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aus eigentlichen Gesezen. Die Institutionen sind eigentlich ein Lehrbuch, worin absichtlich manches nur' historisch bedeutende aufgenommen ist; die Digesten bestehen, aus Bruchstücken wissenschaftlicher Werke einer frühern Zeit und der verschiedensten Art; ein sehr großer Theil des Coder besteht in kaiserlichen Rescripten aus verschiedener Zeit, welche regelmäßig keinen andern Zweck hatten, als den, für einzelne Fälle nach dem bestehenden Rechte die Entscheidung anzugeben. Gleichwohl ist allen darin anerkannten Rechtssägen von Justinian die Kraft von Gesezen beigelegt und jedes einzelne Rechtsbuch gewissermaßen als ein großes Gesez publicirt worden. Diese Rechtssäße sind aber häufig nur durch Abstraction aus der Entscheidung einzelner Fälle abzuleiten, und dabei ist denn insbesondere nur sehr vorsichtig von dem argumentum a contrario Gebrauch zu machen. Bei der Auslegung einzelner Stellen kann man unterscheiden den Sinn, welchen sie ursprünglich hatten, und welchen sie als Bestandtheile des Justinianischen Rechts haben; duplex interpretatio (Interpolationen, emblemata Triboniani). Dabei aber ist zu beachten der ursprüngliche Verfasser und die Zeit derselben; ihre Stellung in der Compilation und ihr Verhältniß zu andern Stellen derselben.

Anm. Ueber die Ordnung der Fragmente in den Pandectentiteln vgl. Bluhme in der Ztschr. für geschichtliche Ntsw. Bd. IV. S. 257 fgg., insbesondere S. 290. fg. 366. 413. fg. Reimarus über die Inscriptionenreihen der Pandectenfragmente. Göttingen 1830. Eyssenhardt Justinians Digesten. Leipzig 1845.

§. 9.

Voraussetzung aller Auslegung ist ein auszulegender Tert. Die auf Feststellung des wahren Tertes gerichtete Thätigkeit heißt Kritik. Sie ist entweder niedere (diplomatische) oder höhere Kritik. Die lezte sucht, unter Benußung des äußern Materials, welches die erste sichtet, nach innern Gründen den richtigen Tert zu er mitteln, und kann dabei nicht bloß wählen unter verschiedenen beglaubigten Lesarten, sondern auch wohl ohne äußere Beglaubigung verbessernd den Tert bilden (Conjecturalfritik).

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Anm. Ueber die Zulässigkeit der Kritik bei der Auslegung der Justinianischen Nechtsquellen vgl. Savigny System I. §. 38. 39.

2 Ueber die Geschichte der Textesrecensionen, insbesondere über das Verhältniß des Bolognesischen Textes der Digesten (Vulgata) und der Florentiniichen Handschrift derselben (lectio Vulgata. Florentina oder Pisana, sodann

Haloandrina oder Norica) vgl. Savigny Gesch. des R. R. im MA. Bd. III. §. 164. fgg. Böcking a. a. D. S. *13. fg.

B Einzelne bei der Kritik zu beachtende Punkte sind namentlich: 1) der Mangel der Interpunction in den Handschriften, z. B. L. 44. D. de donat. int. v. et u. 24. 1. L. 25. D. de lib. leg. 34. 3. 2) Geminationen, z. B. L. 208. D. de V. S. „singulares (res)"; L. 24. pr. D. de minor. 4. 4. „facerecusaverit“. 3) Versetzung einzelner Worte, Sylben oder Buchstaben, 3. B. pars hodie statt rhapsodiae, in L. 52. §. 2. D. de legat. III. (32). 4) unrichtige Auflösung von Siglen, z. B. fideicommissi causa in L. 8. pr. D. qui et a quib. 40. 9., vielleicht fraudandorum creditorum causa (f. c. c.); in L. 31. pr. D. de usucap. 41. 3. errorem, wahrscheinlich errore m., d. i. errorem modo; in Ulp. fragm. VI. §. 6. r. u. d. i. rei vxoriae, nicht revera. Vgl. Huschke kleine kritische Vers. in Linde's Zeitschr. N. F. II. 6. IV. 9. V. 2.

In Betreff der Benutzung des griechischen Tertes Justinianischer Rechtsquellen, insbesondere über das Verhältniß des griechischen Novellentextes zu der von den Glossatoren als authentischer Text behandelten Ueberseßung (authenticum, versio vulgata) vgl. Savigny System I. S. 67. Osenbrüggen über die praktische Autorität des griechischen Textes und der versio vulgata der Novellen, in der Ztschr. für Civilrt. und Proc. Bd. XVII. S. 382...412. Neue kritische Ausg. des Authenticum von G. E. Heimbach. Leipz. 1846. (vollendet 1851).

2) Auslegung der Quellen im Ganzen.
S. 10.

In dem Umfange der gesammten Quellen finden sich häufig einander widerstreitende Bestimmungen. Es fragt sich, wornach ist in solchem Falle zu entscheiden? In dieser Beziehung kommt vorzüglich die Regel in Betracht, daß das neuere Recht dem ältern vorgehe, wobei jedoch zu beachten ist, daß die Aufhebung einer ältern Regel nicht nothwendig auch die Aufhebung eines neben derselben bestandenen Ausnahmesages mit sich bringt 2.

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Anm. Vgl. Savigny a. a. D. §. 42.....46.

2 Lex posterior (ius posterius) derogat priori; lex posterior generalis non derogat priori speciali. Vgl. A. F. 3. Thibaut civilist. Abhandl. Heidelb. 1814. Abh. VII.

S. 11.

Nach obiger Regel hat vorerst die heutige fest stehende Praris den Vorzug vor allen übrigen Quellen des gemeinen Civilrechts. Demnächst folgen die Reichsgeseße. Dann hat auch das canonische Recht, obwohl es in Deutschland gleichzeitig mit dem römischen Rechte recipirt worden ist, als neueres Recht doch regelmäßig den

Vorzug vor diesem, sofern nicht in einzelnen Punkten ein abweichender Gerichtsgebrauch erweislich vorliegt.

S. 12.

Auch das Verhältniß der verschiedenen Bestandtheile der einzelnen Hauptclassen unserer Quellen (§. 2.......4) läßt sich großentheils nach derselben Regel bestimmen. Die jüngeren Reichsgesehe haben vor älteren den Vorzug, die spätern Sammlungen canonischen Rechtes vor den frühern. Deßgleichen auch gehen die Novellen Justinians allen übrigen Bestandtheilen des Justinianischen Rechts, und die jüngern den ältern Novellen vor. Dagegen kann über das Verhältniß der Institutionen, Pandecten und des Coder zu cinander jene Regel nicht schlechthin entscheiden, da diese Rechtsbücher, obwohl nicht völlig gleichzeitig publicirt, von Justinian doch als Ein zusammenhängendes Ganzes, worin sich unvereinbare Widersprüche nicht finden sollten, gedacht und mit gesetzlicher Kraft versehen worden sind.

Anm. Const. Dedit oder Tanta §. 23. Leges autem nostras, quae in his codicibus, i. e. Institutionum et Digestorum posuimus, suum obtinere robur ex tertio nostro felicissimo consulatu praesentis duodecimae indictionis, tertio Calendas Januarias (d. i. 30. Dec. 533).

2 Const. Cordi §. 4. ... Iussimus eum (codicem repetitae praelectionis) in omnibus iudiciis solum, quantum ad divales constitutiones pertinet, frequentari ex die quarto Calendas Januarii, quarti nostri felicissimi consulatus (b. i. 29. Dec. 534).

S. 13.

Finden sich nun gleichwohl Widersprüche in den drei Justinianischen Rechtsbüchern, so muß vor Allem eine Vereinigung der widersprechenden Stellen versucht werden, und zwar ist man dabei selbst zu etwas künstlichem Verfahren im Nothfall berechtigt'. Die Vereinigung aber kann theils nach systematischen, theils nach historischen Gesichtspunkten erzielt werden: das eine, indem man die eine Stelle nur als die andre näher bestimmend oder beschränkend auffaßt; das andre, indem man nachweiset, daß die eine Stelle wirklich den wahren bleibenden Gedanken der Gefeßgebung ausspreche, die andre nur historisch bedeutendes Material enthalte 2. Wenn aber eine Vereinigung der widerstreitenden Stellen nicht zu erreichen ist (Antinomie), so bleibt nichts übrig, als diejenige Entscheidung anzunehmen, zu welcher, wenn keine der widerstreitenden

Stellen vorläge, die Consequenz der anerkannten Grundsäße von selbst hinführen würde.

Anm. Const. Tanta §. 15. Contrarium autem aliquid in hoc codice positum nullum sibi locum vindicabit nec invenitur, si quis subtili animo diversitatis rationes excutiet; sed est aliquid novum inventum vel occulte positum, quod dissonantiae querelam dissolvit et aliam naturam inducit discordiae fines effugientem.

2 Const. Deo auctore §. 10. Sed et si quae leges in veteribus libris positae jam in desuetudinem abierunt, nullo modo vobis easdem ponere permittimus. Const. summa §. 1. ... tollendis contrariis constitutionibus, quae posteriore promulgatione vacuatae sunt. Prooem. instit. §. 3. ...tam aures quam animae vestrae nihil inutile nihilque perperam positum, sed quod in ipsis rerum obtinet argumentis, accipiant. cf. §. 5. In quibus breviter expositum est et quod antea obtinebat et quod postea、 desuetudine inumbratum imperiali remedio illuminatum est. Vgl. auch nov. 89. cap. 7. Quam (sc. constitutionem) scribi ideo solummodo permisimus, ut eos, quibus illa forte constitutio prodest, ...non hac utilitate privaremus; sicut etiam Anastasii piae memoriae, quae naturales adoptare contribuit, ... nonnisi ad hoc positam solummodo sinimus, ut, si qua utilitas aliquibus inde reposita est, hanc non videamur per nostras amputare leges.

S. 14.

Finden wir den Inhalt der vorliegenden Rechtsquellen nicht ausreichend zur Entscheidung einer sich ergebenden Rechtsfrage, so müssen wir diese Lücke durch Analogie auszufüllen und jene Frage fonach im Geiste des bestehenden Rechts zu beantworten suchen.

S. 15.

Als Hülfsmittel zum bessern Verständniß der Justinianischen Rechtsquellen können einerseits die Ueberbleibsel des ältern römischen Rechts', andererseits die spätern, namentlich die griechischen Bearbeitungen des Justinianischen Rechts 2 dienen.

Anm. Die vollständigste Sammlung davon gibt das seit 1833 in Bonn erscheinende corpus iuris romani anteiustiniani. Am wichtigsten sind für die Interpretation des Justinianischen Rechts die erhaltenen Schriften von Gajus, Ulpian, Paulus; die fragmenta Vaticana und die collatio leg. Mos. et Rom.; dann der Theodosische Coder mit den spätern Novellen. Vgl. Böcking Inst. I. §. 18...20. 22.

Die wichtigsten sind: die Paraphrase der Institutionen von Theophilus (Ausgabe von Reitz, im Haag 1751. 2 Bde. 4.), die Basiliken (neue Ausg. von Heimbach, in 5 Bdn., Leipzig 1833...1850. 4.), das Prochiron von Basilius, Constantin und Leo (Ausgabe von Zachariä, Heidelb. 1837. 8.) und das Prochiron des Harmenopulus, neueste Ausgabe von G. E. Heimbach, Leipz. 1851;

dann Juliani epitome novellarum, wovon eine neue Ausgabe von G. Hänel zu erwarten ist. Vgl. Böcking a. a. O. §. 23. 24.

II. Litteratur des Pandectenrechts.

§. 16.

Seit dem Aufblühen der neuern Jurisprudenz auf der Rechtsschule zu Bologna ging man in der Bearbeitung des Rechts zunächst eregetisch zu Werke. Die Glossen der Rechtslehrer daselbst, und so auch die vorzugsweise Glosse genannte Zusammenstellung derselben von Accursius, bilden eine fortlaufende Eregese des Corpus Juris'. Und noch bis ins 16. Jahrhundert war diese ere= getische Methode vorherrschend, in welcher Zeit vorzüglich die Leistungen der französischen Juristenschule hervorragen2.

norum,

Anm. 1 Ueber die Glosse des Accursius vgl. Savigny Gesch. des N. N. V. §. 91. fg. Ueber die Controversen der Glossatoren: Dissensiones Domiedit. et illustr. G. Haenel. Lipsiae 1834. Savigny a. a. O. §. 86. fg. 2 Vorzüglich hervorzuheben sind die Werke des Jakob Cujas († 1590). Jacobi Cuiacii opera omnia cura C. A. Fabroti. Paris 1658. 10 voll. fol., studio L. Ranii, Neap. 1722. 11 voll. fol. Dazu Dominici Albanensis promptuarium univ. opp. Jac. Cuiacii. Neap. 1763. Mutin. 1765. 2 voll. fol. 3 Als exegetische Commentatoren Justinianischer Nechtsquellen sind außerdem unter Andern zu nennen a) für die Institutionen: Balduin († 1573), Hotmann († 1590), Giphanius († 1604), Janus a Costa († 1637), Bachofen von Echt († 1635), Vinnius († 1657), neuerdings Schrader in seiner Ausgabe (§. 2. Anm. 6. a. E.). b) für die Digesten oder einzelne Theile derselben Odofredus († 1265), Alciat († 1550), Duaren († 1559), Donellus († 1624), Brunnemann († 1670). c) für den Codex: Azo († 1230), Odofredus, Donellus, Giz phanius, Wissenbach († 1665), Perez († 1674), Brunnemann. d) für die Novellen: Rittershausen (Rittershusii Jus Justinianeum etc. 1615.) Exege= tische Schriften über vermischte einzelne Stellen gibt es viele unter dem Titel: observationes, interpretationes, emendationes.

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Fortlaufende Nachweisungen zur Interpretation der Digesten geben A. Schultingii notae ad Dig., edid. et animadv. adiecit N. Smallenburg. Lugd. Bat. 1804...1835. 7 voll. 8. Lerikographische Hülfsmittel der Exegese sind: B. Brissonius de verborum, quae ad ius pertinent, significatione. Lugd. 1559. fol. cura Heineccii, Halis Sax. 1743. fol. mit den Supplementen von Wunderlich (Hamb. 1778. fol.) und Cramer (Kiliae 1813. 4.); H. E. Dirksen, Manuale latinitatis font. iur. civ. Rom. Berol. 1837, 4. H. G. Heumann, Handlexikon zu den Quellen des röm. Rechts. 2. Aufl. Jena 1851. Auch eine deutsche Uebersetzung des Corpus Juris haben wir, herausgeg. von Otto, Schilling u. Sintenis, Leipzig 1830...1833.

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