Page images
PDF
EPUB

1. Die Verhandlungen über das Reformgymnasium auf der 45. Versammlung der Philologen und Schulmänner in Bremen.

Von Dr. Rud. Menge (Oldenburg)

Unter die interessantesten und wichtigsten Verhandlungen der letzten Philologenversammlung gehörten die über das Reformgymnasium, die in der pädagogischen Sektion Donnerstag den 28. September 1899 stattfanden.

[ocr errors]

Sie hatten schon ein Vorspiel gehabt in der am vorhergehenden Montag abgehaltenen Versammlung des Gymnasialvereins, wo Prof. Dr. Fritze aus Bremen einen eingehenden Vortrag über das sogenannte Reformgymnasium" gehalten hatte. 1) Dieser hatte sich mit Bestimmtheit für das Festhalten am derzeitigen humanistischen Gymnasium erklärt natürlich unter Vorbehalt einiger Wünsche für Änderungen in didaktischer und methodischer Hinsicht - und die Idee des Reformgymnasiums als verfehlt bezeichnet. Er hatte dies etwa in folgender Weise begründet: „Das Reformgymnasium ist schädlich, weil es den humanistischen Charakter des Gymnasiums zerstört. Die wissenschaftliche Erkenntnis mufs eine philosophische und eine historische Grundlage haben. Den philosophischen Sinn -- natürlich nur in propädeutischer Weise zu entwickeln, mufs der Zweck bei der Behandlung aller Unterrichtsgegenstände sein; d. h. die Lernenden sollen nicht nur mechanisch ein Wissen aufnehmen, sondern die Dinge so kennen lernen, dafs sie sie auf der letzten Stufe des Unterrichtes in ihrem Zusammenhange erfassen und in der gewonnenen Erkenntnis eine Erkenntnisnorm besitzen. Von dieser Aufgabe fällt ein grofser Teil dem Unterricht in den alten Sprachen zu, welcher insbesondere das Ausdrucksmittel des Geistes, also die Sprache, als ein organisches, unter dem Einflusse des Denkgesetzes entstandenes und sich immer weiter gestaltendes Gebilde begreifen lehren soll". Die Uebungen in der Sprache geben dem Geiste eine weit reichere Nahrung, entwickeln seine Anlagen in weit gröfserer Mannigfaltigkeit, als dies z. B. die mathematischen Sätze oder die Vorführungen naturwissenschaftlicher Erscheinungen zu thun vermögen. In erster Linie also vermag der Sprachunterricht den Geist zu bilden, aber der Weg kann nur langsam und mit einer ganz allmählichen Steigerung durchmessen werden. Darum mufs der Sprachunter

[ocr errors]

1) Auch gedruckt erschienen, z. B. in der 1. Beilage zu Nr. 226 des Bremer Tageblattes und Generalanzeigers vom 26. September 1899.

Fries u. Menge, Lehrproben und Lehrgänge. Heft LXII.

1

richt früh beginnen.

Dies ist auch deshalb nötig, weil aller Unterricht in wissenschaftlichen Fächern erst dann Wert hat, wenn der Geist durch einen längeren Sprachunterricht dafür fähig gemacht worden ist.

Und für diesen Unterricht eignet sich am besten die lateinische Sprache. Ihre Formen sind einfacher als die der neueren Sprachen, sind leichter und klarer, sinnlicher und übersichtlicher ausgeprägt; ihre Logik ist strenger. In diesen Beziehungen verdient die lateinische Sprache auch den Vorzug vor der griechischen. Sie wird auch von den Kleinen mit Lust gelernt. Wenn das Gymnasium den Kindern die Grundlage wissenschaftlichen Denkens geben soll, so ist unbedingt am frühen Erlernen des Lateins festzuhalten. Auch lernt sich das reiche Gedächtnismaterial, das sie bietet, leichter in den Tagen der Kindheit, und es mufs viel geübt werden, wenn 'Sicherheit und Freiheit in der Benutzung desselben erreicht werden soll. Auch sind die alten Sprachen die Ausdrucksform für zwar einfachere, aber doch den heutigen Menschen fremd anmutende Weltanschauungen, die eine langsamere Verarbeitung erheischen. Infolgedessen ist auch für das Lesen der alten Schriftsteller eine längere Vorbereitungszeit nötig, und die Lektüre mufs umfangreich und gründlich sein, denn die wissenschaftliche Erkenntnis, welche Ziel des Gymnasialunterrichtes ist, soll auch eine historische Grundlage haben.

Zur höheren allgemeinen Bildung gehört eine Kenntnis des Weges, auf dem die heutige Welt zu dem geworden ist, was sie ist. Besondere Wichtigkeit für die heutige Kultur haben das griechische und römische Volk gehabt durch die geradezu typische Bedeutung dessen, was sie auf ihrer Kulturstufe errungen haben, sowohl im staatlichen und sozialen wie im wissenschaftlichen und künstlerischen Leben, während alle diese Verhältnisse in der reicheren Ausgestaltung des modernen Lebens minder durchsichtig sind. Wer aber die Gegenwart verstehen will, mufs sich nicht etwa blofs über die Fortschritte, welche die Menschheit in der Bewältigung der Naturkräfte gemacht hat, unterrichten lassen, sondern er mufs auch für sich selbst den Bildungsgang der Menschheit noch einmal durchmachen, und die sich verwirrenden Züge der Gegenwart aus den einfachen typischen Vorgängen der Vergangenheit zu verstehen suchen. Auf dem Gebiete der Religion, der Politik, der schönen Litteratur, der Philosophie finden wir die wichtigsten Grundgesetze des geistigen Lebens bereits von den Griechen und Römern, besonders von ersteren, festgestellt. Die Geisteswerke dieser Völker aus dem Bildungsstoffe der heutigen Welt entfernen oder auch nur ihre Wirkung auf die heutige Jugend beeinträchtigen, heifst unserer Bildung den Lebensatem nehmen, sie des Jungbrunnens berauben, aus dem sie immer neue Kraft gewinnen kann.

Dies geschieht, wenn die Beschäftigung mit dem Altertume zu einer Nützlichkeitsbestrebung herabgedrückt wird, wie es im Reformgymnasium der Fall ist. In den wenigen Jahren, die dort der Beschäftigung mit den alten Sprachen gewährt werden, kann man dem unendlich reichen Stoffe viel weniger gerecht werden, als auf unserem humanistischen Gymnasium, das bei rechter Ausnutzung der Zeit immerhin noch die notwendige formale Schulung geben und die historische Bildung soweit fördern kann, dafs der Jüngling daran einen Leitfaden für seine ganze spätere Bildung behält. Aber die Schüler des Reformgymnasiums, die erst in den Mittelklassen zu den alten Sprachen gelangen, sind für die einfache antike Welt schon zu modern, zu realistisch geworden; auch wird ihre Gedächtniskraft nicht ausreichen, all den nunmehr an sie herantretenden Lernstoff zu bewältigen. Sie werden also auch nicht mit Lust an diese Aufgabe herangehen, sondern sich dagegen auflehnen.

Neben den alten Sprachen kommen als Lehrstoffe für das Gymnasium in Frage die neueren Sprachen einschliefslich die Muttersprache und das, was man kurz Wissenschaften nennen kann. Die neueren Sprachen werden auf dem Reformgymnasium nicht zu kurz kommen, wohl aber die Wissenschaften. Alle historischen oder mathematisch - naturwissenschaftlichen Wissensgegenstände können erst bei einem gewissen Alter Eingang in den jugendlichen Geist finden, können also erst in den oberen Klassen gelehrt werden. Da aber das Reformgymnasium hier für die alten Sprachen mehr Zeit braucht, so mufs der Unterricht in jenen Wissenschaften unter das zuträgliche Mafs verkürzt werden.

Das humanistische Gymnasium hat eine Richtung auf das Ideale. Die Jugend soll in der ihrem Alter so gemäfsen Anschauung befestigt. werden, dafs wir hier auf Erden nicht dem eigenen Nutzen dienen sollen, sondern dem Gesamtinteresse. In diesem Sinne ist auch sein Lehrstoff gewählt. Seine philosophischen und historischen Bildungselemente aber haben gemeinschaftliche Stütze und Ausgangspunkt in der langjährigen Beschäftigung mit dem klassischen Altertum. Da das Reformgymnasium das antike Bildungselement zurückdrängt und das moderne bevorzugt, so kann es nur für den augenblicklichen Notbedarf zustutzen und nur Kenntnisse beibringen, die so rasch vergehen, wie sie hastig aufgenommen worden sind; es kann nicht langsam eine idealistische Lebensanschauung aufbauen; es fehlen ihm die Fundamente der philosophischen Schulung und der historischen Erkenntnis. Das führt zu einer praktisch-modernen Richtung, die an das Banausentum grenzt und bald ganz dazu führen wird, während das ideale Streben aus der Welt verschwinden wird.

Prüfen wir nun noch, ob die Vorteile, welche das Reformgymnasium bieten soll, wirklich vorhanden sind. Man führt für den Beginn mit dem Französischen an, dafs so vom Leichteren zum Schwereren vorgegangen würde. Aber das Französische ist insofern schwerer, als es nicht so bestimmt ausgeprägte Formen hat; auch steht es dem Knaben nicht näher als das Latein. Der Gedankeninhalt des Gelesenen würde sich, wenn man sich überhaupt damit beschäftigte, als schwerer herausstellen als die einfachen Verhältnisse in Rom und Athen, mit denen der altsprachliche Elementarunterricht den Knaben bekannt macht. Dafs die neueren Sprachen anschaulicher unterrichtet werden könnten als die alten, lässt sich auch nicht behaupten. Man empfiehlt das „Nacheinander" der Sprachen gegenüber dem angeblich auf dem Gymnasium herrschenden „Nebeneinander". Aber das Reformgymnasium legt das stärkste Nebeneinander" in die Mittel- und Oberklassen, ohne durch einen allmählichen Aufbau vorsichtig den Grund gelegt zu haben. Endlich ist es doch viel richtiger, beim Erlernen des Französischen auf das bekannte Latein zurückzugreifen als umgekehrt.

[ocr errors]

Auch die äufseren Vorteile, welche dem Reformgymnasium nachgerühmt werden, sind zweifelhaft. Sie sollen die Entscheidung der Eltern über den Beruf der Kinder erleichtern. Aber diese Entscheidung wird meist nicht nach der Befähigung der Kinder, sondern nach den Standes wünschen der Eltern getroffen. Auch beim Reformgymnasium werden die Lehrer nicht hindern können, dafs Schüler in eine Abteilung übergehen, für die sie nicht geeignet sind. Dazu kommt, dafs der Lehrer in der Regel über die Fähigkeit der Kinder erst sicher urteilen kann, wenn Latein gelernt werden soll. Also Entscheidungen, die beim Gymnasium schon in den untersten Klassen gefällt werden können, verzögern sich beim Reformgymnasium bis in die mittleren, und soweit das Griechische mit in Frage kommt in die oberen Klassen. Der Übergang von der einen Schulart zu einer anderen wird ja allerdings beim Reformgymnasium etwas leichter sein; aber das Bedürfnis ist so selten vorhanden, dass dafür keine besondere Schulorganisation erfunden zu werden braucht. Auch dafs der Schüler, welcher aus den mittleren Klassen einer Reformschule abgeht, eine abgeschlossenere Bildung habe als der gleichalterige Schüler eines Gymnasiums, ist nicht zutreffend, wie auch nicht die Behauptung, dafs gröfsere soziale Einheitlichkeit geschaffen würde, wenn Kinder längere Zeit gemeinsam dieselben Schulklassen besuchten. Getrennt werden müssen die verschiedenen Gattungen von Schülern doch, und mit dem Augenblick, wo die Scheidung stattfindet, ist auch das Gefühl der Gleichartigkeit der verschiedenen Schülergattungen geschwunden. Wie das Reformgymnasium zu Er

[ocr errors]

sparnissen führen soll, ist schlechterdings nicht zu sehen und den „Schulfrieden kann es auch nicht fördern. Denn viele von denen, welche die jetzige Reform vertreten, betrachten sie nur als eine Abschlagszahlung; sie wollen das humanistische Gymnasium überhaupt beseitigen. Und diesen werden sich später alle die zugesellen, die sich in den Reformschulen noch in reiferen Jahren mit den Anfangsgründen der alten Sprachen abquälen müssen. Deshalb müssen die Freunde des humanistischen Gymnasiums gegen die Reformpartei Front machen." Zum Schlufs weist der Redner auf eine beachtenswerte Äufserung hin, die Stöcker am 20. März 1890 in einer Sitzung des preufsischen Abgeordnetenhauses gethan hat, wo er unter anderem gesagt hat: Die antike Welt zeigt uns das Höchste, wozu der Menschengeist ohne Offenbarung aufsteigen kann; die Vergleichung derselben mit der Kultur, welche aus dem Christentume stammt, ist eine der fruchtbarsten Aufgaben, auf die der Menschengeist bei seiner Ausbildung nicht verzichten kann. Wie der Bildhauer immer wieder zu Phidias und Praxiteles zurückkehren wird, um die Schönheit zu studieren, so wird auch die Wissenschaft immer zu der Tiefe des Antiken zurückkehren müssen. Hier sind geniale Anlagen einer höheren Welt zum schönsten Ausdruck gekommen, die Gott selbst in die Völker gelegt hat. Das lässt sich durch nichts ersetzen; das ist in der Geistesgeschichte nur einmal vorhanden Ich wülste wirklich nicht, wo anders man den Zauber und die Kraft der antiken Welt von neuem finden sollte. . . Für einen Fehler unseres Schulwesens möchte ich es halten, dafs wir überhaupt zuviel darnach trachten, Schüler und Schülerinnen schon während der Schulzeit mit allem möglichen Wissenswerten für die ganze Lebenszeit auszurüsten. Dadurch kommt in unser ganzes Schulwesen eine Überhäufung mit Stoff. Für mich wäre es das Ideal eines Schulwesens, den Geist so lernbegierig wie möglich und zugleich so lernfähig zu machen, dafs er geschickt wäre, die Kräfte, die er an dem einen Stoff erprobt hat, auch an dem anderen zu üben."

[ocr errors]

Besonders diese letzten Worte Stöckers will der Redner betont wissen; es komme ja nicht so sehr auf Erreichung eines Unterrichtszieles an als vielmehr darauf, wie man den Weg zu ihm zurücklegt, ob ohne Überhastung, ohne Dressur, mit wirklich erziehendem Einflusse. Das letztere aber könne das Reformgymnasium keinesfalls. Es könne seine Unterrichtsziele überhaupt nur erreichen, indem es hastig abrichte und vollpfropfe und den eigentlich bildenden Wert der Altertumsstudien vernichte.

Demnach stelle er folgende Sätze auf:

1. Das Reformgymnasium ist schädlich, weil es den humanistischen Charakter des Gymnasiums beeinträchtigt, indem es die Beschäftigung mit den alten Sprachen nicht zu ihrem vollen äufseren wie inneren Rechte

« PreviousContinue »