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Das humanistische Gymnasium besitzt in seinen philologisch-historischen Fächern Bildungsstoff genug um die idealen Ziele der Schule an ihrem Teil zu erreichen. Um aber dem Vorwurf der Einseitigkeit und Isolierung zu begegnen, dem Geiste der in naturwissenschaftlicher und technischer Hinsicht so weit fortgeschrittenen Zeit Rechnung zu tragen und dem Studierenden einen Einblick in die Errungenschaften derselben zu bieten und ihn über die gegenwärtigen Anforderungen des praktischen Lebens mehr aufzuklären, ist mit der Einführung der Mathematik und Physik eine Ergänzung und ein das Gleichgewicht herstellendes Gegengewicht zu schaffen.

Diese Begründung wird aber hinfällig, wenn nach Dr. Lindemann lediglich die ideale, philosophische und theoretische Seite der Mathematik betont wird und die praktische zurücktreten soll, wenn im Widerspruche mit seinem Lobe auf die Teilung der Arbeit (pag. 3) der Mathematik sogar ein gewisses Übergewicht einzuräumen ist, indem sie künftighin,,nicht aufserlich wie jetzt, neben den anderen Disziplinen des Gymnasiums stehen, sondern mit dem ganzen Unterricht organisch verwachsen (pag. 9 u. 10) sein soll". Natürlich müfsten dann, so hätte Dr. Lindeman konsequenterweise fortfahren sollen, wenn die Mathematik gleichsam als Sauerteig alle übrigen Gegenstände zu durchdringen hat und wenn ,,es nicht auf die Unterrichtsmethode (!) in einer einzelnen Disziplin ankommt, sondern auf die pädagogischen Grundsätze, nach denen die Schulen geleitet werden" (pag. 16), in erster Linie die philologischen Rektoren, die ja,,keine hinreichende Vorstellung vom Wesen der Mathematik haben" und daher an dem ,,Mangel im Schulbetrieb" mitschuldig sind, beseitigt und durch Männer ersetzt werden, die nicht blofs durch die Hallen des klassischen Altertums sondern auch durch das Tor der höheren Mathematik gegangen sind.

Gegen diese alles Bisherige auf den Kopf stellenden Forderungen Dr. Lindemanns würden natürlich die Philologen im Einverständnis der Mehrheit aller Gebildeten energisch Front machen und ein friedliches und erfolgreiches Wirken beider Faktoren, der Philologie und Mathematik, nebeneinander würde unmöglich werden.

Doch haut Dr. Lindemann nur in alte Kerben; seit längerer Zeit halten sich gewisse Hochschullehrer für berufen im Namen der Wissenschaft die Gymnasien zu kritisieren, zu reformieren und in die Verwaltung derselben dareinzureden, als ob nicht schon hervorragende Hochschullehrer in überwiegender Zahl neben einigen Rektoren, den berufensten Kennern der Mittelschulen, von der obersten Schulleitung als Berater herangezogen wären und den gebührenden, ja einen präponderierenden Einfluss auf die Gymnasien ausübten. Bald greifen jene Kritiker die Mathematiker in der Manier Dr. Lindemanns an, bald die Philologen, weil diese,,wegen allzu einseitiger zeitlich beschränkter Betrachtung dem Schüler nur ein lückenhaftes Bild von dem Altertum als der Periode der höchsten Blüte von Kunst und Wissenschaft geben" (pag. 8), aber auch im Deutschen keinen guten Stil und keinen richtigen sprachlichen Ausdruck beibringen können (pag. 8). Das Gymnasium soll eben

das Mädchen für alles sein und die Spezialität eines jeden besonders berücksichtigen.

Die Hochschuldozenten sollten doch dessen nicht bedürfen; ist denn nicht jeder seines Faches und seiner Lehraufgabe so mächtig, dafs er keine Entlastung unter weiterer Belastung des Gymnasiums braucht? Während Dr. Lindemann in den gymnasialen Zuständen alles tadelt, ist heutzutage und besonders, seit er selbst an der Universität München wirkt (pag. 29), an den Universitäten alles wohlbestellt, und ,,es genügt der Betrieb der höheren Mathematik allen Anforderungen vollauf" (pag. 29), unter welchen selbstverständlich auch die Beschäftigung mit,,Problemen, die stets die Phantasie der Gebildeten erregt haben", z. B. die Dreiteilung des Winkels und Quadratur des Kreises figurieren mufs. Also auf der Universität gibts vor keiner Türe etwas zu kehren, jede der zahlreichen Spezialitäten ist nicht blofser Wissenssport sondern eine hohe Errungenschaft des menschlichen Geistes und wertvoll für die Menschheit. Infolge dieser idealen Zustände an der Universität ist die Ausbildung der Kandidaten eine tadellose; sie gehen an der Hand weit tüchtigerer Lehrer, als es früher gab, durch das goldene Tor der höheren Mathematik und erhalten dadurch gleichsam als Gratisbeigabe ohne alles weitere Zutun der Universität, gleichsam von selbst, die volle Befähigung zu ihrer künftigen Lehraufgabe am Gymnasium, über welche während der ganzen Universitätsstudienzeit kein Wort gesprochen wurde. ,,Und doch wenden diese Undankbaren, so klagt Dr. Lindemann, mit der Universität auch der höheren Mathematik den Rücken und betrachten dieselbe als unnützen Ballast, da sie mit dem eigentlichen Schulunterricht nichts gemein zu haben scheint." Dr. Lindemann hätte hinzufügen können: und da es heute selbst für einen begabten und fleifsigen jungen Mann sehr schwer ist mit Erfolg die Universitätskarriere anzustreben, sodafs er lieber das sichere Ziel amn Gymnasium im Auge behält als die Voraussetzungen für das unerreichbare an der Hochschule erfüllt. Dr. Lindemann hätte auch etwa folgendes betonen können: die Aufgabe des Mathematikers am Gymnasium, der Umfang des Lehrstoffes, das jugendliche Alter und die Sprödigkeit des Schülermaterials, die mangelhafte Begabung so vieler Elemente, die man nach den organischen Bestimmungen erst nach Jahren abstofsen kann, der Kampf mit der Bequemlichkeit der Schüler und oftmals mit dem Unverstande solcher Eltern, die Lehrer und Schule die Mifserfolge ihrer Söhne zuschieben, dann die Vorbereitung auf den Unterricht und die stete Verantwortlichkeit nicht blofs dem eigenen Gewissen sondern auch den Vorgesetzten gegenüber beanspruchen die Kräfte des Mannes derart, dafs die private Beschäftigung mit höherer Mathematik cine naturgemäßse Einschränkung erleiden mufs und verschiedenes in Vergessenheit kommt, wie es auch manchem Hochschulmathematiker, der sich nur mit dem höheren Kalkul befafst, hinsichtlich der Mathematik des Gymnasiums passieren mag. Doch sprechen die wissenschaftlichen Programme der Gymnasien dafür, dafs viele ihrer Lehrer trotz eines vollgerüttelten Mafses dienstlicher Arbeit auch der höheren Mathematik Beachtung und Studium zuwenden. Diese und ähnliche Umstände

hätten doch auch einer Erwähnung seitens des Universitätslehrers Dr. Lindemann bedurft, wenn er hätte gerecht sein wollen. Doch liegen ihm ja solche Erwägungen ferne, da er die bayerischen Gymnasien weder als Lehrer derselben noch als Ministerialkommissär jemals kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Daher hat er auch keine Ahnung, wie der Lehrer an der Mittelschule mit seinen Schülern sich abmühen, wie lange und wie oft er den Lehrstoff behandeln mufs, stets kontrollierend, mahnend, bald ermunternd, bald strafend, bis derselbe einigermassen sitzt. Wie ganz anders beim Hochschullehrer! Er hält seine Vorlesung und braucht sich dann nicht mehr darum zu kümmern, ob seine Hörer die Sache auch verstanden haben oder nicht, und wie sie im Examen zurecht kommen. Man sollte meinen, hier gäbe es doch auch etwas zu reformieren ohne der wahren akademischen Freiheit Abbruch zu tun. Fast alle Mathematikkandidaten wollen auf der Universität die Admission nicht zur Hochschule, sondern zur Mittelschule erwerben und sind, wie die ganze Welt, sehr überrascht, dafs für ihre Weiterbildung in den gymnasialen Fächern, für ihre Befähigung zur Erteilung des Unterrichts in diesen seitens ihrer Universitätslehrer gar nichts geschieht. Die Vorbereitung für ihre eigentliche Lebensaufgabe wird lediglich dem Privatstudium überlassen. Motiviert wird diese Gepflogenheit mit dem üblichen Satze: Wenn der Kandidat die höchste Stufe der höheren Mathematik erklommen hat, so kann er auch den Unterricht in der elementaren Mathematik am Gymnasium in befriedigender Weise erteilen. Jeder Mathematiker weifs aber, welcher Arbeit, welcher neuen Studien, welch langer Beobachtungen und Erfahrungen es für den Anfänger bedarf, um sich zu dieser Befähigung durchzukämpfen. Sache der Universität wäre es ihren Absolventen diese Errungenschaft als ein fertiges Gut mit auf den Weg zu geben. In der richtigen Erkenntnis des in dieser Hinsicht unzulänglichen Unterrichtsbetriebes auf der Universität sah sich daher das Staatsministerium gezwungen auch für die geprüften Mathematikkandidaten und Anfänger das praktische Vorbereitungsjahr am Gymnasium, ähnlich wie für die Philologen, versuchsweise einzuführen.

Wenn wir oben gesagt haben, dafs zur Regelung der Angelegenheiten des Gymnasiums, zur Abstellung von Mifsständen und zur Prüfung neuer Forderungen der Wissenschaft an dasselbe die von der obersten Schulleitung aus den Hoch- und Mittelschulkreisen gewählten und mit besonderem Vertrauen ausgestatteten Männer zunächst berufen sind, so ist sicherlich nicht ausgeschlossen, dafs klare und gute, in nicht verletzender Weise im Interesse der Wissenschaft und Schule von anderer Seite gemachte Vorschläge und Winke eine verdiente Beachtung erfahren; denn ein gutes Wort findet stets einen guten Ort. Für die der Sache der Mathematik erwiesenen Dienste des Mathematikers Dr. Lindemann aber danken die Mathematiker der Gymnasien Bayerns. Joh. Waldvogel.

München.

II. Abteilung.

Rezensionen.

Theodor Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie. II. Leipzig 1902, Veit & Comp. VIII. u. 615 S.

Vom Jahre 1895 ist die erste Auflage des ersten Bandes dieser Geschichte der antiken Philosophie datiert. Sieben Jahre später erschien die zweite Auflage. Das heifst: Das Werk des Wiener Philologen, der zeitlebens zur Philosophie enge Beziehungen aufrecht erhalten hat, ist erfolgreich gewesen, trotzdem Zeller, Überweg-Heinze und Windelband ihm vorhergingen. Und wer, nach den Gründen dieses Erfolges forschend, das Werk durchblättert, wird sich bald klar, dafs die individualistische Auffassungsweise neben der bestechenden Darstellungsund Gestaltungsgabe ihren grofsen Anteil daran hat. Gomperz, der Verehrer der positivistischen Theorie, läfst sich natürlich die Schilderung des Milieus, aus dem der einzelne Denker erwuchs, nicht entgehen. Aber der philologische Takt bewahrt ihn davor, die Persönlichkeit als blofses Zielergebnis sozialer Kräfte zu betrachten. In der Titelwahl ist diese seine Stellung zum Problem der Philosophiegeschichte vielleicht schärfer ausgesprochen, als der Verfasser eigentlich beabsichtigte.

Es liegt aber ein zweiter Gegensatz darin verhüllt. Windelbands allgemeine Geschichte der Philosophie", die wir vor längerer Zeit in diesen Blättern anzuzeigen hatten, hat deshalb so tiefe Wellen geschlagen, weil wieder einmal die Probleme in den Vordergrund gerückt worden waren und die Persönlichkeiten der Denker zurücktraten. Der Ertrag an wertvollen Durchblicken war grofs. Aber mehr wird uns doch immer die biographische Behandlungsweise anmuten und schon die Überlieferung, die ja trotz mancherlei Mifsgriffen doch im grofsen und ganzen sich als treffliche Kennerin des Besseren erwiesen hat, hat uns davor bewahrt, dafs man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Die historische Wissenschaft sucht diese summarische Wertung zu vertiefen und wohl auch zu berichtigen, und so wird es dem, der das ganze Gebiet beherrscht, nicht schwer fallen, auch bei Voranstellung des persönlich - individuellen Moments eine Schilderung des Werdegangs unserer allgemeinsten Begriffe und Grundsätze zu bieten, die über der Fülle des Denker-Lebens die nicht immer goldenen Früchte seiner abstrakten Denktätigkeit nicht zu kurz kommen läfst. Prophezeien ist nicht mehr ,,zeitgemäfs." Und doch möchte ich voraussagen

dafs in Zukunft die Jugend, wenn sie zum erstenmale den zwar immer im Glanze der Morgenfrühe prangenden, aber doch uns Kinder des 19. Jahrhunderts mit fremden Augen anblickenden Blütenflor hellenischer Philosophie behaglich mustern will, sich von Gomperz führen lassen wird, um erst dann sich von Windelband das wohlgeordnete und aufserordentlich frisch erhaltene Herbarium der Probleme erklären zu lassen.

Der Name des Autors und der Ruhm des ersten Bandes würden es rechtfertigen, wenn sich der Berichterstatter mit diesen Hinweisen begnügte und nur noch die Notiz hinzusetzte: Von diesem Werke ist der zweite Band erschienen. Er behandelt nicht, wie er ursprünglich sollte, die Zeit von Sokrates bis zu den Nachfolgern des Aristoteles, sondern schliefst, weil der Raum durch eine eingehende Analyse der platonischen Schriften vorweggenommen wurde, den Stagiriten mit seiner Schule aus.

Das Werk verdient das höchste Lob, vor allem wegen der überaus feinsinnigen und taktvollen, dabei aufserordentlich genufs- und lehrreichen Zergliederung der platonischen Gespräche, die durch ihre grofsen Reize vielleicht manchen von der eigenen Lektüre der Dialoge -abhalten wird, sodann wegen der das Verständnis erleichternden und oft auch sachlich förderlichen Parallelen zwischen antiken und modernen Problemen, endlich wegen der liebevollen Beschäftigung mit Denkern, die sonst in Anmerkungen, im,,Kleingedruckten" oder in nachhinkenden Sätzen ein kümmerliches historisches Dasein fristen. Doch man pflegt gerade angesichts solcher hervorragender Werke von der Kritik mehr zu erwarten. Das Recht zur freudigen Anerkennung soll dadurch erkauft werden, dafs der Fähigkeitsnachweis für das Tadeln erbracht wird. Indes der logische Zusammenhang zwischen dem einen und dem andern ist nicht sehr enge. Und es wäre diesmal kleinlich den Leser des Berichts und den Verfasser des Buches durch Nadelstiche zu behelligen, wie solche ja immer zur Verfügung sind, also etwa durch folgende ,,Ausstellungen": Ist wirklich das Autorrecht des Sokrates an den 3 Charitinnen so gesichert, wie dies nach S. 37 erscheint? Warum ist S. 69 nicht die Mitteilung über des Sokrates Versuch einer allegorischen Mythendeutung und S. 197 f. nicht die in mehr als einer Beziehung verwendbare Anekdote über eine Unterredung zwischen dem,,Atheisten" Theodoros und der Hipparchia benützt? Ist denn der S. 197 angeführte Satz des Epiphanios, Theodoros habe zu Meineid, Raub und Diebstahl aufgefordert, etwas anderes als eine der bei Kirchenschriftstellern auch sonst vorkommenden apotreptischen Übertreibungen, wie sie durch die S. 197 unten besprochene Theorie des Theodoros von dem hypothetisch erlaubten Diebstahl und Tempelraub und durch die vielleicht doch historisch erworbene Einsicht des Epiphanios in den Zusammenhang zwischen dieser Theorie und dem ,,Atheismus“ des Theodoros nahe gelegt war? Konnte nicht der Zusammenhang der umgekehrte gewesen sein und Theodoros so deduziert haben: In gewissen Fällen ist Diebstahl, Meineid, Raub und Zurücksetzung des Vaterlands sittlich erlaubt, darum können besondere Götter,

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