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Jahr, daß Gott mir meinen lieben Gatten durch den Tod entriß, und in diesem Jahre hat Gott überschwänglich mehr gethan, als ich bitten und verstehen konnte. Ich breche ab; denn ich werde so gerührt, daß ich befürchten muß, meiner Gesundheit zu schaden; denn die vielen Abwechselungen, bald Freude, bald Traurigkeit, greifen mich sehr an.“

Schnepfenthal.

Erziehung im Salzmannschen Institut. Lebensentscheidung.

So war Carl Ritter nach Schnepfenthal gekommen, das nun in jeder Beziehung seine zweite, ja seine eigentliche Heimath wurde. Er blieb bis zum vollendeten siebenzehnten Lebensjahre, im Ganzen elf Jahre, dort. Hier war es, wo die glücklichen Anlagen seines Geistes und Herzens, die er von dem Herrn erhalten, sowie die segensreichen Eindrücke, welche er unter der Leitung seiner trefflichen Eltern in den ersten Lebensjahren aufgenommen hatte, auf das sorgfältigste gepflegt und so entwickelt und gekräftigt wurden, daß er daran eine feste Grundlage für sein ganzes späteres Leben gewann. Auch bewahrte er bis an sein Lebensende die herzlichste Dankbarkeit gegen den Ort und die Menschen, durch welche er so reiche Segnungen empfangen hatte. Einen Gruß, den ihm ein Freund, als er bereits seinem Ende nahe auf dem Sterbebette lag, von dem lieben Orte brachte, bezeichnete er voll Dank als eine Erquickung, die ihm Gott gesandt habe.

Und in der That hätte kaum ein Ort gefunden werden können, der geeigneter gewesen wäre, ihn zu dem Beruf, zu welchem ihn der Herr auserkoren hatte, zu befähigen, als Schnepfenthal. Hier fand seine innige und sinnige Natur nach allen Seiten hin die anregendste Förderung. Zunächst, wie mußte die mit den anziehendsten Reizen ausgestattete Landschaft, in welcher dieser Ort, wo er eine so lange Zeit leben sollte, liegt, auf sein für die Schönheit der Natur höchst empfängliches Gemüth wirken! Hier am Rande des Thüringer Waldes, vor welchem sich am Fuße des Hügels, auf dem das Anstaltsgebäude stattlich thront, eine fruchtbare, mit Ortschaften reich beseßte Ebene weit ausbreitet, und hinter welchem sich die reichbewaldeten, mit köstlichen Wiesengründen durchzogenen Berge mit ihren bald kühnen, bald milden Formen und dem verschiedenartigen, in ihnen waltenden Leben hinlagern, mußte er die lebendigsten Eindrücke von der Herrlichkeit der Schöpfung Gottes, von der Mannigfaltigkeit der · Gestaltungen der Erdoberfläche und der ihnen eigenthümlichen Beziehungen zu dem auf ihr sich entfaltenden Leben empfangen. Dazu kam die besondere Art der Erziehung, die ihm dort zu Theil wurde, und die, obwohl sie an manchen Einseitigkeiten und Mängeln litt, doch im Ganzen gerade seinem innersten Wesen entsprechend und vortrefflich war.

Die Grundsätze, welche Salzmann in der von ihm gegründeten und noch heute in frischer Blüthe bestehenden Anstalt bei der Erziehung der ihm anvertrauten Kinder befolgte, find im Allgemeinen bekannt. Es waren im Wesentlichen die von Rousseau in seinem Emil mit so vieler Beredtsamkeit aufgestellten, welche in Deutschland von Basedow mit stürmischem

Enthusiasmus vertreten und in weiten Kreisen als sicheres Mittel der Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse und der Beglückung aller Einzelnen durch die Erziehung freudig begrüßt wurden: Naturgemäßheit und Aufklärung waren die Losungsworte dieser neuen Pädagogik. Und Vieles von dem, was von derselben angestrebt wurde, war durchaus berechtigt und ein bleibender Gewinn; freilich waren damit große Verluste verbunden, die sich nur zu bald in dem Leben des gesammten Volks bemerklich machten. Denn jene Anschauung von Naturgemäßheit und Aufklärung, in welcher man einen unendlichen Fortschritt der menschlichen Erkenntniß erblickte, war, so weit sie sich auf das geistige Gebiet bezog, im Wesentlichen doch nur ein Aufgeben aller tiefern Bedürfnisse des Menschen und eine Beschränkung auf das was der Verstand, die bei aller unendlichen Wichtigkeit dennoch dürftigste Seite seines Wesens, beherrscht. Geltung hatte nur, was vor ihm bestehen konnte, und so wurden die reichsten Schätze menschlicher Bildung als Ballast über Bord geworfen. Am größesten und wahrhaft ungeheuer, was ja kaum Noth ist zu sagen, waren die Verluste auf dem Gebiete der religiösen Erkenntniß und des darauf gegründeten religiösen Lebens. Aber wenn Salzmann und das von ihm gegründete Institut mitten in dieser Richtung stand, ja er einer ihrer bedeutendsten practischen Vertreter war, so muß man sagen, daß nirgends vielleicht als in Schnepfenthal Alles was in der neuen Erziehung berechtigt war, zu einer so kräftigen Wirksamkeit kam, und zugleich das in derselben liegende Bedenkliche so vielfache Compensationen fand. Der Grund davon lag vor Allem in der ganzen Persönlichkeit Salzmanns. In ihm vereinigten

sich in seltenem Maaße die Eigenschaften, welche eine segensreiche Einwirkung auf die Jugend bedingen und sichern. Ein energischer, auf festen einmal als wahr erkannten Principien ruhender Character, der allem Schein und gemachten Wesen feind war, eine unerschütterliche Pflichttreue und unermüdliche Thätigkeit, warme Begeisterung für Menschenwohl waren die Grundzüge seines Wesens: sie ruhten auf der tiefen und lebendigen Ueberzeugung von der allweisen und väterlichen Leitung und Vorsehung Gottes, und der aufrichtigen Verehrung Jesu und seiner Lehren, die ihm als wahrhaft göttliche Richtschnur seines Lebens und Handelns galten. Freilich war ihm, wie den übrigen Trägern des Geistes, der die damalige Zeit beherrschte, das Wort von der Versöhnung mit Gott durch Christum Jesum in seiner seligmachenden Kraft unbekannt geworden; die Worte Sünde und Gnade möchte man kaum in seinen zahlreichen religiösen Schriften autreffen; die heilige Schrift war ihm deshalb, wie den meisten seiner gebildeten Zeitgenossen, ihrem innersten Kerne nach ein verschlossenes Buch; die Erkenntniß der in ihr, wie in der Entwickelung der christlichen Kirche sich offenbarenden Herrlichkeit des Reiches Gottes, und der daraus für alle menschlichen Verhältnisse, auch für die Bildung der Jugend zu schöpfenden Lebenskräfte, war ihm, wie seiner ganzen Zeit, mit Ausnahme Einzelner, verschwunden. Aber wie wichtig diese Mängel seiner Erkenntniß theils überhaupt, theils in ihrem Einfluß auf den ganzen bei der Erziehung zu befolgenden Gang auch sein mußten, so wurden sie doch in hohem Grade ergänzt durch die aufrichtige und einfache Frömmigkeit, die sich in seinem ganzen Wesen aussprach, durch die Reinheit der sittlichen Gesinnung und

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