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und zu lehren im stande ist, auf die alten Sprachen zu übertragen. Wenn das so ist, dann, meine Herren, liegt allerdings die sehr ernstliche Frage vor, dafs durch Anwendung eines solchen Lehrganges man die Zwecke gefährdet, die wir mit dem Lehren und Lernen der alten Sprachen überhaupt verfolgt haben."

Was der Abgeordnete Dr. v. Heydebrand und der Lasa in seiner Rede und besonders in der angeführten Stelle ausspricht, erscheint uns zutreffend bis auf den Punkt, dafs er die Erklärung des Übelstandes in einer verkehrten Methode sucht, welche den Unterricht in den alten Sprachen nach Art des modernen Sprachunterrichts betreibt. Wir sind der Meinung, dafs damit nicht der richtige Grund getroffen ist, und diese Untersuchung will es versuchen, den wahren Grund zu ermitteln. Am Vorabend einer Schulreform haben wir in der That alle Veranlassung, uns darüber klar zu werden, worin sich die Lehrpläne verrechnet haben und wo der Fehler eigentlich liegt.

Wenn den Lehrplänen Unvollkommenheiten anhaften, so sind sie sicherlich auf dem Gebiete des Sprachunterrichts zu suchen, weniger auf dem Gebiete der Realien. Es handelt sich dabei um die Sprachen Lateinisch, Griechisch und Französisch. Einer der wichtigsten Gedanken, unter deren Einfluss die neuen Lehrpläne ins Leben traten, war die Absicht, der Überbürdung abzuhelfen, und als ein Hauptmittel hierzu erschien weniger die Beschränkung des Lehrstoffes angezeigt als vielmehr einige Verbesserungen der Lehrart. Darum wurde der Sprachunterricht nach dem Grundsatz eingerichtet, dafs es nicht darauf ankommt, eine jede der drei genannten Sprachen gleich vollkommen und gleich vielseitig zu betreiben, und dafs es nicht dem Zwecke entspricht, alle möglichen Übungen in jeder Sprache gleicherweise vorzunehmen. Vielmehr mufs nach der Meinung der Lehrpläne der Vorrat an verschiedenen Exercitien der Spracherlernung aufgeteilt und, wie die verschiedenen Rollen eines Ensemble, an die verschiedenen Sprachen vergeben werden, damit jede dieser Sprachen eine angemessene Teilleistung zuwege bringt. Diese Teilleistungen setzen sich dann im Kopfe des Lernenden zusammen und schaffen als Gesamtergebnis eine ausreichende sprachliche Bildung.

Bei dieser Verteilung der methodischen Thätigkeiten ist im Lehrplane des Gymnasiums das Lateinische am besten weggekommen. Im Lateinischen wird Grammatik getrieben, es wird aus der fremden Sprache ins Deutsche übersetzt unter Anwendung aller dazu nötigen Übungen, die wir insgesamt als das Exponieren bezeichnen wollen. Es wird aber auch auf allen Klassenstufen in die fremde Sprache zurückübersetzt, so dafs der Schüler Gelegenheit hat, das erlernte Sprachgut auch wieder aus sich herauszustellen

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und zu Nachbildungen zu verwerten, welche Übungen neuerdings ganz passend unter der Bezeichnung des Komponierens zusammengefasst werden. Aber von den verschiedenen Formen des Komponierens ist doch nur eine und zwar die unfreieste bestehen geblieben, das Übersetzen nach einem vorgeschriebenen deutschen Texte, während die freieren Übungen, das Fragen und Antworten in lateinischer Sprache, mündliche und schriftliche Umbildungen des Textes, der lateinische Vortrag und der lateinische Aufsatz so gut wie ganz verschwunden sind. Im Französischen sind die Anfänge des freieren Komponierens beabsichtigt, sie werden aber in den oberen Klassen gar zu leicht wieder vernachlässigt, weil die Zielleistung doch nur in einer Form des Exponierens, in der Verdeutschung eines französischen Textes, besteht. Das Griechische sieht sich während des ganzen letzten Trienniums des Gymnasialkursus auf das Exponieren beschränkt. So war jeder Sprache eine bestimmte Aufgabe gestellt und für sie eine Methode ausgewählt, die ihrer Eigenart und dem besonderen Zwecke, den man mit der Erlernung gerade dieser Sprache erreichen wollte, zu entsprechen schien. Ein bestechender Gedanke, und ein Gedanke, mit dem sich so viel erreichen liefs. Denn durch dieses Fündlein war es ermöglicht, von dem Sprachgut des Gymnasiums nichts preiszugeben, obwohl man in eine Verringerung der sprachlichen Unterrichtsstunden gewilligt hatte. Aber dieses Theorem birgt einen schweren Irrtum in sich, der die Quelle der Mifserfolge und des Mifsbehagens geworden ist. Die Zeit für das Ausprobieren der Lehrpläne ist gewifs kurz bemessen gewesen, aber sie hat vollkommen ausgereicht, um diesen Gedanken ad absurdum zn führen. Der Gedanke erscheint praktisch, ist aber in Wahrheit eine graue Theorie, er erscheint psychologisch wohlberechnet, ist aber durchaus unpsychologisch. Wir haben hier wieder einen Fall, der ganz geeignet ist, uns vorsichtig und mifstrauisch zu machen gegen den Wert psychologischer Abstraktionen.

Durch jene Verteilung der Rollen an die einzelnen Sprachen ist es gekommen, dafs in dem Betriebe der einzelnen Sprache eine ganze Reihe von Funktionen, auf welche die Aneignung einer jeden Sprache hinführen muss, ganz weggefallen ist, obgleich die Funktionen des Exponierens und des Komponierens auf einander angewiesen sind, weil sie sich ergänzen und zusammengehören so wie das induktive und deduktive Denken, das Einatmen und das Ausatmen. Gewifs kann man Sprachen auf ganz verschiedene Art lernen und zu recht verschiedenen Zwecken betreiben. Aber im Schulunterricht kann doch nur diejenige gründliche Erlernung beabsichtigt sein, die lediglich auf den Gegenstand selbst und nicht auf einen aufserhalb liegenden Zweck gerichtet ist, und darum hat man die Vorschriften für den methodischen Betrieb lediglich der Natur des Objektes (d. h. der Sprache)

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und der Natur des menschlichen Geistes zu entnehmen. Also wird es bei der Erlernung einer Sprache darauf ankommen, sie kennen und sprechen zu lernen, das Sprachgut sich anzueignen und so zu verwalten, dafs man auch Rechenschaft geben kann über das, was richtig und was falsch ist. Es geht nicht an, irgend eine Seite zu bevorzugen, eine andere aber zu vernachlässigen, sondern die methodischen Übungen müssen auf die Gesamtheit des menschlichen Geistes berechnet werden, damit sie die Aneignung so gut wie die Hervorbringung anregen, das Gedächtnis so gut wie das Urteil bilden. Beim Erlernen einer toten Sprache wird man darauf bedacht sein müssen, sie wieder lebendig zu machen durch allerlei Übungen des Komponierens1; bei der Erlernung einer modernen Sprache, die von vornherein die Versuche zu komponieren nahe legt, wird man nicht ungestraft die grammatische Gründlichkeit aufgeben. Nur wenn die methodischen Übungen vielseitig sind, kann ein befriedigendes Ergebnis gezeitigt werden. Sieht sich aber die Methode auf eine bestimmte Richtung beschränkt, so wird niemand befriedigt sein, nicht der Lehrende und nicht der Lernende, es wird damit nicht dem Wissen, aber auch nicht dem Gewissen gedient sein.

Seit wann ist der lateinische Unterricht in den unteren Klassen wieder soviel leichter und ansprechender geworden, dafs ein namhafter Schulmann kürzlich sagen konnte, er pflege dem lateinischen Unterricht in Sexta beizuwohnen, wenn er das Bedürfnis habe, sich anzufrischen? Das ist geschehen, seitdem man sich wieder daran erinnert hat, dass das Latein eine Sprache war, dafs man daher im Lateinischen sprechen, laut sprechen, lesen und nachsprechen, zusammensprechen, ja gelegentlich auch lateinisch fragen und antworten mufs. Es ist bekannt, dafs wir diese Anregung Perthes verdanken, dafs durch sie der Unterricht im Lateinischen um so viel frischer und fröhlicher geworden ist, überall da, wo man nicht gemeint hat, infolge dieser neuen Methode die grammatische Gründlichkeit und die feste Einprägung vernachlässigen zu dürfen. Leider ist diese Anregung nur den unteren Klassen zugute gekommen. Jeder der Sprachen erlernt hat, wird sich erinnern, dafs er bei gründlicher Beschäftigung mit seinem Gegenstande sehr bald den Antrieb verspürt hat, sich in dieser neuen Sprache nun auch auszudrücken, Sätze, Briefe u. dergl. zu komponieren; bei einer gründlichen und liebevollen Beschäftigung mit einer Sprache

1) Es ist uns aus der Seele gesprochen, wenn O. Jäger in seinem trefflichen Buche,, Lehrkunst und Lehrhandwerk", das er übrigens nach seinem Hauptinhalt noch treffender als „Lehrproben und Lehrgänge" hätte betiteln können, auf S. 417 den Kandidaten seines Seminars anrät, dafs sie selbst, wenn ihnen einmal griechischer Unterricht auf der Oberstufe zufallen sollte, täglich wenigstens einige Sätze Deutsch ins Griechische übersetzen möchten,

wird das niemals ausbleiben. Lateinische, griechische und mittelhochdeutsche Episteln angeregter Studenten beweisen uns das ebensogut wie die kleinen lateinischen Aufsätze über den Krieg der Buren und der Engländer, die uns kürzlich Quartaner aus freiem Antriebe und angeregt durch das Vorbild ihres Cornelius Nepos eingereicht haben. Von diesem Standpunkte aus mufs es geradezu unbegreiflich erscheinen, dafs man sich im Jahre 1892 dazu entschlossen hat, die vollkommenste Form der lateinischen Komposition, nämlich den Aufsatz, zu untersagen. Allerdings ist leider zuzugeben, dal's die Voraussetzungen für eine solche Übung nicht mehr erfüllt wurden, indem die Forderung, einen lateinischen Aufsatz zu schreiben, meistens unvermittelt und ohne die nötigen Vorübungen an die Schüler herantrat.

Wem unsere Forderung methodischer Vollständigkeit im Sprachunterricht überspannt erscheint, dem räumen wir gern ein, dafs es nicht angeht, diese Forderung auf jedes Sprachstudium anzuwenden. Gewifs giebt es manche Sprache, bei der wir uns mit dem blofsen Verständnis und einer notdürftigen Aneignung begnügen müssen. In dieser Art lernt der klassische Philologe das Sanskrit, der Romanist das Altfranzösische, der Germanist das Gotische und das Angelsächsische. Aber solche Studien sollen auch nur eine Einsicht in den Zusammenhang und in das Wachstum der Sprachen gewähren. Sie wollen das gar nicht leisten, was der Sprachunterricht in der Schule für die Ausbildung der Jugend bewirken soll. In der Schule kann nur ein solcher Betrieb des Sprachunterrichts, der zur Kenntnis auch ein müheloses Können hinzufügt, wirkliche Befriedigung gewähren. Darum wird man sich auch, wenn dem Unterricht im Französischen, Lateinischen und Englischen in den verschiedenen Schulen jedesmal eine verschiedene Aufgabe zugewiesen wird, dagegen nicht ohne Grund skeptisch verhalten. Denn eine Sprache verstehen, lesen, schreiben und sprechen zu lernen ist zunächst bei Realschülern und Gymnasiasten so ziemlich ein und dieselbe Aufgabe. Der Unterricht kann in den verschiedenen Schularten mehr oder weniger gründlich und darum mehr oder weniger erfolgreich erteilt werden, aber es heifst das Gras wachsen hören, wenn man schon in dem methodischen Betriebe der Sprache die Eigenart der Schulgattung herauskehren und ihn einem besonderen Zwecke dienstbar machen will. Und wenn man für den Sprachunterricht etwas von der Psychologie zu lernen hat, so ist es dieses, dafs die Seelen derer, die auf den Bänken der Gymnasien, der Realgymnasien und Realschulen Sprachen treiben, alle gleich geartet sind und darum eine gleichgründliche und gleich vielseitige Methode nötig haben. In diesem Punkte liegt zu allermeist die Einheit der Schule, die immer bleiben mufs, auch wenn die Schulen sich nach ihren Stoffen noch so sehr unterscheiden. Nur eine freie, uneingeschränkte Methode des Sprachunter

richts taugt für die Schule, und nur an einen solchen Betrieb sind die grofsen moralischen Wirkungen geknüpft, welche rechtschaffene Arbeit hervorzubringen vermag: Freudigkeit, Selbstvertrauen und Wahrheitssinn, der sich nicht zufrieden giebt, bevor die Sache richtig ist. Nach der Zeit, in der ein solches Verfahren möglich war, verlangt die Sehnsucht der Philologen wie nach einem goldnen Zeitalter. Es ist entschwunden, nicht weil man die alten Sprachen nach der Art lebender zu betreiben angefangen hat, sondern weil man der Methode Beschränkungen auferlegt hat, die man hätte an den Lehrstoffen vollziehen sollen. Das aber liefs die Begehrlichkeit nicht zu, die um jeden Preis das Alte unverkürzt behalten und Neues noch dazu haben wollte. Um das zu erreichen, dazu sollte die Knebelung der Methode helfen. Wunderbar, dafs man den Lehrplänen, die doch das methodische Gewissen wecken sollten und auch geweckt haben, nachsagen muss, dafs sie an einem methodischen Unvermögen kranken, weil sie mit heiligem Respekt vor einer Verkürzung des Lehrstoffes zurückgewichen sind und ihr Ziel durch Hemmungen in dem methodischen Betriebe zu erreichen suchten. Denn nur um diesen Preis der Einseitigkeit in der Lehrart war die Vielseitigkeit des Lehrstoffes zu haben.

Die Geschichte der Pädagogik bestätigt das, was wir hier vom Lernen des einzelnen ausgeführt haben. In den verschiedenen Zeitaltern der Schulgeschichte hat man in der Regel einige Übungen bevorzugt, bis die Einseitigkeit zum Überdrufs führte und den Mangel fühlbar machte. Man verfiel dann meist in das Gegenteil, um so das Gleichgewicht wieder herzustellen. Diese Vorgänge, die zu einer besonderen und gewifs lohnenden Untersuchung aus der Geschichte der Pädagogik Stoff genug bieten würden, bestätigen nur den Satz, dafs es im Sprachunterricht auf die Vollständigkeit der Methode ankommt. Die Humanisten haben sie ganz von selbst erreicht, indem sie die lateinische Sprache mühelos lasen, sprachen und mit grammatischer Sicherheit auch schriftlich handhabten. Der humanistische Betrieb der lateinischen Sprache bestand also gerade darin, dafs man diese tote Sprache wie eine lebende lernte und anwendete. Jedoch im Verlaufe des letzten Jahrhunderts wurde die von den Humanisten begründete Art des lateinischen Unterrichts immer mehr abgeschwächt, indem man zuerst das Lateinsprechen, dann das Lateinschreiben und schliesslich auch etwas von der grammatischen Sicherheit einbüfste. Erst dadurch ist es fühlbar geworden, dafs das Lateinische eine tote Sprache ist. Der Unterricht aber kann gar nichts Besseres thun, als von dieser Thatsache möglichst abzusehen und die tote Sprache als lebendige zu behandeln; denn gerade darum wird sie ja gelehrt und gelernt, dafs sie wenigstens in dem kleinen Kreise der Lernenden wieder lebendig sei. Jeder Fachmann weifs, dafs neues

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