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welche die spezielle Aufgabe haben, den Diebstahl, den Meineid und dergl. zu ahnden (Zeus, Horkios), nicht existieren? Weshalb ist S. 412 f. aus der Kritik, die Aristoteles dem platonischen Musterstaate widmet, neben dem wohl erkannten logischen nicht auch der noch wichtigere psychologische Einwurf, dafs Eigenes das Individuum stets mehr interessieren und zur sorgfältigen Behandlung veranlassen werde als Fremdes, nur der Kommune Eigenes, nicht hervorgehoben worden? Usw. Usw. Geben wir lieber dem Gefühl des Bedauerns Raum, dafs das Buch einen beabsichtigten Mangel hat. Gomperz hält es nach dem Vorwort für untunlich, das platonische System in seiner Totalität mit konzentrierter Kraft auf uns wirken zu lassen und befürchtet, dafs dies Verfahren immer ein unzulängliches Bild erzeugen werde. Letzteres mag zugegeben werden. Aber gewisse Grundlinien des platonischen Systems stehen fest. Konnten nicht die äufserlich sehr dürftigen,,Rückblicke" zu einer wenn auch nur wenige Seiten langen Zusammenfassung des Kerns der Ideenlehre und der Hauptfortschritte gegenüber Sokrates verwendet werden? Die ,,Vorblicke", vor allem auf Aristoteles und Augustinus, würden dadurch nur gewonnen haben. Man hat den Eindruck (s. z. B. die überleitende Bemerkung S. 199 und den einleitenden Satz S. 475:,,Ein historischer Roman und ein physikalisches Märchen so darf man den Inhalt dieser zwei Gespräche bezeichnen, ohne gegen die Platon gebührende Ehrfurcht zu verstofsen"), als ob Gomperz an Platon, sei es aus traditionellen Gründen sei es aus philologisch-ästhetischen Einsichten heraus, der Genius des Platon höher stehe als der Inhalt seiner speziell philosophischen Lehren. Gomperz steht darin ganz sicher nicht allein. Nur ist bei ihm und das ist ein Vorzug - dieser Standpunkt in einer ihm völlig bewufsten Weise durch den Positivismus unserer Tage bedingt. Aber so begrüfsenswert seine Wertung der platonischen Naturphilosophie und sein Bemühen, die Verdienste Platons um die einzelnen Geisteswissenschaften herauszusondern, sein mag und so starken Schiffbruch andererseits die systematische Konstruktion Schleiermachers (s. S. 566) erlitten hat, so möchten wir doch über all dem die Hervorkehrung der grofsen einheitlichen Gesichtspunkte und die Grundmotive dessen, was geworden ist, nicht missen. Und darum werden wir uns neben diesen ,,Platon" - obschon ein Meisterstück in seiner Art gerne den Platon Windelbands und Natorps legen. Bonn. Adolf Dyroff.

Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Historisch-quellenmässig bearbeitet. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. 1.-5. Lieferung. I. Band. Berlin 1904, E. S. Mittler & Sohn. Vollständig in 9-10 Lieferungen à M. 2.50.

Im Jahre 1899 erschien das Werk in einem stattlichen Bande von 956 Seiten. Es hatte keinen ernstlichen Konkurrenten in deutscher Sprache. Kirchners Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe hält sich in erheblich engeren Grenzen; die früheren Werke waren

längst veraltet. Das gilt auch von Francks französischem Dictionnaire des sciences philosophiques. Überlegen ist ihm nur Baldwins Dictionnary of Philosophy and Psychology, und zwar vor allem dadurch, dafs es die einzelnen Begriffe und Probleme in abgeschlossenen Artikeln behandelt, während Eisler das Schwergewicht auf die Zusammenstellung der Ansichten der verschiedenen Autoren legt. Insofern bildet er eine Ergänzung zu Baldwin, verliert aber an Verwendbarkeit für weitere Kreise. Da indes Baldwin nur in englischer Sprache vorliegt, hatte er ihn nicht zu fürchten und kam in der Tat einem Bedürfnis entgegen. So wurde das Buch denn auch sehr wohlwollend aufgenommen und fand so guten Absatz, dafs es schon jetzt in zweiter Auflage erscheinen kann in nahezu doppeltem Umfange. Der erste Band wenigstens, umfassend die Lieferungen 1.-5., A bis N mit, hat nicht weniger wie 746 Seiten gegen 511 des entsprechenden Teiles der ersten Auflage. Manche Buchstaben, wie z. B. M und N, sind nahezu auf das Doppelte angewachsen, die anderen erfuhren fast alle Erweiterungen um ein gutes Drittel. Und das, obwohl manche Artikel verkürzt wurden, einzelne sogar ganz ausfielen. Dieses Wachstum wurde bewirkt teils durch Aufnahme einer grofsen Anzahl von neuen Artikeln, teils durch oft beträchtliche Zusätze zu den bisherigen. Referent hat den Buchstaben A in den beiden Ausgaben etwas genauer verglichen. Fast kein Artikel ist ohne Spuren einer Umarbeitung. Ganz erheblichen Zuwachs erfuhren die Artikel Affekt, Allgemein, Angeboren, Assimilation, Anpassung, Anschauung, Apperzeption, a priori, Aufmerksamkeit, Ausdrucksbewegungen, Ästhetik. Andere Artikel wurden wenigstens übersichtlicher abgeteilt, so dafs Verfasser mit gutem Recht sagen konnte, dafs diese zweite Ausgabe völlig umgearbeitet wurde.

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Dafs bei einem Werke, in dem eine so gewaltige Summe von Sammelarbeit steckt, trotz alles Fleifses da und dort Lücken geblieben sind, wird niemand dem Verfasser sehr übel nehmen. Ich gestatte mir hier einiges nachzutragen, was ich beim Durchblättern der ersten Hefte gefunden habe. Im Artikel Aktivität ist m. E. auch Bonnet als Aktivitätspsychologe anzuführen, vgl. meine Untersuchung über,,die Psychologie Ch. Bonnets" Barth, Lpz. S. 124 ff. —,,Appriorismus“ wird gelegentlich auch gebraucht im Sinne von wissenschaftlicher Voreingenommenheit, ablehnendes Verhalten gegenüber neuen Ideen auf Grund früher gewonnener Urteile; so machte ihn Du Prel der seinen Mystizismus ablehnenden Wissenschaft zum Vorwurf. - Beim Artikel Assoziation vermisse ich u. a. die Arbeiten von Ferri, Claparède, Allihn, Ward, Münsterberg. - Was über den Astral- u. Ätherteil gesagt ist, ist sehr wenig; man vgl. dagegen meine oben erwähnte Untersuchung über Ch. Bonnet S. 157-166. Beim Artikel Ausschaltung fehlen Hartmann, Wundt, Münsterberg, vgl. meine Untersuchung,,Über die Grundformen der Vorstellungsverbindung" in Anm. 135 (Philos. Monatshefte XXVIII (1892) S. 546), dazu Lazarus: Geist u. Sprache II S. 394 u. James: Principles of Psychology I. 680. Zwei Formen der Ähnlichkeit unterscheidet Lipps in seinem

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Leitfaden d. Psychologie. Beim Artikel Ästhetik vermisse ich J. Bayer, Ästhetik 1863 ( u. II) und Paul Stern: Einfühlung und Assoziation in der neueren Ästhetik, 1898, sowie M. Deutingers Namen. Beim Artikel Evolution suchte ich abermals vergeblich nach Bonnet, dessen Système de Germes im XVIII. Jahrhundert keineswegs unbeachtet geblieben (vgl. meine erwähnte Untersuchung S. 160 ff.) und ebenso vergeblich bei Lebensgeister" den Namen dieses Denkers (vgl. dazu ebenda S. 29) und diejenigen von Hume und Herbert von Cherbury vgl. Güttler: Herbert von Cherbury S. 37.

Trotz dieser gelegentlichen Ausstellungen trage ich auf Grund der vorgenommenen Probe kein Bedenken das Werk Eislers als ein höchst brauchbares, zuverlässiges Hilfsmittel zu begrüfsen, das geeignet ist, aufserordentlich Zeit zu ersparen und zugleich auf die bequemste Weise mit der Literatur bekannt zu machen. Es ist eines von jenen Büchern, die neben anderen Wörterbüchern in den Handbibliotheken unserer Lehrerzimmer stehen sollten.

Ingolstadt.

Dr. M. Offner.

Hille, Prof. Dr. Karl, Zur Pflege des Schönen. Im Jahresbericht des Kgl. Gymnasiums zu Dresden-Neustadt 1902. (33 S.)

Statt des zu allgemeinen Titels hätte der Verfasser den bestimmteren Zur Pflege des schönen Vortrages' setzen sollen, da dies den Hauptinhalt seiner Schrift bildet. Der Vortrag jedes Lesestoffes, auch des fremdsprachlichen, soll sieben Tugenden haben (S. 8): er soll laut sein und fliefsend, langsam (immer?) und deutlich, rein, sinngemäss und natürlich. Bezüglich der Deutlichkeit wird mit Recht verlangt, dafs besonders die Endsilben auch die Endkonsonanten hätte Verfasser betonen sollen zu ihrer Geltung kommen. Falsch ist, wenn der Verfasser, ein Sachse, den Ich-Laut bei der Endsilbe ig verlangt (fertich!); dies verstöfst ebenso gegen das Hochdeutsche wie bayrisch i=ig (firti).

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Mit Recht wird bei den alten Sprachen die strenge Beachtung der Quantität gefordert: ist dies doch ein treffliches Mittel gegen zahllose Orthographiefehler, besonders im Griechischen, und zugleich die beste Vorschule zum richtigen Lesen von Versen. Dagegen verurteile ich Kunststückchen, wie die Schaffung von Nebenarsen in Versen (nullaque mortales praeter súa littora norant), da dies zu metrischen Entgleisungen führt! Verfasser irrt, wenn er meint, dafs nur der Grieche und überhaupt der Südländer das praesens historicum mit bezeichnenden Gesten gebrauche: unsere Gebirgler und Jäger erzählen ihre mehr oder minder lateinischen Abenteuer mit Vorliebe im Präsens und auch die Sanskritdichter am Ganges kennen diese Erzählungsform: das ist ein internationaler Zug. - S. 20 f. werden Regeln für stilistische Schönheit aufgestellt, von denen man manche als einwandfrei unterschreiben wird, während andere, wie die durchgängige Forderung der Knappheit des Stils, auf Widerspruch stofsen dürften. Richtig wird für die Aufsatzlehre betont, dafs die 1. Person auf der Unterstufe in den Vorder

grund treten soll (,Was ich von meinem Fenster aus sehe', Warum ich gern in den Wald gehe'). Dagegen ist der Kampf gegen längst eingebürgerte, wenn auch unschöne Fremdwörter im Schulbetrieb meines Erachtens aussichtslos und zwecklos. Eine Ungeheuerlichkeit ist des Verfassers Vorschlag, das cum inversum als das verkehrte Cum' zu bezeichnen. Sein Eifer gegen die bei ihm gebräuchlichen ,A-VerboFragen (z. B. Wie heifst credimus a verbo?) ist bei uns Süddeutschen gottlob noch gegenstandslos; wir fragen schlicht und klar:,Wie heilsen die Zeiten (Zeitformen) von credere?'

Hilles Eintreten für schönes Lesen und Vortragen, wobei er auf das Auswendiglernen mit Recht weniger Wert legt, ist gewifs beherzigenswert. Nur stellt sich oft ein unübersteigliches Hindernis in den Weg: woher nehmen wir bei der vorwiegenden Betonung des sachlichen Verständnisses und der Forderung, immer mehr anwachsende Stoffe zu bewältigen, die Zeit für die Ausbildung und Aneignung einer schönen Form her? Die,Eloquenz' ist eben auf unseren Schulen zum Schemen verblafst. Aber eines können und sollen wir: den Kampf führen gegen alles nachlässige, farblose, geistlose Lesen unserer Autoren seitens der Schüler und diesen selbst mit gutem Beispiel vorangehen! München. Dr. J. Menrad.

Kulturstudien

aus drei Jahrhunderten.

Von

W. H. Riehl. 6. Auflage. Stuttgart und Berlin 1903, J. G. Cottasche Buchh. Nachf. XII u. 446 S. kl. 8°. Geheftet M. 4.—.

Riehls,,Kulturstudien" noch besonders zu empfehlen ist nicht nötig; es genügt auf die erfreuliche Tatsache hinzuweisen, dass sie wieder aufgelegt werden mussten. Verändert ist natürlich nichts daran; hat doch nicht einmal Riehl selbst an dem zuerst 1858 veröffentlichten Buche in den späteren Auflagen etwas geändert. So gehören diese Kulturstudien selbst schon wieder der Kulturgeschichte an. Mögen aber auch Verhältnisse, Betrachtungsweisen und Urteile sich ändern: ein Schriftsteller wie Riehl, dem alle Wissenschaft zum Erlebnis und alles Erlebte zur Wissenschaft wird, der für alles, was er behandelt, mag es auch noch so entlegen scheinen, sofort Interesse zu wecken versteht, wird nicht so leicht veralten.

Übrigens liegt gerade in der Vergleichung der Zeit, aus der heraus Riehl schrieb, mit der Gegenwart nicht der geringste Reiz dieser Studien. In dem Aufsatze über das ,,landschaftliche Auge", der im Jahre 1850 entstanden ist, wird offenbar die künstlerische Erfassung des Hochgebirges, wie sie am grofsartigsten in Calames Werken vorlag, als die für die damalige Zeit bezeichnendste Äufserung landschaftlichen Sinnes hervorgehoben. Die Anziehungskraft des Hochgebirges auf Touristen aller Art ist seitdem nur noch gewachsen, aber in der Kunst ist es stark zurückgetreten, und das einst obligate Alpenglühen wird selten mehr gemalt. Dagegen ist der Sinn für die Ebene, sei es Hoch- oder Tiefebene, in den Künstlern wieder erwacht und damit aufs neue der Boden betreten, auf dem die Landschaftsmalerei

Blätter f. d. Gymnasialschulw. XIL. Jahrg.

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einst zur höchsten Blüte gediehen ist. R. M. Rilke in seiner Monographie über Worpswede (S. 14) schreibt: Woran unsere Väter in geschlossenem Reisewagen, ungeduldig und von Langweile geplagt, vorüberfuhren, das brauchen wir. Wo sie den Mund auftaten um zu gähnen, da tun wir die Augen auf um zu schauen Die Ebene ist das Gefühl, an welchem wir wachsen. Wir begreifen sie und sie hat etwas Vorbildliches für uns; da ist uns alles bedeutsam: der grofse Kreis des Horizonts und die wenigen Dinge, die einfach und wichtig vor dem Himmel stehen." Das ist etwas zu ausschliefsend gesprochen, aber der Gegensatz zu 1850 tritt um so mehr hervor. Ich führe noch einige Sätze Naumanns an, in denen das innerste Wesen der modernen Landschaftskunst ebenso unabsichtlich als glücklich in Worte gefalst ist:,,Wenn man allein auf der Landstrafse geht, bekommt man Augen für die Dinge. Jeder Baum, an dem man vorüberzieht, hat seine eigenen Knorpel und Schrullen, jedes langweilige Bauernhaus hat seinen eigenen Gesichtsausdruck. Die Einteilung der Felder, die Höhe der kleinen Wintersaat, die sanfte Wellenform des Bodens, der gewundene, müde Lauf des Wassers, alles ist voll von gewissem Inhalt für den, zu dem die Dinge sprechen. Er kann schwer angeben, was er eigentlich Neues gesehen hat, denn die Gegenstände selbst sind nicht neu, nur gelang es ihm diesmal, tiefer als früher ihre Gegenständlichkeit in sich aufzunehmen. Es kann ein Gemüt ungeheuer glücklich machen die einfachsten Sachen neu zu sehen. Darin, dafs sie dieses Glück tiefer erleben als wir anderen, liegt der Vorzug wahrer Künstler." (Friedrich Naumann, Gotteshilfe. S. 354.) Schon hat die Kunst, die in diesem Sinne arbeitet, angefangen die Menschen für die so vielfach übersehenen, ja verachteten Reize der schlichtesten Landschaft zu erziehen; ein Fortschritt gegenüber der einseitigen Bewunderung des ,,Interessanten" oder durch Masse Imponierenden in der Natur ist mit Freuden zu begrüfsen.

Zum Schlusse sei noch ein kleiner Fehler berichtigt, der sich auch in dieser Auflage der ,,Kulturstudien" erhalten hat. In dem Aufsatze,,Alte Malerbücher als Quellen zur Volkskunde" heifst es S. 129: ,,Gaudenzio Ferrari erhält von der Synode zu Navarra das Prädikat eximie pius." ,,Synode zu Navarra" klingt auffallend, da Navarra keine Stadt ist; und sollte sich eine Synode im Gebiete von Navarra mit dem piemontesischen Meister befafst haben, der bei allen vortrefflichen Eigenschaften doch nie zu den Berühmtheiten gehört und nie über Oberitalien hinaus gewirkt hat? Offenbar ist für Navarra der Name der piemontesischen Bischofsstadt Novara zu setzen, in deren Kirchen noch jetzt Bilder Ferraris zu sehen sind.

Regensburg.

R. Thomas.

Paul Holzhausen: Heinrich Heine und Napoleon I. (Frankfurt a. M. 1903, Diesterweg, 292 S.) mit vier illustrativen Beilagen (Napoleon I. nach einem Aquarell von O. Homlin; Napoleons Absteigequartier in Düsseldorf; Heines Jugendbild von 1827 nach einer Ra

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