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Juristen nicht bloss der Republik, sondern sogar noch der Kaiserzeit völlig fremd. Es lässt sich fragen, wie es sogar mit unseren Codices juris civilis aussehen würde, wenn uns Justinians Corpus juris nicht erhalten worden wäre, da es nachträglich sich doch herausstellt, dass auch wir zu früh codificirt hatten.

Der Bericht des Pomponius über die Rechtsentwicklung der ältesten Zeit.

S. 13. Ich habe schon oben bemerkt, dass den späteren römischen Juristen die Kenntniss des alten staatsrechtlichen Institutes der Interpretation abhanden gekommen war, und dass dieses Abhandenkommen ihnen die Einsicht in die Natur der ältesten Actionen erschwerte. Die Zweifel der späteren Juristen über den Bezeichnungsgrund der legis actiones und ihre Natur habe ich oben darauf zurückgeführt. Einen weiteren Beleg für meine Behauptung finde ich bei Gaius IV. 30:,,Sed istae omnes legis actiones paulatim in odium venerunt; namque ex nimia subtilitate veterum, qui tunc jura condiderunt, eo res perducta est, ut vel qui minimum errasset litem perderet," wofür Gaius das oben besprochene Beispiel der actio de arboribus succisis anführt. Der Grund, welchen Gaius hier für die Beseitigung der Legis actiones angibt, verräth ein völliges Verkennen der Natur der legis actio, weil es selbstverständlich ist, dass, wenn ihre Worte Gesetzes worte waren, sie zu ändern, ausser dem Gesetzgeber, Niemand die Macht hatte. Dazu kommt noch, dass die Lex XII tab. das Grundgesetz des römischen Volkes war, die Actionen aber in diesem Grundgesetz wurzelten. Dass der Wortlaut dieser Actionen strenge gefordert wurde, ist gerade ein sehr sprechender Beweis für die richtige Auffassung dieser Actionen durch die älteren Juristen. Wer wird heutzutage am strengen Formalismus unseres gesetzlichen Wechselrechtes Anstoss nehmen, und die Fälle registriren, in welchen die nimia subtilitas zur Sachfälligkeit führt. Sind doch sogar aus dem Gebiete des materiellen Civilrechts Beispiele vorhanden, die sich als solche nimia subtilitas qualificiren liessen, z. B. das Versetzen eines Unterscheidungszeichens durch ein besondres Gesetz. Dass diejenigen, welche die nimia subtilitas an der legis actio tadelten, mit ihrem Tadel nicht die legis actio als solche, sondern das streng formelle Princip dieses Processes trafen, welches im s. g. Formularprocess so gut wie früher fortbestand 1), das folgt daraus, dass der nämliche Tadel

1) Vgl. Ihering, Geist II, 2. S. 626, 628.

in der Zeit, in welcher man auch die Wesenheit des Formularprocesses nicht mehr kannte, auch diesen früher gerühmten Process traf 2).

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Wie nun aus der Unkenntniss des staatsrechtlichen Institutes der Interpretation das Missverständniss der legis actio und des Verfahrens derjenigen entsprang, welche sie handhabten, so beginnt auch die Verwirrung des Textes und der Widerspruch der Darlegung im Titulus de origine juris gerade an der Stelle, wo zuerst das staatsrechtliche Institut der Interpretation erwähnt wird, nämlich im §. 5. Die verschiedenen Lesearten der Handschriften und Herausgeber sind bei Sanio 3) zusammengestellt, den Text des §. 5 aber gibt Mommsen 4) so: His legibus latis coepit (ut naturaliter evenire solet, ut interpretatio desideraret prudentium auctoritatem) necessariam esse disputatione fori. Zu erwähnen ist, dass Mommsen in der Note die Leseart „disputationem" mit einem Fragezeichen anführt und dass die Einschaltung ihm angehört. Aus Gründen, die ich alsogleich angeben werde, glaube ich diese Stelle so lesen zu müssen: His legibus latis coepit, ut naturaliter evenire solet, interpretatio desiderare prudentium auctoritatem necessariamque disputationem fori.

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Das erste ,,ut" leitet einen parenthetischen Satz ein und hat somit die gewöhnliche Bedeutung,,wie", so dass dieser Satz sich auf die Worte: ut naturaliter evenire solet, beschränkt. Von diesem parenthetischen Satz kann also syntactisch nichts weiteres abhängen. Das zweite „ut" aber lässt sich weder mit ,,coepit" verbinden, weil die Möglichkeit einer solchen Construction erst nachzuweisen wäre, bisher ist sie sowohl vom Standpunkt der lateinischen als der griechischen Grammatik unbekannt noch kann es zu evenire gehören, weil wie bemerkt, der Satz: ut - evenire solet" ein parenthetischer ist. Es bleibt also nichts andres übrig, als dieses zweite „ut“ für ein störendes Einschiebsel zu halten, zu dem sich eine unberufene Hand durch das vorausgehende evenire verleiten liess, weil in Fällen, wo von evenire solet wirklich ein Satz abhängig wird, ein Folgesatz mit ut eingeleitet wird. Lässt man nun dieses ,,ut" weg, so muss an die Stelle des von ihm abhängig gemachten

2) L. 1. C. de form. sublat. (2, 57) (342): juris formulae aucupatione syllabarum insidiantes. L. 15. C. de testam. (6, 23) (339): quoniam indignum est ob inanem observationem. L. 9. C. qui admitti ad B. Poss. p. (6, 9): verborum inanium observationem excludimus captiones. L. 17. C. de jure delib. (6, 30) (407): Actionum scrupulosam solennitatem amputari decernimus. Ihering, Geist II. 2 S. 456 Note 647.

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Imperfectum,,desideraret" ein von coepit abhängiger Infinitiv desiderare treten, dann aber erhält dieser Satz nicht nur seine der lateinischen Sprache entsprechende Construction, sondern auch seinen Sinn wieder: His legibus latis coepit interpretatio desiderare. Das Object des Verbums desiderare enthalten die Accusative: auctoritatem necessariamque disputationem fori. Das Referat über diese bekanntlich schon in der Ausgabe des Corpus juris von Beck aufgenommenen Leseart findet sich bei Sanio a. a. O.

Was nun die Uebersetzung und Auslegung dieser Stelle in der von mir angenommenen Fassung betrifft, so ist es vorerst bekannt, dass der parenthetische Satz, ut naturaliter evenire solet, sich auch adverbiell mit natürlich, selbstverständlich" wiedergeben lässt. Weiter heisst ,,aliquid desiderare" etwas ,,vermissen", folglich auch etwas als eigenes Bedürfniss empfinden". Weil ferner hier der interpretatio eine Thätigkeit zugeschrieben wird, welche als solche sonst nur belebten Wesen zukommt, so liegt auch hier jener gewöhnliche Sprachgebrauch der späteren Zeiten vor, wonach statt eines Concretum ein Abstractum als Personification gesetzt wird, wesshalb hier das Abstractum ,,interpretatio" durch das Concretum,,interpretes" auszulegen ist. Der erste Satz des §. 5 gibt also in dieser Fassung und nach dieser Auslegung den ganz entsprechenden Sinn:,,Nachdem die Zwölftafelgesetze gegeben worden waren, fingen ihre Interpretes an, die auctoritas der prudentes und die disputatio fori als ihr eigenes Bedürfniss zu empfinden", womit nur gesagt wird, dass die Interpretes der Zwölftafelgesetze bei ihrer Thätigkeit natürlich bald auch die auctoritas prudentium und die disputatio fori zu berücksichtigen anfingen. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, dass die necessaria fori disputatio nichts anderes ist als ,,die bei der gerichtlichen Praxis unvermeidliche Erörterung concreter Fälle", wie auch unter der auctoritas der prudentes dieser Zeit nur die Rechtsüberzeugungen der ,,Gebildeten“ verstanden werden können, weil prudens bekanntlich auch diese allgemeine Bedeutung hat. Auf das in dieser Stelle Gesagte muss die Angabe gefolgt sein, dass die Interpretation den Pontifices zustand, und dass diese auch die legis actiones aus den Zwölftafelgesetzen componirt hatten. Auf das, was wir jetzt im §. 5 als ersten Satz lesen, muss sich bei Varro das unmittelbar angeschlossen haben, was uns jetzt im §. 6 angedeutet, aber, wie ich schon gezeigt habe, ebenfalls durch Einschiebung der Worte,,scientia interpretandi statt,,interpretatio" entstellt ist. Dafür ist nun im §. 5 als zweiter Satz eine Bemerkung eingeschoben, welche deutlich zeigt, dass sie Varro gewiss nicht angehört. Ich finde es nicht einmal wahrschein

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lich, dass diese Bemerkung Pomponius gemacht hatte, sondern dass sie von den Compilatoren Justinians herrührt. Während nämlich in dem, was vorangeht und folgt, der Ton der Erzählung eingehalten ist, wie sich das älteste römische Civilrecht entwickelt hatte, spricht das Einschiebsel des §. 5 auf einmal die Sprache der Gegenwart, und verräth dadurch, dass das darin Gesagte nicht der Vergangenheit, sondern jener Zeit angehört, in welcher der Urheber dieses Einschiebsels lebte: Haec disputatio et hoc jus, quod sine scripto venit compositum a prudentibus, propria aliqua parte non appellatur, ut ceterae partes juris suis nominibus designantur, sed communi nomine appellatur jus civile. Man beachte die Ausdrücke,,venit compositum, designatur, appellatur". Varro entnahm seine Angaben den Schriften des Sextus Aelius, dieser aber gebrauchte für das, was hier mit Anklang an den sehr späten Gegensatz von jus (wissenschaftliches Recht), und leges (Constitutionen der Kaiser) jus civile genannt wird, die technische Bezeichnung „,interpretatio". Varro konnte also gar nicht sagen: propria aliqua parte non appellatur. Ja auch Pomponius konnte nicht so gesprochen haben, wie dies der §. 38 zeigt. Noch mehr; im zweiten Satze des §. 5 wird plötzlich der Begriff der Interpretatio ein anderer; er hört auf das zu sein, was er früher war, ein für das Concretum gesetztes Abstractum, sondern es wird da die Interpretatio sogar mit dem identificirt, was vorher ein Object des desiderare war, nämlich mit der auctoritas prudentum und der disputatio fori. Dass aber dies ein Irrthum ist, welcher Varro gewiss nicht, wahrscheinlich aber auch nicht Pomponius angehört, das folgt aus dem, was im §. 47 vom Kaiser Augustus erzählt wird und wahrscheinlich dieses Einschiebsel veranlasste: Ante tempora Augusti publice respondendi jus non a principibus dabatur, sed qui fiduciam habebant, consulentibus respondebant. Neque responsa utique signata dabant, sed plerumque judicibus ipsi scribebant, aut testabantur, qui illos consulebant. Primus divus Augustus, ut major juris auctoritas haberetur, constituit, ut ex auctoritate ejus responderent, et ex illo tempore peti hoc pro beneficio coepit. vgl. Gaius I, 7. Das jus respondendi, von welchem diese Stelle spricht, ist ein sehr beschränktes jus interpretandi, wie dasselbe bei der bedeutenden Entwicklung des Civilrechts zur Zeit des Kaisers Augustus nicht anders sein konnte. Dieses jus interpretandi wird in unserer Stelle als ein auf der Auctorität des Princeps, also auf der publica auctoritas beruhendes bezeichnet und jener Interpretatio entgegengesetzt, welche in früherer Zeit thätig war, aber nur auf der privaten auctoritas der damaligen juris consulti beruhte. Die

auctoritas dieser privaten juris consulti ist aber eben jene auctoritas. prudentium, welche im zweiten Satz des §. 5 mit der Interpretatio der XII Tafelgesetze identificirt wird, folglich haben der zweite Satz des §. 5 und der §. 47 einen inneren Zusammenhang, weil im letzteren gesagt wird, dass vor Kaiser August keine auf der publica auctoritas beruhende Interpretation, sondern nur eine Interpretation privater Juristen bestand, welche keinen besonderen technischen Namen hatte, und nur mit dem Namen,jus civile" bezeichnet wurde. Weil aber im zweiten Satze des §. 5 die disputatio fori und die auctoritas prudentium mit dem jus civile identificirt werden, und die Pontifices doch nicht als „,disputantes in foro" betrachtet werden können, so sind unter den prudentes dieser Stelle nicht die Pontifices, sondern andre juristische Celebritäten ohne auctoritas publica zu verstehen. Damit aber ist deutlich ausgesprochen, dass im zweiten Satze des §. 5 die wissenschaftliche Jurisprudenz, welche erst in der letzten Periode des republ. Civilrechts massgebend wurde, schon in die Zeit der Decemviralgesetzgebung versetzt wird. Nach dem Urheber des zweiten Satzes des §. 5 hatten die Pontifices in dieser Zeit auf die Rechtsentwicklung keinen entscheidenden Einfluss ausgeübt, sondern vielmehr die juristischen Celebritäten des Privatlebens und die disputatio fori; nach dem darauf folgenden S. 6 hingegen sind die Pontifices mit dem jus interpretandi betraut, die Gesetzgeber des Civilprocesses, und der Delegirte des Pontifical-Collegiums führt sogar die Vorstandschaft in den Civilgerichten. Die Stellung der Pontifices war aber den späteren Juristen nur aus Varros Schriften bekannt (Sanio a. a. O.), wesshalb das im §. 6 Gesagte vollkommen glaubwürdig ist. Da nun der zweite Satz des §. 5 mit §. 6 in einem directen Widerspruch steht, und eine Erscheinung des römischen Lebens der späteren Zeit irrthümlich in die Zeit der Decemviralgesetzgebung versetzt wird, so vermag ich diesem zweiten Theile des §. 5 keinen Glauben zu schenken. Es liegt aber sogar die Quelle des Irrthums nahe. Die Nachricht des §. 47 begünstigt die Annahme, dass es vor Kaiser Augustus keine auf der auctoritas publica beruhende Interpretation gab. Aus dieser Annahme musste nun gefolgert werden, dass früher die Rechtsentwicklung der Jurisprudenz der Privaten gerade so überlassen war, wie später jener der autorisirten Juristen. Diese Ansicht, welche das römische Civilrecht dem Zufalle überlässt, ist ganz geeignet, die Ursachen der Vollendung dieses Rechtes zu verdecken, indem sie seine organische Entwicklung völlig unbegreiflich macht. Die obersten Grundgesetze waren eben erst aufgestellt worden: nun soll die Durchführung derselben nicht dem besonderen, dazu. au

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