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man ihm Alles glaube, was es nur wolle, und lasse nicht das Kind, das die Lamia 70) aufgespeist, wieder lebendig aus ihrem 340 Bauche hervorgehn. Die Klasse der bejahrten Leser verschmäht Gedichte, die keinen Nußen bringen; dagegen steigen die jugendlichen Ritter an trocken - ernsten Gedichten stolz vorüber; den Beifall Aller aber erringt, wer mit dem Angenehmen das Nützliche verbindet, und den Leser ergößt und belehrt zugleich. Mit einem solchen Buche verdienen die Sosier 71) Geld, es geht 345 über das Meer, und dehnt das Leben des Verfassers ruhm= voll in ferne Zeiten aus. Doch gibt es auch Gebrechen, denen wir Nachsicht schenken möchten; denn auch die Saite gibt. nicht immer den Ton an, den die Hand und der Wille verlangt, und läßt, wenn man einen tiefen Ton anschlägt, einen hohen erklingen; auch der Bogen trifft nicht immer Alles, worauf er 350 drohend zielt. Allerdings werde ich, wo das Meiste schön ist in einem Gedichte, keinen Anstoß nehmen an den wenigen Mängeln, die der Sorgfalt des Dichters entgangen, oder wogegen die unvollkommene Menschennatur sich nicht genügend verwahrte. - Was folgt hieraus? So wie man dem Abschreiber, der trotz wiederholter Mahnung immer denselben Fehler 355 macht, nicht verzeiht; so wie man den Citherspieler verlacht, der immer auf derselben Saite fehlgreift, so wird auch der Dichter, der sich viele Fehler zu Schulden kommen läßt, für mich ein Chörilus werden 72), den ich an zwei oder drei Stellen unter Lachen bewundre, während ich zugleich auch verstimmt. werde, wenn je der treffliche Homer sich minder wachsam zeigt. In Wahrheit jedoch ist es naturgemäß, daß eine lang aus- 360 gedehnte Arbeit der Schlummer überrascht 73). Wie bei Gemälden, so ist's auch in der Dichtkunst: manches wird dir besser gefallen in der Nähe, manches in größerer Entfernung; dieses liebt ein schwächeres Licht, jenes will in hellem Lichte betrachtet sein, und scheut nicht den eindringenden Scharfblick des Kunst

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365 Haec placuit semel, haec decies repetita placebit.

O maior iuvenum, quamvis et voce paterna Fingeris ad rectum et per te sapis, hoc tibi dictum Tolle memor, certis medium et tolerabile rebus Recte concedi (consultus iuris et actor

370 Caussarum mediocris abest virtute diserti

Messalae, nec scit quantum Cascellius Aulus,
Sed tamen in pretio est) mediocribus esse poetis
Non homines non di non concessere columnae.
Ut gratas inter mensas symphonia discors
375 Et crassum unguentum et Sardo cum melle papaver
Offendunt, poterat duci quia cena sine istis,
Sic animis natum inventumque poema iuvandis,
Si paullum summo decessit, vergit ad imum.
Ludere qui nescit, campestribus abstinet armis,
380 Indoctusque pilae discive trochive quiescit,
Ne spissae risum tollant impune coronae;
Qui nescit versus tamen audet fingere. Quidni?
Liber et ingenuus, praesertim census equestrem
Summam numorum, vitioque remotus ab omni.
385 Tu nihil invita dices faciesve Minerva:

Id tibi iudicium esto, ea mens. Si quid tamen olim
Scripseris, in Meti descendat iudicis aures

Et patris et nostras, nonumque prematur in annum,
Membranis intus positis: delere licebit,

richters; das eine hat einmal gefallen, das andre wird zehnmal 365 wiederholt gefallen.

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Obwohl du, ältester meiner jugendlichen Freunde, durch die Lehren deines Vaters zum Regelrichtigen herangebildet wirst, und selbst Kunstsinn besigest, so bewahre dies Wort in deinem Gedächtnisse: In bestimmten Dingen ist erträgliche Mittelmäßigkeit zulässig ein mittelmäßiger Rechtsgelehrter und Sachwalter erreicht nicht die Vollkommenheit des beredten Mes- 370 sala, und weiß nicht so viel als Cascellius Aulus 74), aber er hat dennoch seinen Werth; dagegen den Dichtern gestehen nicht Menschen, nicht Götter und nicht die Pfeiler der Bücherverkäufer 75) Mittelmäßigkeit zu. So wie bei einer angenehmen Tafel eine unharmonische Musik und schlechtes Salböhl und Mohn mit fardischem Honige 76) Anstoß erregen müssen, weil 375 ohne sie das Mahl hätte länger dauern können, so wird auch ein Gedicht, das zu unsrer Ergößung geschaffen und bestimmt ist, sobald es vom Höhepunkt des Vollkommnen abgewichen, sich hinab zum Untersten neigen. Wer nicht das Kampfspiel versteht, läßt die Waffen des Marsfeldes unberührt; wer den Ball, den Discus oder den Reif nicht handhaben kann, hält 380 fich ruhig, um dem Gelächter zu entgehen, das die dichtgedrängten. Kreise der Zuschauer rückhaltslos über ihn erheben würden: aber Verse zu machen wagt auch der, der es nicht versteht. Warum sollte ers nicht? er ist ja ein freier Mann von ehrenhafter Abkunft, und während insbesondre sein Vermögen die Summe des Ritterstandes beträgt, steht er "fern von jedem Tadel! Du aber wirst nichts thun oder reden ohne Mi= 385 nervens Gunst; dazu leitet dich deine Einsicht, deine Denkweise. Wenn du jedoch in Zukunft irgend etwas gedichtet, so laß es einen Mäcius 77) zur Beurtheilung hören und deinen Vater und mich, und halte es zurück bis in das neunte Jahr, verschlossen in deinem Pulte; denn du wirst vernichten können,

390 Quod non edideris; nescit vox missa reverti.
Silvestres homines sacer interpresque deorum
Caedibus et victu foedo deterruit Orpheus,
Dictus ob hoc lenire tigres rabidosque leones.
Dictus et Amphion Thebanae conditor urbis
395 Saxa movere sono testudinis et prece blanda
Ducere quo vellet. Fuit haec sapientia quondam,
Publica privatis .secernere, sacra profanis,
Concubitu prohibere vago, dare iura maritis,
Oppida moliri, leges incidere ligno.

400 Sic honor et nomen divinis vatibus atque

Carminibus venit. Post hos insignis Homerus,
Tyrtaeusque mares animos in Martia bella
Versibus exacuit; dictae per carmina sortes,
Et vitae monstrata via est, et gratia regum
405 Pieriis tentata modis, ludusque repertus,

Et longorum operum finis: ne forte pudori
Sit tibi Musa lyrae sollers et cantor Apollo.
Natura fieret laudabile carmen an arte,

Quaesitum est: ego nec studium sine divite vena, 410 Nec rude quid possit video ingenium; alterius sic Altera poscit opem res et coniurat amice.

Qui studet optatam cursu contingere metam,
Multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit,
Abstinuit venere et vino; qui Pythia cantat

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was du noch nicht veröffentlicht hast; aber das einmal ent- 390 flogene Wort kann nicht mehr zurückgenommen werden. [Doch wahre Dichter stunden stets in hohen Ehren.]78) Die wilden Waldmenschen brachte der gottgeweihte Seher Orpheus, der Verkünder göttlicher Lehren, vom Morde ab und von thierischer Nahrung, darum sagt man von ihm, er habe blutgierige Tiger und Löwen gezähmt, und von Amphion, dem Gründer Thebens, er habe Steine durch seine Leier in Bewegung gesetzt, und durch 395 sein zaubrisch schmeichelndes Lied hingelenkt, wohin er wollte. Hierin beruhte die Weisheit jener alten Zeit: das Gemeingut von dem Besize des Einzelnen zu scheiden, das den Göttern Heilige von dem Ungeheiligten; unstete Geschlechtsluft zu hem= men, und den Verehlichten ihre Rechte zu wahren, Städte zu gründen und Gesetze auf hölzerne Tafeln aufzuzeichnen. So erwuchs den göttlichen Sängern und ihren Dichtungen Ehre und 400 Ruhm. Nach diesen gelangte Homer zu großem Namen und Tyrtäus 79) stählte den Männermuth zu kriegerischem Kampfe durch seine Gesänge; in Versen wurden Göttersprüche vernommen, und Lebensregeln kundgegeben; auch die Gunst der Könige wurde erstrebt in pierischen Gesängen und ein Spiel erfunden, 405 das am Ende mühsamer Jahresarbeiten stattfand. Darum schäme dich nicht etwa der Muse, die der Leier kundig, und des gesangreichen Apollo. Man hat die Frage aufgeworfen, ob durch Naturanlage oder durch Kunsttheorie eine gute Dichtung hervorgebracht werde 80). Ich sehe nicht ab, was das Erlernen der Kunst ohne reiche geistige Ader, noch was ungebildete Natur- 410 anlage für sich allein vermöge; so sehr verlangt das eine die Unterstützung des andern, so sehr steht beides mit einander in freundlichem Bunde. Wer im Wettlauf das ersehnte Ziel zu erreichen strebt, hat als Knabe viel sich abgehärtet und geübt in Schweiß und Frost, hat der fleischlichen Lust und des Weines sich enthalten; und wer bei den pythischen Festen als Flöten

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