Widersprüche liegen über diese hinaus.

d) (Vgl. von Scheurl, Beitr. 1852. No. 4. S. 129, der hierfür passend auf die Analogie des Rescripts von Hadrian Gai. I, 7 richtiger das argumentum a contrario aus demselben vgl. §. 8 I. de iure nat. I, 2 hinweist. R.)

welches unsittliche Handlungen schlechthin wie rechtswidrige behandelte, würde seine Selbstständigkeit verlieren, sogar ohne der Sittlichkeit und Religion zu nüßen, indem es durch seinen äußeren Zwang die Freiheit der Gesinnung untergrübe. Dagegen kann das Recht, ohne sein eigenes Daseyn zu gefährden, auch keiner feindlichen Richtung gegen Sittlichkeit und Christenthum zu Hülfe kommen, es darf sich nicht zum Beförderer der Unsittlichkeit herabwürdigen lassen. Eine Handlung daher, welche ein Attentat gegen die Sittlichkeit enthält, soll auch rechtlich nicht gebilligt und geschützt werden). Noch weniger kann das Recht etwas unsittliches und irreligiöses gebieten. Aber es giebt Verhält= nisse, in denen den sittlichen und religiösen Principien überdieß ein positiver bestimmender Einfluß auf die rechtliche Gestaltung derselben zukommt. Dieß ist der Fall bei den Beziehungen, die, ursprünglich sittlicher oder religiöser Natur (so die Familie, die Kirche), zu Rechtsverhältnissen gestaltet worden sind, und deren rechtliche Form jener Grundlage gemäß sein muß. Wo ferner das Recht Sittlichkeit und Religion zu seiner Hülfe herbenzieht, wie z. B. die Pflicht zur Wahrheit beym Beweis, gegenseitige Redlichkeit und rechtschaffenes Verhalten bey Verträgen, die darauf gestellt sind, da wird Unsittlichkeit auch als ein Unrecht zu qualificiren, und mit rechtlichen Folgen zu belegen seyn»).

Wohlfahrt.
§. 21.

Das Recht hat die Aufgabe, das menschliche Wohl zu befördern, dieß ist daher auch ein Princip des Rechts). Aber das Recht dient der menschlichen Wohlfahrt auf dem ihm angewiesenen Wege, welcher in der Hervorhebung der Gleichheit gegenüber den individuellen Unterschieden in den Menschen und ihren Verhältnissen besteht. Es ist nicht das Wohl des Individuums, sondern das Wohl der Gattung, welches die nächste Aufgabe des Rechts ist. Diese Herrschaft der gleichmäßig durchgreifenden Regel über die individuellen Bedürfnisse ist der Grund

a) L. 6. 30. C. de pact. (2, 3), L. 134 pr. D. de V. O. (45, 1) u. a. b) [Der Verf. entwickelt hier im Grunde nur die Anschauungen der Justinianischen Compilation über das Verhältniß von Recht und Sittlichkeit. Dieß ist jedoch wesentlich eine rechtsphilosophische Frage, die nach Zeiten und Nationen verschieden wird beantwortet werden, und die auch bei uns jezt lebhafte rörtert wird,] (vgl. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. 1860. §. 45 S. 76, Sav., System I. S. 53. 54. R.) [Dahn Münch. Vierteljahrsschr. XII. 1870 S. 221–306.]

a) Die Römer nehmen diesen Punkt gleich in die Definition des Rechts auf, indem fie sagen: ius privatum est quod ad singulorum utilitatem spectat. L. 1 §. D. de I. et I. (1, 1). (Gegen die Annahme dieses Princips vgl. Sav., Syst. I. .54. Utilitas ist nicht Wohlfahrt, sondern das rechtliche Interesse. R. S.)

Buchta, Pandekten. 12. Aufl.

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charakter des Rechts, die ratio iuris; darum kann es nicht fehlen, daß es in den einzelnen Fällen mit den Ansprüchen des von der Geltendmachung der individuellen Unterschiede abhängigen Wohls in Collision kommt). Es ist nun eine Aufgabe, das Recht so auszubilden, daß die abstracte Gleichheit nicht in eine wirkliche Ungleichheit, das formelle Recht nicht in ein materielles Unrecht umschlages). Diesem Bedürfniß zu entsprechen, giebt es einen doppelten Weg:

1) Das reine Recht wird so gestaltet, daß es, ohne seine Consequenz aufzugeben, den begründeten Anforderungen auch des individuellen Wohls entspricht, es wird ein billiges Recht, aequum ius, denn Billigkeit ist eben die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede und ihrer Ansprüche). Aber dieses Nachgeben gegen die Ansprüche der Billigkeit hat außer der inneren Schranke, die darin liegt, daß das Recht seinen eigenthümlichen Charakter nicht aufgiebt, auch noch äußere Gränzen: zuweilen ist die abstracte Consequenz absichtlich festgehalten (strictum ius), indem die unnachsichtliche Strenge derselben als das dem allgemeinen Wohl selbst zuträglichere erscheint. Niemals übri

b) Daß z. B. der Arme und der Reiche, der Ungebildete und der Gebildete, der Kluge und der Thörichte vor dem streng consequenten Recht gleichstehen, ist allerdings zugleich im Interesse des menschlichen Wohls, aber in der einzelnen Anwendung kann es eine Beeinträchtigung desselben werden.

c) Dieß drückt der Spruch aus: summum ius summa iniuria. Die abstract gleiche Behandlung z. B. des Armen und Reichen 2. kann eben dadurch zu einer Ungleichheit werden, daß es jenem nach seiner Individualität schwieriger sein kann, als diesem, die Vorschriften des Rechts (z. B. für das Ansuchen um gerichtlichen Schuß) zu erfüllen.

d) So 3. B. L. 3 in f. D. de pec. const. (15,5): habet enim utilitatem ut ex die obligatus constituendo se eadem die soluturum teneatur. L. 43 D. de relig. (11,7): Sunt personae, quae, quamquam religiosum locum facere non possunt, interdicto tamen de mortuo inferendo utiliter agunt. nam propter publicam utilitatem, ne insepulta cadavera iacerent, strictam rationem insuper habemus - nam summam esse rationem, quae pro religione facit. Auf demselben Princip beruht das Institut der Vormundschaft für solche Personen, die ihrer Individualität nach zur ersprießlichen Verwaltung ihres Vermögens ungeschickt find, ferner die rechtliche Behandlung des Betrugs und Zwangs in Rechtsgeschäften, das Hinausgehen über die wörtliche Erklärung bey Contracten, bey Geseßen, und unzähliges andere. Siehe auch L. 51 in f. D. ad L. Aquil. (9, 2):— multa autem iure civili contra rationem disputandi pro utilitate communi recepta esse, innumerabilibus rebus probari potest, unum interim posuisse contentus ero. Cum plures trabem alienam furandi causa sustulerint, quam singuli ferre non possent, furti actione omnes teneri existimantur, quamvis subtili ratione dici possit, neminem eorum teneri, quia neminem verum sit eam sustulisse. (Vgl. Hartter, Archiv für civ. Pr. XXIX. 8. 1846 XXX. 14. 1847 R.)

e) Von einem solchen Fall sagt L. 12 §. 1 D. qui et a quib. man. (40, quod quidem perquam durum est, sed ita lex scripta est, und ist zu verstehen

gens ist die Billigkeit, die dem Richter zu berücksichtigen gestattet oder geboten wird, ein dunkles subjectives Gefühl), sondern ein seiner Gründe sich bewußtes, dem Geist des fraglichen Rechtsinstituts entsprechendes Ermessen der individuellen Umstände.

2) Es tritt neben das reine, in seiner Strenge verharrende Recht eine Ausnahme zu Gunsten gewisser Personen oder Verhältnisse, die ein ganz besonderes, von dem Grundcharakter des Rechts abweichendes Rechtsinstitut bildet, so daß hier die Billigkeit nicht das Recht durchdringt, sondern ihm in der Form eines Ausnahmsrechts gegenübersteht. Ein solches Ausnahmsrecht heißt ius singulare (die Rechte, die es ge= währt, privilegia in diesem Sinn vgl. §. 30. 31-beneficia iuris), das reine und regelmäßige Recht ihm gegenüber ius communes). Dieses ius singulare (z. B. Schuß der Minderjährigen gegen nachtheilige Rechtsgeschäfte, der Frauenspersonen gegen übernommene Bürgschaften, Vorzug mancher Forderungen im Concurs, Entstehung der strengen Darlehnsforderung ohne Uebergabe des Gelds von dem Gläubiger an den Schuldner) beruht lediglich auf äußerer Autorität (Note g), es kann daher auch nicht durch das Recht der Wissenschaft erweitert werden"), mit Unrecht aber haben Manche dieß von der receptiven Thätigkeit der Interpretation in unserem Sinn verstanden, und darum behauptet, ein singuläres Geseß müsse besonders strict interpretirt werden').

L. 1 C. de legib. (1, 14): Inter aequitatem iusque interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere. (Constantin.)

f) G. G. O. Th. I. Tit. 13.

g) L. 16 D. de legib. (1, 3): Ius singulare est, quod contra tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate constituentium introductum est. Vgl. Puchta, Cursus der Inst. I. §. 31.

h) L. 14 D. de legib. (1, 3): Quod vero contra rationem iuris receptum est, non est producendum ad consequentias. L. 162 D. de R. I. (50, 17). (Dieß Moment der blos äußeren Autorität scheint Thöl, Einl. in das deutsche Privatr. 1851 §. 38. 107 Note 2 zu unterschäßen, wenn er statt des reinen, billigen und fingulären Rechts nur consequentes und inconsequentes unterscheiden will, weil auch das billige die Consequenz beseitige und die Umstände berücksichtige, mithin für das singuläre nur das rein formelle Merkmal übrig bleibe, daß der Rechtssay sich als ein Ausnahmsrecht bezeichne. In der That aber beruht der Bruch, welchen das singuläre Recht in die Consequenz macht, nicht auf einem schon vorhandenen höheren Rechtsprincip, welches z. B. in L. 43 D. de relig. (11, 7) Note d, auf die sich auch Thöl beruft, die Consequenz der L. 2 §. 2 D. eod. zu beseitigen gestattete, sondern auf einer ganz positiven Norm (z. B. §. 528a), welche weder der Jurist noch der Richter suppliren darf. R.)

i) S. 3. V. Vangerow, Leitfaden I. S. 39 (7. Aufl. S. 52).

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