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oft eigentlich zu diesem Zwecke gedichteter Lieder 3) den Körper mifshandelten und zerfleischten, und deren Züge, gleich Schneelawinen, sich mit jeder neuen Stadt und jedem neuen Lande, wohin sie kamen, bis ins Unglaubliche vergröfserten, indem Alte und Junge, wie von einer Raserei befallen, ihnen zuströmten. Der Stoff zu dieser sittlichen Krankheit war überall vorhanden, kein Wunder, dafs diese auch überall fortwucherte. Mit dem allgemeinen Namen der Flagellanten oder Geissler bezeichnete man diese Horden von Selbstpeinigern am gewöhnlichsten und ausdrucksvollsten, wiewohl sie auch, theils von den Kleidern, in welche sie sich hüllten, theils von den Kreuzen, mit denen sie sich bezeichneten, andere Namen führten 4). Was den schnellen Fortgang mancher neu gestifteten Mönchsorden, besonders der Franciscaner und Dominicaner, beförderte, wirkte auch zur Ausbildung und zum Wachsthume dieser Flagellanten. Von Oben her, durch wunderbare Aufforderungen wollten sie den besonderen Ruf erhalten haben 5). Die Welt, so meinten sie, könne in dem bisherigen Zustande nicht länger verharren; die Zeit eines neuen Evangeliums müsse und werde bald erscheinen, und werde eben durch

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3) Jacob von Königshoven theilt uns in seiner Elsassischen und Strafsburgischen Chronicke, Ausgabe von D. Joh. Schilter. Strassb, 1698. 4. S. 297. „Von der grossen Geischelfari“ ein solches Deutsches Lied mit. Ein anderes steht in Alberts von Strafsburg Chronik bei Urstisius in der Collect. Germanicor, historicor. illustr Francof. 1670. fol. T. II. p. 150. Wieder abgedruckt finden sich beide Lieder bei Schöttgen in der Commentatio de secta Flagellantium, p. 35 sqq., das bei Albert von Strafsburg auch in Cramers Pommerscher Kirchenchronik, B. 2. Kap. 27. Folioausgabe S. 68. Quartausgabe Kap. 20. S. 84. und 85. Nur in der Quartausgabe findet sich der von Schöttgen schon bemerkte wunderliche Druckfehler: Luther ist ein böfs Geselle, statt: Lucifer ist ein böfs Geselle. Zu einem Ganzen verbunden finden sich viele dieser einzelnen Liederfragmente in dem oben gedachten alten Geisslerliede bei Mafsmann.

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4) Eine ganze Reihe solcher Namen bei Schöttgen und Förste

mann.

5) Königshoven S. 299, Sie zeigten einen Brief, der ihnen vom Himmel geworden war, wie sie sagten.

sie mit herbeigeführt werden; die Anstalt der Kirche, so wie sie sey, reiche nicht hin; Päpste, Bischöfe und andere Häupter derselben verdienten ihrer sittlichen Gebrechen und Laster wegen keine Ehrfurcht und Folgsamkeit 6). Diejenigen Mitglieder der neu eingerichteten Orden, besonders des vom heiligen Franciscus gestifteten, die es mit der strengeren Observanz hielten ), zeigten sich diesen Büfsern nicht selten geneigts), und selbst geachtete Lehrer der Kirche mifsbilligten wenigstens den Grund nicht, aus welchem diese Devotionen hervorgingen ") Die Mutter des Herrn aber, die Schmerzenreiche, an der Simeons Verkündigung, dafs ihr ein Schwert durch die Seele gehen werde, am Kreuze des Sohnes erfüllt worden war, wählten diese Schaaren sich be

6) Welche heftige Aeufserungen schon zu jener Zeit gegen den Römi. schen Stuhl und den Clerus überhaupt erschienen, weifs man. Johann Wolf aus Bergzabern liefert in seinem Buche: Lectiones memorabiles, viele Beispiele hiervon. Alle mystische Parteien in den Jahrhunderten des Mittelalters waren mehr oder weniger gegen den Clerus und die bestehende Kirche gesinnt. Siehe Joh. von Müllers Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft an vielen Stellen, namentlich Th. 2. S. 118 ff. Leipziger Ausgabe 1806 (Neue Aufl. 1825), S. 393 399. 582 588. Th. 3. S. 220 ff. Th. 4. S. 232 ff. Vergl. auch Schröckhs Christliche Kirchengeschichte, Th. 33. S. 451. Wie die Häupter der Italienischen Poesie, Dante, Petrarca und Boccaccio, sich oft gegen den Papst geäufsert haben, weifs Jeder.

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7) Man kennt die Streitigkeiten, welche bald nach der Entstehung der Franciscaner in dem Orden selbst ausbrachen. Die Anhänger der strengern Die Gegenpartei wurde in der Regel Siche Spittlers Kirchengeschichte,

Observanz hiefsen Spiritualen.

von den Päpsten begünstiget. Ausg. von Planck, S. 328 ff.

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8) So unter Andern Jacobus de Benedictis oder Jacopone da Todi, der Verfasser der Sequenz: Stabat mater dolorosa. Siehe meine Kirchen- und literarhistorischen Studien und Mittheilungen, H. 2, S. 407 ff.

9) So noch der wegen seines Rufes der Heiligkeit bekannte Dominicaner in Arragonien, Vincentius Ferrerius, welchen Gerson auf andere Gedanken zu bringen suchte. Förstemann S. 149 ff. Ueber Vincentius Ferrer habe ich jüngst in einer Katholischen theologischen Zeitschrift eine interessante Abhandlung gefunden, die ich jetzt aber nicht genauer angeben kann. Vergl. jedoch Vinc. Ferrer, nach seinem Leben und Wirken dargestellt von Ludwig Heller, Berlin 1830. 8.

sonders zur Schutzheiligen und Patronin 10); auch wurde der
Drachenbesieger, der heilige Michael, nicht vergessen. Da
diese Züge allem Bestehenden den Untergang droheten, so
mufsten sie sowohl die weltliche als die geistliche Macht
gegen sich wecken: die erstere besonders deshalb, weil
jede bürgerliche Ordnung durch diese Schaaren zu Grunde
gerichtet wurde; die letztere,,, weil ihr nicht weniger der
entging, welcher mit Kasteiungen den Himmel ohne sie
verdienen wollte, als der, welcher aus Verachtung dieses
vergänglichen Körpers weder das Gute noch das Böse, wozu
er gebraucht wird, für betrachtungswürdig hielt 11)." Denn
so wie der Einsiedler in seiner von der Welt entlegenen
Zelle dem Stolze den Zugang nicht verschliefst, so gaben
auch diese Schaaren, indem sie den Körper misshandelten,
nicht selten andern Sinnesbegierden und Wollüsten sich desto
zügelloser hin. Deshalb ergingen zu verschiedenen Malen
Gesetze, Bannflüche und Verfolgungen gegen sie, welche
Vielen unter ihnen den Tod brachten 12). Doch der Stoff
der Krankheit mufste erst aufhören, bevor alle diese Mittel
ihre Kraft bewiesen; und deshalb finden wir auch, dafs erst
in der ersten Hälfte des funfzehnten Jahrhunderts dem Un-
wesen mit Erfolg entgegen gearbeitet werden konnte 13), und-

10) Man sehe die Lieder bei Königshoven, wenn man auch noch
nicht an den Gebrauch, den die Albati von dem Stabat mater dolorosa
machten, denken will,

11) Johannes von Müllers Geschichten Schweizerischer Eidge-
nossenschaft, Th. 2. S. 394. Auch Raumers Geschichte der Hohen-
staufen ist für die Geschichte der Geifslergesellschaften nicht zu über-

sehen.

12) Siehe Schröckhs Kirchengeschichte, Th. 23. S. 135 ff.
und Th. 33. S. 447. Papst Clemens VI, erliefs auf Kaiser Carls IV.
Ermunterung eine scharfe Bulle gegen sie, die man bei Schöttgen p. 83
sqq. lesen mag. Die Bulle ist merkwürdig wegen der Vorwürfe, welche
der Papst diesen Schaaren macht. In Frankreich fanden diese Schaaren
an König Philipp VI, einen grofsen Gegner; in Italien widersetzte sich
denen der ersten Periode besonders Manfred, der Hohenstaufe. Vergl.
Förstemann S. 91 ff. Ein Auszug aus der Päpstlichen Verdanımungs-
bulle steht S. 97 ff.

13) Das Concilium zu Constanz machte es sich zu einer eigenen Auf-

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auch damals geschah dieses noch nicht völlig; denn unter veränderten Namen und Gestalten währten diese Züge und Verbrüderungen fort bis gegen das Ende des fanfzehnten Jahrhunderts, ja gewissermafsen bis zu dem Zeitalter der Reformation 14).

Eine dreifache Periode ist in der Geschichte dieser Bufsverbrüderungen anzunehmen; es unterscheiden jedoch die Züge, welche die dritte Periode uns kennen lehrt, sich so wesentlich von denen der ersten und zweiten, dafs diejeniGeschichtsforscher nicht Unrecht zu haben scheinen, gen welche die Büfsenden dieser Periode von den früheren Flagellanten ganz unterscheiden, wiewohl nicht geleugnet werden kann, dafs die Schilderung, welche uns ein Italienischer Chronikant von dem Auftreten der Geifsler in Italien um 1260 hinterlassen hat, mit dem, was wir durch Georg Stella 15),

gabe, diesen herumschweifenden Geisslern ihr Handwerk zu legen, und besonders gab der berühmte Kanzler Johann Gerson sich viele Mühe. Beim Jahre 1411 wird der Flagellanten in den Annal. Isenac. bei Christ. Franz Paulini Rerum et Antiquitatum Germanicarum Syntagma, Francof. ad Moen. 1698. p. 108., so wie bei eben dem Jahre in dem Chronic. Huxar. eben daselbst p. 118. gedacht, und um 1414 kommen sie in des Gobelinus Persona Cosmodromium bei Heinrich Meibom in den Scriptt. Rerum Germanic. Helmst. 1688. T. I. p. 336. vor, WO sich auch Vieles von ihren eigenthümlichen Lehren findet. Um 1454 trieben sie ihr Wesen noch besonders in Thüringen, und zu Sangerhausen wurden an einem Tage 22 von ihnen beiderlei Geschlechts verbrannt. Chronic. Magdeb., ibid. T. II. p. 362. Auch von Verfolgungen gegen sie zu Nordhausen und im Anhaltischen haben wir noch umständliche Nachrichten. Siehe Förstemann S. 163 ft.

14) Die Begharden, Beguinen, Lollharden und andere Secten und Verbrüderungen des 15ten Jahrhunderts, die, wenn auch nicht immer als eigentliche Geifsler, so doch als religiöse Schwärmer und Schwärmerinnen bettelnd umberzogen, gehören mehr oder weniger auch in diese Classe. Felix Hemmerlin hat bekanntlich mehrere Bücher gegen sie geschrieben. Vergl. Joh. v. Müller a. a. O. Th. 2. S. 584 ff. und besondeas Th. 4. S. 276 ff, und Kasimir Walchners Abhandlung: Felix Maleollus, sein Leben und seine Schriften, in den Schriften der Gesellschaft für Beförderung der Geschichtskunde zu Freiburg im Breisgau. B. I. (1828.) S. 137 ff.

15) Georgii Stellae Annales Genuenses bei Muratori, Scripto

Antonius von Florenz 16) und Andere 17) von den spätern Büfsern in der Mitte und am Schlusse des 14ten Jahrhunderts wissen, der Sache nach übereinstimmt 18). Man muss auch bei den Geschichten dieser verschiedenen Perioden den weniger tadelnswürdigen Anfang nicht mit den Auswüchsen, die sich bald einfanden, verwechseln.

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Die erste Periode datirt sich vom Jahre 126019) und geht das ganze 13te Jahrhundert hindurch bis in das 14te hinein 20). In Italien war der Ursprung dieser Geisler

res Rerum Italicarum, Vol. XVII. p. 1170 sqq. Siehe meine Kirchenund literarhistorischen Studien und Mittheilungen, H. 2. S. 413. Stella starb als Genuesischer Kanzler um 1420.

16) Antonii oder Antonini Florentini Summa historialis, T. III. Tit. XXII. Cap. 3. (Ed. Lugd. 1512. fol.) ad. ann. 1389, S. Kirchenund literarhistorische Studien und Mittheilungen, H. 2. S. 412. Antonius starb als Erzbischof von Florenz im Jahre 1459. Er war in seiner Jugend ein Augenzeuge jener Umzüge gewesen.

17) Namentlich Luca di Bartolomeo zu Pistoja und Leonardo von Arezzo. Der Letztere war Secretair der Republik Florenz und ein Freund von Pius II., der in seinen Briefen auch seines Todes gedenkt. Siehe Kirchen- und literarhistorische Studien und Mittheilungen, S. 414. Vergl. unten den vierten Anhang, S. 269 fg.

18) Siehe die Schilderung in des Monachi Paduani Chronicon, Lib. III. p. 612 sq. in Urstisii Germ. Historicor. illustr. T. I., übersetzt bei Schröckh in der Kirchengeschichte, Th. 28. S. 131 f. Schon Schöttgen giebt zu erkennen, dass die spätern Albati oder Fratres in albis wohl eine ganz andere Secte seyen. Ganz bestimmt sondert sie aber Schnurrer in seiner Chronik der Seuchen von den frühern Flagellanten. Wenn man die von mir gemachte Beschränkung nur nicht übersieht, so kann man die Geschichte der frühern Flagellanten und der spätern Albaten sehr füglich als die Geschichte einer und derselben Erscheinung betrachten und abhandeln.

19) Königshoven nennt S. 301 freilich schon das Jahr 1241; aber Schnurrer beschuldiget S. 291 ihn eines Irrthums, weil der Monachus Paduanus bei Urstisius das Jahr 1260 nenne, und auch Förstemann vermuthete schon früher, dafs statt 1241 gelesen werden müsse 1261. Diese Vermuthung wird durch das Autographum Königshovens. zu Strafsburg, welches MCCLXI hat, bestätiget. Förstemann, S. 51.

20) 1341 in Chron. Comit. Schawenb. ap. Meibom. T. I. p. 516.: Flagellarii sive gens sine capite. Detmar von Lübeck nennt die mittlern Geifsler, die in der Mitte des 14ten Jehrhunderts auftraten, die Hist. theol. Zeitschr. III. 2.

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