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MOSES MENDELSSOHN'S

SCHRIFTEN

ZUR

PHILOSOPHIE, AESTHETIK UND APOLOGETIK

MIT EINLEITUNGEN, ANMERKUNGEN

UND EINER

BIOGRAPHISCH-HISTORISCHEN CHARAKTERISTIK MENDELSSOHN'S

HERAUSGEGEBEN

VON

DR. MORITZ BRASCH.

ZWEITER BAND.

LEIPZIG,

VERLAG VON LEOPOLD VOSS.

1880.

HARVARD UNIVERSITY

LIBRARY

EINLEITUNG.

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MENDELSSOHN'S Stellung innerhalb der Geschichte der vorkantischen Aesthetik wird im wesentlichen durch die Ideen bestimmt, welche in den nachfolgenden ästhetischen Hauptschriften zum Ausdrucke gelangt sind, den „Briefen über die Empfindungen“, der zu diesen gehörigen ,,Rhapsodie", und den beiden Abhandlungen: „,Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften" und Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften." Was noch an kleinern Aufsätzen ästhetisch-psychologischen Charakters hierher gehört, bewegt sich seinem Inhalte nach innerhalb der in jenen Hauptschriften entwickelten Grundideen. Dasselbe gilt von seinen zahlreichen ästhetischen und literar - kritischen Beiträgen, die MENDELSSOHN eine Reihe von Jahren für die „Briefe, die neueste Literatur betreffend", und die „Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste" geliefert hat. Besteht jedoch die Bedeutung, die MENDELSSOHN für die Erweiterung und Vertiefung der Aesthetik als Wissenschaft hatte, in dem Ideengehalte jener gröfsern Schriften, so ist der Einfluss, den er als Mitarbeiter der genannten beiden literarischen Hauptzeitschriften jener Epoche ausgeübt hat, mehr national-literarischer und culturhistorischer Art gewesen, worüber wir uns in der biographisch-historischen Einleitung zum ersten Bande dieser Ausgabe ausgesprochen haben.

Die,,Briefe über die Empfindungen“ wurden wie die,,Philosophischen Gespräche" (Bd. I dieser Ausgabe) von LESSING im Jahre 1755 publicirt. Der noch so schüchterne MENDELSSOHN hatte noch nicht den Muth gefunden, eine philosophische Schrift zu veröffentlichen, so dass es der selbstbewusstere Freund, der damals freilich schon fast als eine kritische Autorität galt, für ihn unternehmen musste. Von den vielen Uebersetzungen, die von den „Briefen“ erschienen, möge hier nur die französische von THOMAS ABBT erwähnt sein (Recherches sur les sentiments. Genf 1764). Eine Reihe vc Beurtheilungen äufserten sich meist anerkennend über das Erstlingswer des noch unbekannten Denkers. So z. B. meinte Prof. MICHAELIS in ein Kritik der,,Göttingischen gelehrten Anzeigen“ (Oct. 1755), dass er nicht geah hätte,,,aus was vor einer unerwarteten Feder eine so wohl gerathene Schr geflossen wäre." Er hielt nämlich zuerst LESSING für den Verfasser. übrigen erklärte er sie für ein literarisches Product, das einen se

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nachdenkenden und philosophischen Verstand, dabei aber einen Schüler LEIBNIZENS und WOLFENS, der besser ist, als die Meister, so er erlebt hat, voraussetzte." LESSING selbst schrieb eine eingehende Kritik über die „Briefe" für die „Berlinische Zeitung" (vom 4. Sept. 1755)1, in der es u. a. heifst, dass in der Schrift „die ganze Materie so kunstvoll vertheilt worden sei, dass man sehr unaufmerksam sein müsste, wenn sich nicht am Ende, ohne das Trockene der Methode empfunden zu haben, ein ganzes System in dem Kopfe zusammenfinden sollte. Ein System der Empfindungen aber wird denjenigen gewiss eine sehr angenehme Neuigkeit sein, welchen es nicht ganz unbekannt ist, wie finster und leer es in diesem Felde der Psychologie, der Bemühungen einiger neuer Schriftsteller ungeachtet, noch bisher gewesen." Man hat es ungefähr gewusst, dass alle angenehmen und unangenehmen Empfindungen aus dunkeln Begriffen entstehen, aber warum sie nur aus diesen entstehen, davon hat man nirgends den Grund angegeben. WOLF selbst weifs nichts zu sagen als dieses: Weil sie keine deutlichen Begriffe voraussetzen. „Man hat es ungefähr gewusst, dass sich alles Vergnügen auf die Vorstellung einer Vollkommenheit gründe, man hat es ungefähr gewusst, dass Vollkommenheit die Uebereinstimmung des Mannigfaltigen sei, allein man hat diese Uebereinstimmung mit der Einheit im Mannigfaltigen verwechselt, man hat Schönheit und Vollkommenheit vermengt und die Leichtigkeit, womit wir uns das Mannigfaltige in jenem vorstellen, auch bis auf die sinnlichen Lüste ausdehnen wollen. Alles dieses aber setzt unser Verfasser auf das deutlichste auseinander u. s. w.“ In diesen Worten deutet LESSING zur Genüge an, in wie weit MENDELSSOHN sich über WOLF in den ästhetischen Grundbegriffen erhebt. Dass er aber auch von BAUMGARTEN 2, dem eigentlichen wissenschaftlichen Begründer der

1 LESSING'S Werke (LACHMANN's Ausgabe). Bd. V, S. 61-63.

2 ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN, einer der scharfsinnigsten und bedeutendsten Anhänger der LEIBNIZ- WOLF'schen Philosophie, geboren zu Berlin am 17. Juli 1714, bildete sich zu Halle unter WOLF und wurde 1740 ordentlicher Professor der Philosophie zu Frankfurt a. O., wo er am 26. Mai 1762 starb. Von seinen Schriften, in welchen die Begründung der Aesthetik als systematisch - philosophische Wissenschaft unternommen wird, sind zu nennen: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poëma pertinentibus (Halle 1735) und vor allem das Hauptwerk: Aesthetica acroamatica (2 Bde. Frankfurt a. O. 1750-58). Nach seinen Dictaten gab MEIER Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (3 Bde. Halle 1748-50) heraus. Eine zutreffende Würdigung der Verdienste BAUMGARTEN's geben aufser den später genannten Geschichtschreibern der Aesthetik HETTNER, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. Braunschweig 1872. 2. Buch, S. 83—88, und SCHMIDT in seiner Monographie: Leibniz und Baumgarten. Halle 1875.

philosophischen Aesthetik in Deutschland, sich in wesentlichen Punkten unterscheidet, ergiebt sich nicht sowohl aus den „Briefen über die Empfindungen", als aus seinen spätern ästhetischen Untersuchungen zur Genüge. Dieses ist freilich von unsern Geschichtschreibern der Aesthetik, wie Lotze, ROBERT ZIMMERMANN, ADOLF ZEISING und SCHASLER, bei denen MENDELSSOHN'S Bedeutung für die Entwickelung und Fortbildung dieser philosophischen Disciplin nicht die entsprechende Würdigung findet, mehr als billig übersehen worden.

Von den fünfzehn Briefen, welche in Form und Diction eine Nachbildung des SHAFTESBURY'schen Buches,,The Moralists" sind, und in denen MENDELSSOHN von den fingirten Freunden THEOKLES und EUPHRANOR eine psychologische Theorie der Schönheit entwickeln lässt, bilden die beiden ersten die Einleitung. Hierbei ist es nun allerdings die von BAUMGARTEN (im ersten Bande seiner ,Aesthetica acroamatica") gegebene Definition des Begriffs der Schönheit (§ 14: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae qua talis. Haec autem est pulchritudo") als der sinnlichen Erkenntniss der Vollkommenheit, die bei den nachfolgenden Discussionen den Ausgangspunkt bildet, über die aber MENDELSSOHN im Verlaufe der Schrift weit hinaus geht. Einleitend wehrt sich EUPHRANOR in den beiden ersten Briefen gegen eine allzu scharfe psychologische Zergliederung der Schönheit, die den Genuss der letztern zerstöre. Denn da unsere Glückseligkeit vom Genusse, dieser von der schnellen Empfindung, mit der unsere Sinne von der Schönheit überrascht werden, abhänge, so gehe die Lustempfindung durch eine allzu trockene Analyse derselben zu Grunde. Wir würden unglücklich sein, wenn sich alle unsere Gefühle in logische Schlüsse verwandelten und alle Empfindungen in deutliche Vorstellungen aufgingen. Schönheit beruhe daher in einer undeutlichen Vorstellung einer Vollkommenheit. Die dunkle Vorstellung ist untrennbar von unserm Lustgefühl, also auch von der Empfindung des Schönen. Dem gegenüber wird nun im dritten Briefe von dem philosophisch reifern THEOKLES (unter dessen Worten wir wohl meist MENDELSSOHN's eigene Ansichten zu verstehen haben) geltend gemacht, dass Klarheit der Vorstellung, weit entfernt das Vergnügen am Schönen aufzuheben, es vielmehr befördere. Allerdings vertragen sich weder völlig deutliche noch völlig dunkle Begriffe mit dem Gefühle der Schönheit. Zwischen den Grenzen der Klarheit müssen alle unsere Begriffe eingeschlossen sein, wenn wir ohne mühsames Ueberdenken eine Mannigfaltigkeit wahrnehmen sollen. Die Klarheit der Vorstellung ist die beste Vorbereitung für den Genuss der Schönheit, was er durch einen Satz aus der Poetik des ARISTOTELES, der einer jeden Schönheit eine bestimmte Grenze der Gröfse zueignet, zu stützen sucht. Hiervon wird dann die Anwendung auf die

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