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Weg, den die geschichtliche Bildung naturgemäfs geht. Die Begeisterungsfähigkeit richtet sich weniger nur auf geschichtliche Ereignisse als auf grofse geschichtliche Persönlichkeiten, deren Einfluss auf und deren Beeinflusstsein durch den Geist der Zeit, deren Ruhmes-, ja auch Leidenslaufbahn. Mit Goethes Pylades wählt sich jeder, am richtigsten jeder Jüngling einen Helden, der ihm zum Muster und Vorbild dient, der sein eigenes Streben bestimmend beeinflufst, mit dem er also in eine Art von Phantasieumgang tritt. Hier liegt schon die Rückwirkung des geschichtlichen Interesses, der Begeisterung auf die eigene Persönlichkeit des Schülers vor uns; man muss den Satz mit aller Macht in sich tragen und in sich wirken lassen, dafs die Besserung der Welt und der Menschheit nur mit der Besserung der eigenen Persönlichkeit anfangen kann:,,lafst uns besser werden, gleich wirds besser sein" und wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten." Wir stehen hier also vor der Idealität der Gesinnung, vor dem Idealismus, dessen Pflege sich das Gymnasium der Gegenwart zur Hauptaufgabe machen soll, unentwegt, unermüdlich. Nicht das grofse Mafs der Wissensmengen, zumal wenn ihnen der innere Zusammenhang fehlt, nicht der Formalismus sichert dem Gymnasium, das heute um seine Selbsterhaltung schwer zu kämpfen hat, seinen Wert, sondern die Idealität der Gesinnung. Wehe dem deutschen Volk, wenn seine Jugend, wenn zumal der zu dereinstiger Führung berufenen Jugend die Begeisterungsfähigkeit, die Opferwilligkeit, die Arbeitsfreudigkeit, kurz der Idealismus verloren ginge!

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In diesen Gedanken liegt die Einheit der Lehrplanarbeit des vierten, des abschliefsenden Semesters. Diese Einheit wird hergestellt einmal durch die Hinführung an Muster (Typen) historischer Persönlichkeiten im Zusammenhange mit den geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Strömungen der Zeit, und zwar an Muster in bonam und in malam partem, sodann durch die Vertiefung in den Schatz von Idealismus in der Bibel und in unseren weltlichen Dichtern und Prosaikern. Die erste Aufgabe löst die fremdsprachliche Lektüre, die zweite der Religions- und der deutsche Unterricht. Beginnen wir diesmal im Lateinischen mit der Horazlektüre. Nach dem Inhalt der Lektüre des dritten Semesters liegt die Frage nach der Durchführung und dem Gelingen des monarchischen Programmes nahe. Die Antwort giebt das fünfzehn Jahre später geschriebene vierte Buch der Lieder mit dem Carmen saeculare, der Leseplan zeigt IV 15, IV 14, IV 5, IV 2, Carm. Saec. die objektiven Thatsachen, verbindet aber zugleich mit letzteren die subjektiven Seiten, die Begeisterung für die Person des Augustus, die Entstehung eines persönlichen Momentes in dem Patriotismus der alten Welt. IV 4 gewährt mit der näheren Bekanntschaft der privigni des Kaisers und

ihrer Mutter Livia den

zu geschichtlicher Wiederholung einladenden Rückblick auf die Schlacht am Metaurus (Liv. 27 am besten privatim zu lesen!) wie auf den Anteil der gens Claudia an den Geschicken Roms, aber auch den Ausblick auf die Kaisergeschichte; für beide Blicke ist mafsgebend Horazens Wort nil Claudiae non (im guten, wir wissen aber auch, im bösen) perficient manus. Während der Leseplan aus Horazens Liedern mit IV 9, IV 8, IV 3 zum Dichter Horaz zurückkehrt, von dem er im ersten Halbjahr I 6 ausging, giebt der Leseplan aus der Prosalektüre entweder ein Bild aus der Regententhätigkeit des Tiberius nach Tac. Ann. III ff., was schon mit Rücksicht auf das abschliefsende Lebensbild Jesu nach Johannes wünschenswert ist, schon deshalb, um sich von der festgefügten Ordnung des Imperium romanum durch Heer und Verwaltung eine Vorstellung zu machen, oder ein Bild aus der grauenhaften Entartung Neros nach Tac. Ann. XIII ff., welches fast noch hinreifsender wirkt, wenn die rechten Züge zusammengestellt werden, als das Bild der Verdüsterung und des Lebensausganges des Kaiser Tiberius. Aber Partieen wie IV 5-6, IV 32 f., IV 37, VI 28 u. a. m. sind im Zusammenhange unserer geschichtlich-ethischen Gedankenkreise doch noch wichtiger.

In der griechischen Lektüre läfst sich dem nur gegenüberstellen entweder (für schwächere Jahrgänge) das Schicksal der Helden aus den Perserkriegen, Themistokles und Pausanias nach Thucyd. I, oder unendlich wirkungsreicher und zugleich voller historischer Parallelen Perikles' Persönlichkeit und ihre Beziehung zum peloponnesischen Kriege und sein Lebensausgang, der die unstillbare Sehnsucht nach dem grofsen Staatsmanne zur Folge hatte, II 59-65: von ergreifender Wirkung müssen vorher die Verhandlungen über die Kriegserklärung an Athen sein, und da wieder die Rede des Archidamus und Sthenelaidas; das sind in der That Lektürestoffe ersten Ranges. Ist Zeit, so mögen zur Einführung in das Verständnis der Geschichtsforschung und -Darstellung die Kapitel I 1-22 erklärt werden, besonders c. 22. Wer tiefere Zusammenhänge erkennen kann, wird verstehen, weshalb gerade jetzt auch Sophokles Antigone die geeignete Lektüre ist. Abgesehen von der Herbigkeit im Charakter Antigone's weist das, was Antigone leitet, hinüber zu den ethischen Idealen, das, was für Kreon bestimmend wirkt und ihm sein tragisches Schicksal bereitet, gehört in das Gebiet der Ideen, mit deren Hilfe man weltgeschichtliche Persönlichkeiten beurteilen lernt.

Auch die französische und englische Lektüre mag sich Stoffe aus dem gleichen Gedankenkreise wählen; es handelt sich weniger um blofse Biographieen als um ein vertieftes Verständnis des Thuns, Strebens und Lebens grofser, für die Weltgeschichte und Weltkultur bedeutungsvoller

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2. Goethes,,Tasso" ein Dichterbild, Goethes „Faust"
ein Menschheitsbild. 1)

Von Prof. Dr. Alfred Biese, Gymn. - Dir. (Neuwied).

Jene Wundergabe des Dichtergenius, mit Worten zu künden, was in Duft und Dämmer des innersten Herzens schlief, den Urtönen der Menschenbrust jenen Klang zu leihen, der ureigens aus dem Erlebten hervorrauscht und doch die Saiten jeder empfänglichen Menschenseele miterzittern und mitklingen läfst, diese Wundergabe hat man von altersher als eine göttliche gepriesen. Apollo und die Musen verleihen dies köstliche Geschenk. Melpomene weiht mit mildem Blicke ihre Lieblinge und giebt ihnen jene Kraft zu schauen, was andere nicht schauen, zu sagen, was sie freudvoll empfinden, was leidvoll in ihrem Busen sich regt, und so die Herzen der Menschen zu bannen durch die künstlerische Verbindung von Rhythmus und Sprache, von Gefühl und Gedanken, von Stoff und Form, von Einzelnem und Allgemeinem.

Wodurch bewegt der Dichter alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?

Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt?
Wenn die Natur des Fadens ew'ge Länge
Gleichgültig drehend auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmon'sche Menge
Verdriefslich durch einander klingt,
Wer teilt die fliefsend immer gleiche Reihe
Belebend ab, dafs sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,

Wo es in herrlichen Accorden schlägt? ...

Des Menschen höchste Kraft offenbart der Dichter, wenn er aus dem wirren Durcheinander der irdischen Wirklichkeit das Einzelne zur allgemeinen

1) Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, dafs auch Goethes "Faust" in seinen wichtigsten Einzelheiten und in seiner Grundidee den Primanern nicht mehr vorenthalten werden dürfe; der folgende Aufsatz zeigt, wie ich den meinigen,,,Tasso" und „Faust" zusammenfassend, nach der Lektüre, näher zu bringen suchte in einem Vortrage, der zugleich einen Cyklus beschlofs, den ich (auch öffentlich) zur 150. Wiederkehr des Geburtstages Goethes in unserer Aula (zum Besten der Ausstattung derselben mit Büsten und Orgel) gehalten habe. Manche Anregung entnahm ich den bekannten Werken von Bielschowsky und R. M. Meyer u. a., hinsichtlich der Wette des Faust vor allem dem wertvollen Buche von G. Keuchel, Goethes Religion und Goethes Faust (Riga 1899). Im übrigen vgl. meine früheren Goethe-Aufsätze an dieser Stelle (Heft 54, 55, 57), jetzt zusammengefasst mit anderen Aufsätzen in dem Bande „Pädagogik und Poesie" (Berlin, Gaertner 1900).

Männer wie Friedrichs des Grofsen, Goethes usw., selbst Bismarcks nicht ausgeschlossen.

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Die Lehraufgabe des deutschen Unterrichts dieses letzten Halbjahres steht schon aufserlich mit dem Geschichtspensum in engem Zusammenhang: Schiller und Goethe auf der Höhe ihres Ruhmes als Klassiker des deutschen Volkes, das durch Klopstock angeregte, im Zeitalter Napoleons zu bewufster Entwickelung gelangte Interesse an allem was Deutschtum ist in Sprache, Sage, Sitte, Dichtung usw., endlich die Dichter der Befreiungskriege und deren Nachfahren Uhland, Geibel, G. Freytag. Die Befreiungskriege, das wahrste Kind des deutschen Idealismus, sind gar nicht zu verstehen, ohne dafs der Zusammenhang mit den idealen Richtungen Goethes und Schillers erkannt und gewürdigt wird. Es ist aber auch daran festzuhalten, dafs der Idealismus unserer Klassiker nicht am Christentum vorbeiweist und führt, sondern sich aufs engste mit ihm berührt, und man halte sich nur stets das Wort Jesu Matth. 7, 21 gegenwärtig. Was kann man nun dem Idealismus Schillers etwa in Drei Worte des Glaubens", „Drei Worte des Wahns", „Breite und Tiefe" oder den tiefen Gedanken, welcher in Goethes Iphigenie das Heidentum durch die Macht der Wahrheit und der Liebe (s. 1. Petri 3, 1) innerlich überwinden, wirksam gegenüberstellen als nächst einer Auswahl aus Horazens Briefen ethischen Inhalts (besonders I 2, I 6, I 10, I 11, I 14, I 16, I 1) das Idealbild Jesu im Johannesevangelium, welches sonach die eigentliche Lehraufgabe des Religionsunterrichts in dem vierten Halbjahre ist. An dem Jesus des Johannesevangeliums ist alles Idealität, alles Glaube an den Vater, an seine Mission, alles hingebende, duldende Liebe inmitten einer so unendlich thörichten und verblendeten Welt (man beachte nur den inneren Zusammenhang zwischen c9 zu Ende und c. 10); sollte in den rechten Händen auch der überwältigende Eindruck spurlos verwischt werden, der in Stellen wie Johannes 9, 46 f., 4, 29, 6, 68f. zum Ausdruck kommt? Findet sich so die vertiefte Betrachtung historischer Gröfsen, tiefinnerlicher Lebensweisheit und des Bildes Jesu planvoll vereinigt und auf einander bezogen, so wird kein Mensch behaupten können, dem Gymnasium der Gegenwart fehlen die Mittel zur Erziehung sittlich hochgestimmter und tüchtiger Menschen. Die Mittel fehlen ihm nicht, sie liegen, das ist die Summa dieser Auseinandersetzungen, in dem organisierten Zusammenhang von Fach zu Fach, in dem nunmehr vollauf gewürdigten und im Interesse der Konzentration des Unterrichts überaus wichtigen Gesichtspunkte der hergestellten näheren Verbindung der Prosalektüre, ja der Lektüre überhaupt mit der Geschichte.

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