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Diese zwei Formen eines Realismus, die des Kindes und die des Erwachsenen, unterscheiden sich eben in dem Sinn unserer letzten Distinktion und treten dadurch weiter auseinander, als es unter der einen gemeinsamen Bezeichnung zunächst angängig scheint. Das Kind ist Realist oder sogar auch Nützlichkeitsmensch, Utilitarist insofern, als es nicht gern Widriges auf sich nimmt und nicht gern etwas von der gesamten ihm dargebotenen Wirklichkeit aufgiebt (selbst bei dem so häufigen Herschenken herrscht gewöhnlich wohl das unmittelbare Interesse am Geben, keine anderweitige Absicht). Der Erwachsene ist es insofern, als er, zu Gunsten des Wichtigeren aus seiner Wirklichkeit, Unwichtigeres sowohl aufgiebt als auch sich gefallen läfst. Die Kunst dieses Aufgebens und sich Gefallenlassens will erworben sein, und der von der Natur dazu eingeschlagene, vielleicht teleologisch zu nennende Weg ist der, diese Selbstlosigkeit vorerst in der ansprechenderen Form der Opfer für Ideales einüben zu lassen. Also auch insofern ist die Jugend von der Pubertät an bis zum Abschluss des Wachstums idealistisch, die vorhergehende und nachfolgende Lebenszeit realistisch in einem etwas veränderten Sinn, nämlich utilitarisch; aber das spätere, das Reifealter ist es wesentlich mehr als das früheste, das Kindheitsalter, so dafs man dieses schliesslich je nach terminologischen Neigungen zum einen oder zum anderen -ismus rechnen kann, jedenfalls aber nicht schlechtweg idealistisch nennen soll.

Viertens. Wie das Kind die Wirklichkeit, die Reproduktion und das direkte Darauflosgehn auf die Dinge liebt, so hält es sich auch an das Konkrete, d. h. hier an die unveränderten Gesamtgebilde, die es aus seinen Eindrücken empfängt, und ist auch in dieser Hinsicht Realist. Die Zerlegung jener Gesamtgebilde, die zu den Abstrakta führt, ist ihm zwar nicht unmöglich, entspricht aber nicht eigentlich seinem Alters-Charakter. Der dem Begriff des „Konkreten" nahestehende Begriff des „Anschaulichen" bezieht sich auf eine Grundeigenschaft der Kindesseele. Wo auch wir nicht anschaulich noch enger genommen: „sinnlich" sind, bleiben wir ihr fremd. Wir durchschnittlichen Reifemenschen haben, welche Bildung auch immer hinter uns liegt, vielseits eine Neigung zum abstrakten Denken, die selbst manchem Theoretiker zu weit geht. Es wird wahrscheinlich für den ersten Augenblick dem gewöhnlichen Beobachter gar nicht auffallen, wie abstrakt und schematisch der gemeine Mann" denkt und darin durch unsere sozialen Verhältnisse, politischen Ordnungen, juristischen Begriffe usw. bestärkt wird. Er denkt mit Vorliebe in Kategorien, die sich über die Wirklichkeit der unaufhörlichen individuellen Unterschiede willkürlich hinausspannen; er sieht in seinem Mitmenschen ein Beispiel oder eine Nummer aus einer Menschenklasse oder höchstens aus dem Bereich eines

Typus; er wehrt sich gegen das Hineinleben in eine Individualität; und er wehrt sich gegen das Hineinleben in eine Persönlichkeit nur insoferne nicht, als diese blofs der Ausdruck oder die Maskе (лóошлоv) irgend einer Abstraktion ist. Er verfälscht die Thatsachen insonderheit durch beliebige Vereinfachung der menschlichen Charaktere, sowie es der unrealistische Dramatiker durch seine Figuren des Guten, des Bösen usw. thut.

Das Kind treibt derlei Abstraktionen nur, soweit wir sie ihm eigens beibringen. Im Übrigen bleibt es bei seinen Einzeleindrücken und stellt, wenn es verallgemeinern soll, diese Individualvorstellungen als Allgemeinvorstellungen auf, also in Umkehrung unserer Ersetzung des Individuellen durch allgemeine Vorstellungen. Die wenigen scharfen Linien, mit denen wir die Wirklichkeit sehen, sind bei ihm noch nicht herausgebildet. Die wenigen scharfen Linien, mit denen sein Zeichenstift die Gegenstände widergiebt, sind kein Gegenbeweis: sie sind es erstens nicht, weil bildliche Darstellung damit überhaupt anfängt, und sie sind es zweitens nicht, weil sie zeigen, wie wenig für ein Kind oder für eine kindliche Kulturstufe dazu gehört, um sich die volle Wirklichkeit vorzustellen. Die Fähigkeit ferner, die wir Erwachsenen haben, mit Produkten unserer denkenden Bearbeitung der Wirklichkeit zu hantieren, zumal wenn es höhere" Abstraktionen wie juristische, moralische, religiöse Allgemeinbegriffe sind, dürfen wir vom Kind nicht voraussetzen; alle Entfernung von der „Natur", um abgekürzt zu sprechen, ist ein Ergebnis längerer Entwicklung. Die bisherige pädagogische Psychologie verzeichnet gerade für das dreizehnte und vierzehnte Lebensjahr: Abstraktion, Determination, Kombination usw. (B. Hartmann.)

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Eine erfreuliche Bestätigung findet das in unserem vierten Punkt Gesagte durch eine in anderem Zusammenhang gebrachte Auslassung des Pädagogikers Muthesius (,, Pädagogische Blätter", Januar 1900, S. 10). Er sagt: „Kein Lebensalter steht der Kindheit innerlich so fern wie das Jünglingsalter. Es ist die Zeit einer gewissen Abkehr von der Einfachheit und Natürlichkeit, eines Hinneigens zu Abstraktionen und Reflexionen. Der Jüngling missachtet in der Regel »die gemeine Wirklichkeit der Dinge«<, überläfst sich mit Vorliebe einem weltabgewandten Träumen, operiert gern mit fertigen Begriffen, versteigt sich wohl gar in unnatürliche Gedankenverbindungen . . . Das ist aber eine Geistesverfassung, die der des Kindes schnurstracks entgegengesetzt ist. Wer auf Kinder unterrichtlich einwirken will, für den gilt als vornehmstes und gröfstes Gebot, in welchem das ganze didaktische Gesetz hanget, immer einfach und konkret zu sein, die Klarheit des einzelnen bis in die feinsten Vorstellungsverbindungen zu verfolgen; der Weg zur Hölle ist hier mit Abstraktem gepflastert."

Einen scheinbaren Gegensatz zu dem psychogenetischen Unterschied des Konkreten und Abstrakten bildet die Wandlung des jungen Menschen von einem vorwiegenden Gattungswesen zu einem vorwiegenden Individualwesen. Nicht, dafs die Kinder keine individuellen Verschiedenheiten zeigten; der Charakter im weiteren Sinn ist ihnen ja zu einem Teil angeboren, zu einem anderen Teil erwerben sie ihn während ihrer vierzehn Jahre, und nur noch ein Teil bleibt später zu erwerben. Auch das ,,Selbstbewusstsein" blitzt bekanntlich nach den (etwa drei) ersten Jahren der ihrer selbst „unbewussten" dritten Person auch schon im kleinen Kinde auf. Allein das „,Ich" und namentlich das „Ichgefühl" des Kindes ist ebenso vorwiegend passiv, wie das des geschlechtsreifen jungen Wesens vorwiegend aktiv und damit erst fertig ist. Dort das Bestimmt werden, hier die Selbstbestimmung, die Persönlichkeit, der Charakter engeren Sinns, also Bildungen, die bereits abstrakte Grundlagen voraussetzen; dort das Leben in der Aufsenwelt, hier zunächst in der Innenwelt womit wir einerseits wieder bei unseren ersten zwei oder drei Gegensatzpaaren angelangt wären und andererseits das folgende fünfte vorbereitet hätten.

Fünftens. Des ursprünglichen Menschen Seelenthätigkeit ist nach ,,aufsen" gerichtet; die Richtung nach innen, d. h. die Besinnung auf die eigene Seelenthätigkeit, die,, Reflexion auf psychische Erscheinungen", ist eine späte Entwicklungsstufe und mehr als vieles andere Können ein Kunstprodukt; dies auch schon in ihrer vorwissenschaftlichen Form. Dem Kind vor der Pubertät ist sie, aus thatsächlichen wie aus normativen (namentlich hygienischen) Gründen, nur im vorsichtigsten Ausmafs zuzumuten; aus der Jugendzeit nach der Pubertät dürften sie auch die späteren Jahre mehr als die früheren begünstigen. Der Mann bedarf einer gewissen, wenn auch geringen und mehr praktischen als theoretischen Ausgereiftheit dieses Könnens; doch scheinen die Mitte und der Schlufs der Jugendzeit die Bethätigung dieser Reflexion weit lieber zu haben, als der Kreis der Mannesjahre, und besitzen auch weit mehr Gelegenheit dazu, schon infolge reichlicherer Mufse. Gebrauchen wir nun die Ausdrücke res und idea im erkenntnistheoretischen Sinn der Aufsen- und Innenwelt, so fällt bei der vorliegenden Unterscheidung der Realismus zunächst ganz dem Kindesalter zu, wird dann im Lauf der Jugend immer mehr vom Idealismus abgelöst und tritt schliesslich in der Reifezeit mit einer Ausgleichung gegen den Idealismus wieder in seine Rechte ein.

Zu diesem fünften Punkt tritt nun noch folgende Ergänzung hinzu. Ein teils engerer, teils anderer Gebrauch des Ausdrucks Reflexion bezeichnet die Zurückhaltung und Herrscherstellung gegenüber den weniger zweckmässigen Vorgängen in der eigenen Seele; namentlich also die Niederdrückung

leidenschaftlicher Affekte mit Hilfe einer Überlegung der Verhältnisse, Chancen, Werte usw. Sie beginnt jedenfalls schon frühe, mindestens in den letzten Jahren vor der Pubertät, und erreicht ihre Höhe im Reifealter. In einem wieder weiteren und noch mehr veränderten Sinn lässt sich dann Reflexion für verständige Überlegung überhaupt nehmen. Ihre Entfaltung beginnt wohl noch früher und erreicht ebenfalls beim Erwachsenen ihren Höhepunkt. Und abermals ein verengerter Sinn ist es, wenn wir sagen, erst der Erwachsene stehe, unbekümmert und ungefährdet auch durch sich selbst, über einer Sache, während die Jugend noch mitten in ihr und in ihren Gefahren steht. Nach Belieben könnten wir nun wieder dieses einen Idealismus, jenes einen Realismus nennen.

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Sechstens. Der Kindheit und Jugend gebührt das Spiel. Die biologische Bedeutung dieses Satzes, der jedem naturgemäfs fühlenden Praktiker bekannt, von allzu vielen Praktikern aber vergessen ist, hat in entscheidender Weise Karl Groos in seinen ,,Spielen der Tiere" (1896) und in seinen Spielen der Menschen" (1899) dargelegt. Natürlich gilt der Satz desto mehr, um eine je frühere Jugendstufe es sich handelt. Der Arbeitsernst tritt allmählich neben das Spiel und wächst immer mehr über dieses hinaus, je mehr sich das Individuum dem selbständigen praktischen Leben nähert; der Übergang in dieses und damit die Erledigung der psychogenetischen Aufgabe des Spiels ist begreiflicherweise nach den Ständen und Berufen verschieden und fällt bei höher gestellten Bildungszwecken wohl erst mit dem Ende des Wachstums zusammen. Dabei fliegt bekanntlich die Phantasie des Kindes in seinem Spiel zu oft unglaublichen Formen, Weiten und Höhen. Nur dafs sie trotz all dieser wilden Freiheit doch in der Hauptsache reproduktiv bleibt und den spezifischen Schaffenszug noch vermissen läfst, den wir an zweiter Stelle als Charakteristik der geschlechtsreifen Jugendseele hervorgehoben hatten.

Für den Erwachsenen hinwider behält das Spiel in jedem Sinne, auch in dem des freien Ergehens der Phantasie, seine teleologische Bedeutung bei. In wenigstens einem Punkt wird man ihm hier sogar mehr zugestehen als der Jugend. Der ausgereifte Mensch kann nämlich, sofern er ein solcher ist, auch mit seinen ernsten, idealen Besitztümern spielen, ohne sie zu beeinträchtigen; er kann mit dem Heiligsten scherzen, ohne es zu entheiligen; er steht, wie gesagt, über seiner Sache. Je unausgereifter ein Mensch ist, desto gefährlicher scheint uns dies zu sein. Der Kindheit und Jugend gebührt also allerdings das Spiel, aber mit der Beschränkung, dafs es in dieser Weise den Ernst ebensowenig verkümmern darf, als hinwider der Ernst das Spiel. Und gerade damit der Ernst ungeschmälert bleibe, mufs neben ihm dem Spiel ein genügender Raum angewiesen werden,

sonst hält sich das Spielbedürfnis am Ernst schadlos und verderbt ihn. Diese Vorsicht gilt aber in der Jugendzeit, namentlich der späteren, mehr als in der Kindheit. Allerdings wird es ein didaktischer Vorteil sein, jede Lehre dem Lernenden „, spielend" beizubringen; indessen ist hier doch ein wichtiger Unterschied. Dem Kind lassen sich die Lehrgegenstände geradezu in Spielgegenstände verwandeln, dem jungen Menschen nicht; nach der Pubertät ist es Zeit, Spiel und Ernst aus ihrer Vereinigung heraus zu differenzieren und zwar so lange, bis dieser Prozess zum richtigen Abschlufs gebracht ist.

Endlich siebentens. Bekannt ist die Unterscheidung dreier Arten des Gedächtnisses: des mechanischen, ingeniösen, judiciösen. Mechanisch eignen wir uns z. B. das ABC an, ingeniös memorieren wir durch „,mnemotechnische" Mittel, judiziös prägen wir uns etwas ein, indem wir es ,,verständig" lernen und uns seiner auf Grund unserer Einsicht erinnern. Nun sind analoge Unterschiede auch dem Gehorsam eigen; wobei dieser (obedientia) in dem weiteren Sinn genommen wird, in welchem er auch die Folgsamkeit (obsequium), d. h. das völlig freiwillige Befolgen des Gebotenen mitumschliefst. Dieses Befolgen kann nun in ähnlicher Weise wie das sich Erinnern dreifach sein. Es kann erstens mechanisch geschehn: dem Gebot folgt die Befolgung, ohne dafs dazu jetzt Mittelglieder, Motive wenigstens aktuelle nicht nötig wären. Solche Mittelglieder sind hinwider bei den zwei anderen Arten des Gehorsams entscheidend. Das eine Mal werden sie und zwar hier mehr für die „Folgsamkeit" als für den Gehorsam engeren Sinns von irgend welchen Phantasieleistungen gebildet: das Gebotene erscheint als eine Vorstellung von lebhaftem Eindruck, der noch gehoben wird durch Associationshilfen, beispielsweise durch den Gedanken an die, hinwider von sich aus günstig wirkende, Persönlichkeit des Gebietenden. Dabei ist allerdings ingenium nicht ganz so gefasst wie beim,,ingeniösen" Gedächtnis, wo es, in einem besonderen Sinn von ,,Witz", die äufserlichen und künstlichen Hilfen bezeichnet; vielmehr ist es hier im Sinn etwa von Einbildungskraft gebraucht. Das andere Mal werden jene Mittelglieder des Befolgens gebildet von Urteilen, insonderheit von der Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Befolgens dessen, was nun einmal geboten ist, oder wenigstens in seine Zweckmäfsigkeit.

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Von diesen drei Arten des Gehorsams überhaupt wird es für den erwachsenen Menschen nötig sein, jegliche auf Grund längerer Übung zu beherrschen. Am wenigsten wohl dürfte für ihn der ingeniöse Gehorsam in Betracht kommen, am meisten der judiciöse; gerade auf diesen vorzubereiten wird also ersichtlich eine pädagogische Aufgabe gegenüber dem letzten Jugendalter sein. Dem Jugendalter überhaupt mag man das ingeniöse

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