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Siebentes Kapitel.

Die Bildungsmittel und das Lehrprogramm der gallischen Kloster- und Episkopalschulen.

In sachgemässem Zusammenhange mit dem über die Episkopalund Klosterschulen Gesagten wenden wir uns nun zu dem Unterrichtsprogramm derselben, sowie zu den Lehrmitteln, deren man sich in den Schulen bediente. Diese Untersuchung muss notwendig an die Erörterung über den Einfluss anknüpfen, welcher von einigen Männern ausging, die zwar nicht gallischer Abkunft sind, aber nichtsdestoweniger auf die Studien dieses Landes, sowie überhaupt auf die Geistespflege im Mittelalter bestimmend eingewirkt haben. Es sind dies Martianus Minucius (oder Mineus) Felix Capella, Boëthius, Magnus Aurelianus Cassiodorius und Isidor von Sevilla.

Martianus Capella, zu Madaura in Nordafrika geboren, wo St. Augustin die Grammatikschule besucht hat, lebte in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts als Lehrer der Rhetorik teils in Carthago, teils in Rom. In Carthago schrieb er vor Einnahme dieser Stadt durch die Vandalen (439) in einer gedunsenen, verdorbenen Sprache eine Encyclopädie der sieben freien Künste unter dem Titel >> Satiricon oder Satira«<, wobei er bald die Prosa, bald die Poesie zu Hilfe nahm. Die Grundlage für Capellas Werk boten die »9 Bücher Disziplinen«< (IX libri disciplinarum) des Terentius Varro, welcher sich darin über Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie, Musik, Medizin und Architektur verbreitete. Ausser Varro benützte Capella höchst wahrscheinlich noch das ähnliche, aber formell wie inhaltlich höher stehende Werk St. Augustins: »Principia dialecticae.<< Unter dem Gewande der Allegorie treten bei Capella die einzelnen Wissenschaften auf, die Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, und tragen den Inhalt ihrer Lehren vor. Aber alle Gelehrsamkeit wiegt ohne Beredsamkeit nichts, darum bietet Mercur, der Gott der letzteren, jener die Hand an, und unter fest

licher Beteiligung des ganzen Olymps wird die Hochzeit abgehalten, wesshalb Capella die beiden ersten Bücher seines auf neun solcher abgeteilten Sammelwerks »De nuptiis Philologiae et Mercurii«< überschrieben hat. Doch würde man sich täuschen, wollte man des afrikanischen Rhetors wunderliches und phantastisch aufgeputztes Buch für ein den Bedürfnissen von Anfängern Rechnung tragendes Unterrichtsmittel betrachten. Dazu war sein Inhalt zu schwer. Nur jene Leser, welche bereits mit einem ordentlichen Vorrate philologischer, mythologischer und litterar-historischer Kenntnisse ausgerüstet waren, konnten es mit Nutzen gebrauchen, daher es auch in der Regel erst von solchen Schülern benützt wurde, welche in Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das heisst, in den Fächern des Triviums bewandert waren. Capellas Buch wurde vielfach commentiert, um das Verständnis desselben zu erleichtern.

Während des ganzen Mittelalters galt dies Werk als die inhaltliche Zusammenfassung alles damaligen Schulwissens. In Gallien wurde es eingeführt durch den christlichen Rhetor Securus Memor Felix, der zu Clermont lehrte und wegen seiner Verdienste und Gelehrsamkeit zum Staatsrate ernannt wurde. Er wurde in Rom, wo er ebenfalls Rhetorik docierte, mit Capellas Werk bekannt, dessen Text er mit Beihilfe eines seiner besten Schüler, des Grammatikers Deuterius von Pisa, den er selbst Scholasticus (Magister, Doktor) betitelt, verbesserte. Capella errang sich in Gallien rasch grosse Verbreitung und Beliebtheit, so dass Gregor von Tours ihn »>unseren Martianus<< nennen konnte, der in der Grammatik lesen, in der Dialektik Streitsätze verteidigen, in der Rhetorik die Metra und Einteilung finden, in der Geometrie das Mass der Erde und der Linien zusammensetzen, in der Astrologie den Lauf der Sterne, in der Arithmetik die Zahlen zusammenstellen, in der Musik durch die Biegungen der Töne sanfte Liebesworte lehre 1.

Neben Martianus Capella steht als zweites, grosses Bindungsglied zwischen dem untergehenden römischen und dem entstehenden europäischen Bildungswesen 2 Anicius Manlius Severinus Boëthius, Philosoph und Rhetor, geboren um 480 zu Rom, und Magister officiorum am Hofe Theodorichs des Grossen. Während Capella sein Wissen mit dem Regenbogenglanze der buntgestaltenden Phantasie umgibt, ist Boëthius der nüchterne, ruhig erwägende Denker. Achtzehn Jahre lang hatte er in Athen die Philosophie

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2 Stein, Innere Verwaltung (das Bildungswesen) 1. T. S. 372. Denk, Gallo-Fränkisches Unterrichts- u. Bildungswesen.

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und Litteratur der Griechen studiert, so dass er wie kein Zweiter geeignet war, die lateinische Welt mit den Geistesschöpfungen der Griechen bekannt zu machen. Er übertrug die über Logik handelnden Schriften des Aristoteles (»De syllogismo categorico de syllogismo hypothetico de divisione de definitione«) sowie die >>Isagoge« des Porphyrius († 304), der auch eine Einleitung zum aristotelischen »Organon« geschrieben, ins Lateinische und lieferte Commentare dazu, sowie auch zu Ciceros >>Topica«. Die spätere Scholastik schuldet Boëthius den gesamten Vorrat ihrer Rüstkammer. Für das mittelalterliche Unterrichtswesen wurde er von besonderer Bedeutung durch seine zwei Bücher »De Arithmetica«, seine fünf Bücher >> De Geometria« und seine fünf Bücher »De Musica«, welch letzteres Werk aber, eine freie Bearbeitung einschlägiger Schriften des im 2. Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung lebenden arabischen Neupythagoräers Nik omachus aus Gerasa, die Musik nicht, wie Donatus gethan, zum Bestandteil der Sprachwissenschaft stempelt, sondern als eine ganz selbständige Disziplin betrachtet. Boëthius begründete zuerst auch den Namen des Quadriviums und die innere Verbindung aller dazu gehörigen Wissenschaften1, so dass man ihm eigentlich den Ausbau jener Encyclopädie dankt, welche in der Form des Triviums (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) den gesamten Bildungsinhalt des Mittelalters birgt.

Unzertrennlich verbunden mit der mittelalterlichen Pädagogik und eigentlich ihr Schöpfer ist der Zeitgenosse des Boëthius, der berühmte Minister Theodorichs des Grossen, Magnus Aurelianus Senator Cassiodorius. Wahrscheinlich wurde er um 468 n. Chr. zu Scyllacium (Squillace in Calabrien) geboren und zwar aus einem alten, berühmten Geschlechte. Seine hohe Begabung, sein eminentes juristisches Wissen und seine sonstige Gelehrsamkeit erwarben ihm die Gunst des mächtigen Gothenkönigs, der ihn mit den höchsten Würden auszeichnete. Nach der Niederlage der Gothen durch Belisar entschloss sich Cassiodorius, der Welt zu entsagen, und er zog sich 538 in das von ihm gegründete Kloster Vivarium (Monasterium Vivariense oder Castellense wegen seiner Lage auf dem Berge Castellum) in Bruttien zurück, dem er als Abt bis zu seinem nach 562 erfolgten Tode vorstand.

Damals hatte das grosse Werk des heil. Benedikt von

1 Boëthii, De arithmet. I. 1.

Cramer, Gesch. der Erziehung u. des Unterrichts in den Niederlanden, S. 14. 15.

Nursia, die Stiftung seines für das Abendland so bedeutungsvollen Ordens, bereits den erfreulichsten Bestand gewonnen. Er hatte 529 auf dem Berge Cassino in Campanien anstelle eines von ihm zerstörten Apollotempels eine Zufluchtstätte für Weltmüde errichtet. Sein Kloster sollte vor allem eine Schule des göttlichen Dienstes sein 1. Ehe er dieses Kloster ins Leben rief, hatte er zu Subiaco als Einsiedler gelebt und viele Kinder unterrichtet, welche ihm vornehme Römerfamilien übergeben hatten 2. Unter denselben war seit 523 Maurus, der zwölfjährige Sohn des Senators Eutychius oder Aequitius, und St. Benedikts Lieblingsschüler, der später nach Gallien die Regel seines heiligen Meisters brachte (543) und dort das erste Benediktinerkloster, die berühmte Abtei Glanfeuil in Anjou, nachmals St. Maure-sur-Soire, errichtete, als dessen Vorsteher er starb (584), nachdem er für Erziehung und Unterricht ungemein eifrig gewirkt und zahlreiche Schüler gebildet hatte3. Vielleicht rührt seit Maurus das rege Interesse her, welches namentlich die Oberhirten der Kirche von Orleans, in welcher Diözese Glanfeuil gelegen, im Mittelalter für die Bildung der Jugend nährten, wie Leidrard, Jonas, Theodulf; denn gerade im Sprengel des Bischofs von Orleans findet man im 8. Jahrhunderte verhältnismässig eine grosse Anzahl von Schulen und überhaupt, wenigstens bis zu Ende des 13. Jahrhunderts, den grössten Eifer für die klassischen Studien 4.

Erst als St. Benedikt den Unterricht und die Erziehung von Kindern unternommen hatte, ging er an sein grosses Werk der Ordensgründung. Als Abt von Monte Cassino verfasste er die zu weltgeschichtlicher Bedeutung gelangte Regel, wovon er ein ganzes Capitel der Aufnahme von Oblaten widmet 5. Zwar hat der Ordensstifter mit seiner Regel nur die nächstliegenden Zwecke des Mönchslebens im Auge und die weltliche Gelehrsamkeit berührte ihn nicht. Nur die geistliche Lesung und lediglich solche Bücher, wie die heilige Schrift, Cassians und ähnliche Schriften über das Mönchsleben, die der Reihe nach ganz durchgelesen werden mussten, wollte er in den Händen seiner Jünger wissen. Im Geiste dieser strengen Observanz forderten das ganze Mittelalter hindurch Ordensleute den Verzicht des Mönchs auf gelehrte profane Bildung, einge

2 Gregor Magn. Dial. 11. 3.

1 S. Bened. Regula (prolog.)
3 Mabillon, Annales Bened. I. p. 116. 122. 630 squ. (Append.)

4 Cramer, a. a. O. S. 21. 22.

6 S. Bened. Regula c. 48.

5 Regula S. Bened. c. 59.

denk des Wortes St. Hieronymus': Nicht die Pflicht eines Gelehrten, sondern eines Trauernden hat ein Mönch1.

Aber schon die Zeitgenossen St. Benedikts haben die erziehliche und unterrichtliche Bedeutung seines Ordens erkannt, und nachdem er selbst zu Subiaco und Cassino lehrend thätig gewesen, überdies in drei Capiteln seiner Regel zum Pädagogen wird, war hiemit eine der wichtigsten Bestimmungen der neuen Stiftung in sichere Form gebracht 2.

Niemand aber hat diese Bestimmung in ihrer innersten Tragweite sicherer erfasst und besser gewürdigt als Cassiodorius. Schon längst hatte er sich, wie er in der Vorrede seiner zwei Bücher >>Institutiones divinarum et saecularium litterarum« sagt, mit dem Gedanken getragen, nach dem Muster der zu Alexandrien und Nisibis bestehenden Schulen in Rom eine ähnliche Anstalt zu schaffen; aber die schweren Zeitläufe und insbesondere die in Italien tobenden Kriegsstürme hatten die Ausführung des schönen Gedanken stets zurückgedrängt. >>Weil aber,<< so schreibt Cassiodor an seine Mönche, »die Sache des Friedens in den unruhigen Zeiten keine Stelle findet, glaube ich mich durch die göttliche Barmherzigkeit dazu veranlasst, euch anstatt eines Lehrers mit Gottes Beistand jene belehrenden Bücher selbst zu geben, durch welche, hoffe ich, eine Reihe heiliger Bücher und das zum Dienste Gottes notwendigste der weltlichen Wissenschaften gereicht werde.<<

Die >> Institutiones« zerfallen nach der Anzahl der Lebensjahre des Erlösers in 33 Bücher. Der goldene Faden, der sich durch dieses Werk voll hoher, edler Gesinnung schlingt, ist der fortwährende Hinweis auf das Studium der kirchlichen und weltlichen Wissenschaften. Cassiodor bittet seine Mönche, beständig und fleissig zu lesen; er zählt die Bücher auf, welche sie lesen sollen 3. Um ihnen das Studium zu erleichtern, unternimmt er die Abfassung einer methodischen Compilation der profanen Unterrichtsrichtswerke, indem er die Rhetorik nach Cicero und Quintilian, die Dialektik nach Aristoteles und Porphyrius, wie sie Boëthius ins Lateinische übersetzte, die Arithmetik nach Nikomachus, die Musik nach Gaudentius, Astronomie und Geometrie nach Boëthius

1 Hieronym. Contra Vigilant. 15. Ähnlich auch St. Bernhard epist. 365 ed. Mabill. (Paris 1839) I. p. 666.

2 Regul. S. Bened. c. 30. 37. 49. P. Braunmüller, Über den universellen Charakter des Benediktinerordens. Wissenschaft. Studien und Mitteilungen aus dem Benediktinerorden 1. Jahrg. S. 49.

3 Cassiod., Opera omnia ed. Garetti, (Rotomagi 1679) pag. 538. 550. 553,

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