Page images
PDF
EPUB

flächlichen äufsern Augenschein wiedergeben wollen. Da aber die Natur auch einen Kern, einen Inhalt hat, der gerade ihr Wesen ausmacht, sozusagen die eigentliche Natur der Natur, so klingt der Name Naturalismus wie Spott und Hohn auf eine Richtung, die gerade das innere Wesen der Natur, ihr Streben nach Existenz, ihren Willen zum Leben, ihre Tendenz zur Vollkommenheit vernachlässigt. Ebenso ist der Name Realismus für diese Art der Kunst durchaus unzutreffend. Denn Realität und Vollkommenheit ist an einem Dinge ein und dasselbe, da es desto mehr Existenzfähigkeit, Lebenswahrheit, Realität hat, je vollkommener es sich in allen seinen Teilen gestaltet hat. Der falsche Realismus aber sieht, im Gegensatz zu dem, was sein Name bedeutet, mit Vorliebe an den Dingen nur das, was ihre Realität, ihre Lebensfähigkeit heruntersetzt: alles Mangelhafte, Fehlerhafte, Gemeine, Unedle und Unschöne." „,,Stellt daher der Künstler nur das rein Äufserliche dar, nur den ganz oberflächlichen Eindruck, den die Dinge auf ihn machen, so hat er damit nicht die Dinge dargestellt, die Objekte, sondern nur seinen oberflächlichen subjektiven Eindruck.“ Zu bedenken ist auch, dafs eine blofse, tote, geistlose Nachbildung der Natur völlig nutzlos wäre und vollkommen ihren Zweck verfehlte, da sie nie dem Original an Wirkung nahe zu kommen vermag. Vgl. H. Türck: Der geniale Mensch. Dritte Auflage. Berlin 1898. S. 24 f., 17 ff.

Abzuschliefsen ist die Darstellung mit dem Hinweis darauf, dafs die meisten Dichter dieser Richtung den extremen Naturalismus verlassen haben, und dafs so als Ergebnis für die Zukunft Abwendung von romantischer Schwärmerei und ein gesunder Realismus zu bleiben scheint.

Dauer der Behandlung des letzten Abschnittes vier Stunden.

Gesamtdauer der Behandlung der neueren deutschen Litteratur 20 bis 24 Stunden.

Wenn ich mir auch sehr wohl bewufst bin, dafs manches Wichtige unbesprochen geblieben, dafs manches nach wie vor gelegentlicher Erwähnung aufbehalten ist, z. B. der Einflufs der Philosophie Fichte der Geschichtsstunde, der Pessimismus der Religionsstunde, Nietzsche der deutschen Stunde bei der Besprechung des Wortes Übermensch in Goethes Zueignung, so glaube ich doch, dafs auf die von mir angedeutete Weise den wesentlichen Forderungen der sechsten Direktorenversammlung in der Rheinprovinz genügt wird: Die Schüler sollen auf dem weiten Gebiete der neueren Litteratur einen Pfadweiser erhalten, sie sollen in den neueren Werken realer und nationaler Dichtung eine wohlthätige Ergänzung zu den idealen und kosmopolitischen Dichtungen der klassischen Zeit finden und Anregung gewinnen, dafs sie der Entwicklung der Dichtkunst auch in ihrem späteren

Leben Teilnahme schenken (vgl. die Verhandlungen der erwähnten Versammlung S. 277).

Die Einrichtung der Privatlektüre.

Zu der von mir vorgeschlagenen Behandlung der neueren und neuesten Litteratur gehört trotz aller Beschränkung die Privatlektüre einer Anzahl dichterischer Werke, und zwar sind dies: Eichendorffs Taugenichts, Immermanns Oberhof, Heines Buch der Lieder, Freytags Soll und Haben, Scheffels Ekkehard, eine Novelle Storms oder Heyses, Wildenbruchs Menonit, Hauptmanns Weber; und dazu kommen als wünschenswerte Ergänzungen noch ein Drama Kleists, Hauffs Lichtenstein, einzelne Bände der Ahnen Freytags, Reuters Ut de Franzosentid. Da nun in Prima auch sonst noch mehreres zu Hause zu lesen ist (vgl. S. 1), ist es selbstverständlich, dafs das von allen Schülern zu fordernde Mindestmals nicht allein in Prima und besonders nicht im letzten Vierteljahre zu verlangen ist, in dem naturgemäss die Behandlung der neueren Litteratur liegt, sondern es mufs das gewünschte Ziel durch planmässige Privatlektüre von Untersekunda an erreicht werden. In jedem Jahre sind drei Werke zu lesen, und die Bekanntschaft mit dem Inhalte derselben ist durch Vortrag oder Aufsatz von allen am Schlusse des zweiten, dritten oder vierten Vierteljahres zu fordern. Das überlastet die Schüler nicht, denn Modernes lesen sie gerne, und gewöhnt sie noch dazu, nicht obenhin zu lesen, zu schmökern. Der Vorteil, dafs man für Sekunda auf diese Weise auch prosaischen Lesestoff neben dem sonst überwiegenden poetischen gewinnt, ist dabei nicht zu unterschätzen. Die Verteilung würde sich so gestalten:

Untersekunda: 1. Hauffs Lichtenstein.

2. Reuters Ut de Franzosentid.

3. Eichendorffs Taugenichts.

Obersekunda: 4. Freytags Ahnen (ein Band oder zwei Bände).
5. Immermanns Oberhof.

6. Kleists Prinz von Homburg.

Unterprima: 7. Einzelnes aus Heines Buch der Lieder.
8. Freytags Soll und Haben.

9. Scheffels Ekkehard.

Oberprima: 10. Eine Novelle Storms oder Heyses.

11. Wildenbruchs Menonit.

12. Hauptmanns Weber.

Die Beschaffung dieser neueren und neuesten Litteraturwerke für die Schüler, auf deren Kostspieligkeit oft hingewiesen wird, ist nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick scheint. Nr. 1, 3, 5, 6, 7 sind bei Reclam

für ein billiges zu haben, die Besorgung von Nr. 2 ist bei der gewaltigen Verbreitung dieses Dichters (wenigstens in Norddeutschland) sehr leicht, bleiben noch Nr. 4 und 8-12. Einzelne bemittelte Schüler werden manches dieser Werke in ihrem Hause vorfinden, anderen kann man empfehlen eins oder das andere sich zu Festtagen schenken zu lassen, sonst mufs hier natürlich die Schülerbibliothek eintreten und das betreffende Werk den Schülern in einer Anzahl von Exemplaren zur Verfügung stellen. Sehr wünschenswert ist dabei, dafs sich jedesmal nach Aufgabe der Privatlektüre Lesekränzchen bilden, einmal braucht man weniger Exemplare, und zweitens wird durch das hier geübte Vorlesen ein flüchtiges Überhinlesen verhindert. Dafs jeder Lehrer des Deutschen über eine anständige Bibliothek verfügen mufs und bei seiner jetzigen Gehaltslage auch verfügen kann, ist klar; die zarte Sorge der sechsten Direktorenversammlung in Bezug auf diesen Punkt (S. 238 f.) ist sehr wenig angebracht.

3. Zur paränetischen Verwertung der griechischen Lektüre der Prima.1)

Eine Abiturientenentlassungsrede, gehalten am 1. April 1898.

Von Dr. v. Bamberg (Gotha).

In den Zeiten, da wir uns nach politischer Einigung sehnten und deren wesentlichstes Hindernis in dem Gegensatz zwischen Österreich und Preufsen erblickten, da haben, die durch die Bildungswelt des Gymnasiums hindurchgegangen waren, gern warnend an den Zwiespalt von Athen und Sparta erinnert, der den frühen Untergang der politischen Bedeutung des Griechentums verschuldet habe. Nun wir der äufserlich festgegründeten Macht des neuen deutschen Reiches froh sind, liegt uns nahe, eines andern Grundes jenes raschen Verfalls zu gedenken.

Es war ein Augenblick von erhabener Gröfse, als Perikles an der öffentlichen Begräbnisstätte im äufseren Kerameikos vor den hinausgeströmten Bürgern Athens den im ersten Jahr des peloponnesischen Krieges Gefallenen die Leichenrede hielt, die zu einer erhebenden Schilderung der Natur des athenischen Staatswesens anwuchs. Was ihn da Thukydides sagen läfst, ist ein in deutlichem Gegensatz zu der starren spartanischen Staatsordnung gezeichnetes Idealbild eines Staates, in dem erwerbslustige und schaffensfreudige Freiheit der Einzelnen aufs glücklichste verbunden erscheint mit

1) Vgl. LL. 57 S. 25 ff. v. Bamberg, Ausgew. Schulreden No. 2 und 4 im Programm des G. Ernestinum zu Gotha 1898.

der sittlichen Forderung und überlieferten Gewohnheit freier Hingebung an das Gemeinwesen; aber es ist eben ein Idealbild, das zwar in der Seele des grofsen Staatsmannes volles Leben hatte, dem aber die Wirklichkeit des athenischen Volkslebens schon damals gar wenig entsprach, und zu dem das Bild Athens, das wir aus den nur wenig mehr als 80 Jahre später gehaltenen Reden des Demosthenes gewinnen, in dem schneidendsten Gegensatz steht.

Vollends dahingesunken war zu Demosthenes' Zeit jene Bürgertugend, die in den Perserkriegen dem Staate Gut und Blut freudig zum Opfer brachte. An ihre Stelle war die Selbstsucht getreten, die vom Staate eifrig annahm, was er den Einzelnen an grofsen und kleinen Vorteilen bot, allen Lasten für das gemeine Wohl aber sich zu entziehen suchte. Von ihr war die gesamte griechische Welt innerlich zerfressen; sie öffnete der Bestechung und dem Vaterlandsverrat Thür und Thor; sie vor allem hat es verschuldet, dafs das freie Griechentum mit all seiner hohen Geistesbildung der halbbarbarischen makedonischen Monarchie erlag.

Aber diese Todeskrankheit war nicht damals erst, etwa wie jene Pest, die Thukydides so lebendig schildert, urplötzlich hervorgebrochen; sie war schon im Laufe des peloponnesischen Krieges oft erschreckend hervorgetreten in der Haltung der Einzelnen wie des genialen, aber bis zum Vaterlandsverrat selbstsüchtigen Alkibiades, in dem Verhalten der Parteien, von dem Thukydides im Anschlufs an die Greuel des blutigen Parteikampfes auf Korkyra ein so düsteres Bild entwirft, und in dem Auftreten ganzer Staaten.

Zu den grauenhaftesten Gewaltakten eines herzlosen Staatsegoismus, an denen der 30jährige Krieg Griechenlands so reich ist, gehört jene Niedermetzelung der gesamten männlichen Bevölkerung der Insel Melos, die nach rühmlicher Gegenwehr der athenischen Übermacht erlegen war. Was aber diesen Akt vor allen andern auszeichnet, ist die Schamlosigkeit, mit der bei Thukydides die athenischen Feldherren vor dem Beginn der Feindseligkeiten in einer Verhandlung mit dem Rat der Melier die Selbstsucht ihres Staates enthüllen und ihr gewaltsames Vorgehen gegen völlig Schuldlose als vollberechtigt bezeichnen. Recht und Unrecht sind ihnen Begriffe, die nur da in Betracht kommen, wo auf beiden Seiten gleiche Macht ist; wo die eine Seite die äufserlich stärkere ist, da hat einfach der Schwächere nachzugeben. Nicht ob eine Handlung sittlich schön oder häfslich ist, darf gefragt werden, sondern nur, ob sie ihrem Urheber handgreiflichen Gewinn bringt. Recht des Stärkeren ist ihnen ein Teil der göttlichen Weltordnung; darum fürchten sie die Götter nicht, auf deren Schutz die Melier im Bewufstsein ihres Rechtes ihr Vertrauen setzen.

Das

Es leuchtet ein, dafs die Herrschaft solcher Anschauungen einem Staate, wenn ihm die äufseren Umstände günstig sind, wohl für eine Zeit Fries u. Menge, Lehrproben und Lehrgänge. Heft LXII.

4

zu einer glänzenden Machtstellung verhelfen, auf die Dauer aber auf den Geist der Bürger nur zersetzend wirken kann. Die Selbstsucht, die ein Staat gegenüber schwächeren Staaten mit dem Recht des Stärkeren rechtfertigt, mufs sich mit innerer Notwendigkeit früher oder später auch gegen ihn selbst wenden, nicht blofs von seiten noch mächtigerer Staaten, sondern auch von seiten der eigenen Bürger. Das eben war das Geschick Athens. Die für die Unterwerfung Athens unter Philipp eintraten, konnten sich auf jene Theorie der athenischen Feldherren auf Melos berufen. Wozu sollten sie den Heroismus entwickeln, den jene einst den Meliern hatten ausreden wollen und den diese so schwer zu büfsen gehabt hatten?

Dieser Untergang wahrer Vaterlandsliebe in der Selbstsucht hatte seinen Grund gewifs zumeist in dem einseitigen Verlangen der Einzelnen wie der Gemeinschaften, äufsere Güter und Machtmittel zu häufen, wie es auf dem sozialen und politischen Gebiet durch rasche Entwicklung von Industrie und Handel und fortschreitende Demokratisierung der Staaten nicht weniger als durch deren standesegoistische Bekämpfung immer mehr gesteigert worden war; aber ebenso gewifs ist, dafs der Untergang durch den bereits im Zeitalter des Perikles eingetretenen Bruch mit der überlieferten allgemeinen Welt- und Lebensanschauung begünstigt und beschleunigt worden ist.

Die Gestaltung des Lebens und die Richtung des Denkens wirkten

zusammen.

Die natürlichen Triebe der Selbstsucht fanden in der subjektivistischen Denkweise der griechischen Aufklärung gegenüber allen Gewissensbedenken ihre Rechtfertigung.

Aus ihr heraus läfst Platon im Gorgias den modern gebildeten Kallikles Gedanken entwickeln, die zu jener Sophistik der Selbstsucht im Munde der athenischen Feldherren auf Melos ein merkwürdiges Gegenstück bilden. Auch ihm versteht sich das unbedingte Recht des Stärkeren von selbst. In dem Gesetz sieht er nur eine Veranstaltung der Schwächeren zum Schutze vor den Mächtigeren. Er empfiehlt eine von ethischen Gesichtspunkten unabhängige Redekunst als das beste Mittel, sich im demokratischen Staate Einflufs und Macht zu erwerben, und redet gegenüber dem Einwand des Sokrates, dafs über andere zu herrschen doch nur der fähig sei, der sich selbst beherrschen könne, schrankenloser Hingebung an die Begierden rückhaltlos das Wort.

Diese verderbliche Weisheit wird im Gorgias allerdings durch des Sokrates Darlegung überwunden, dafs ein wahrhaft befriedigendes Leben sich nur auf die wissenschaftliche Erkenntnis und sittliche Darstellung der Idee des Guten gründen könne, dafs auch der Staatsmann kein höheres Ziel kennen dürfe als selbst gut zu sein und die Bürger des Staates sittlich

« PreviousContinue »