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Anthemias Lieblingsplat war eine Altarruine des dortigen Apollotempels. Das war der Rest des höchst denkwürdigen Altars, der ganz und gar aus Stierhörnern, den Symbolen des göttliches Lichts, gebildet war. Kaum konnte für ein Danaergemüt auf der jeßt so nackten Insel ein traulicherer Ort gefunden werden, an dem man, unbehelligt von zudringlichen Menschen, den seligsten Phantasieen an die untergegangene hellenische Götterpracht nachhängen konnte. Noch immer lacht an schönen Tagen der Himmel hier in heiterstem Glanze. Alles ist dann Ruhe und geheimnisvolles Schweigen. Man ist jeden Augenblick gewärtig, Apollon mit seinem musischen Gefolge erscheinen zu sehen, um jeden Augenblick eine neue, wehmutsreiche Enttäuschung zu erleben.

Hier und unter so sonnig lachendem Himmel erscheint es begreiflich, wie der Dichter Kallimachus singen konnte, dies Eiland sei einem blinkenden Sterne gleich vom Himmel herabgefallen.

Die schöne Zeit, in der Anthemia im trauten Bunde mit ihrem so innig geliebten Bruder die Erziehung im elterlichen Hause genoß, mußte, wie alles Schöne, ein Ende nehmen. Wie sehr es sich auch die unermüdlichen Eltern dieses Geschwisterpaares angelegen sein ließen, ihren Kindern durch eigene Betätigung und durch Mithilfe anderer hervor= ragender Lehrkräfte die vielseitigste Ausbildung zu verschaffen: endlich mußte sich dennoch die feste Überzeugung aufdrängen, daß der Sohn hinaus in die Ferne müsse, um mitten unter tüchtig aufstrebenden Altersgenossen einen geordneten Studiengang zu pflegen. Sophron sollte an der Universität zu Athen Philosophie und Mathematik studieren und so mußte seine Trennung von Eltern und Schwester den ersten schweren Trauerklang bilden, der diese friedenvollste Familienharmonie trübte.

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Die Eltern waren nach Sophrons Abreise weit weniger bedrückt und bekümmert als Anthemia, die sich zuzeiten

wie weltverlassen vorkam, so sehr war ihr der innigste Verkehr mit ihrem über alles geliebten Bruder zu einem wahren Himmelselement geworden. Freilich entstand ein lebhafter Briefwechsel zwischen ihnen: allein Anthemia empfand es zu klar, daß auch der regste schriftliche Verkehr im Vergleich zum lebensvollen mündlichen Ideen- und Gefühlsaustausch immerdar etwas Totes an sich trägt.

Bald sollte das Palleukossche Ehepaar eine zweite, noch schmerzlichere Trennung erfahren. Anthemia hatte außerordentliche Fortschritte im Pianofortespiel gemacht. Ihre angeborene Feinfühligkeit, ihr tiefes Kunstempfinden ließen sie die Originalschönheiten der klassischen deutschen Tonmeister sicher herausfühlen. Einen sehr wesentlichen Anteil an der Entwickelung ihres reinen Musikempfindens hatten die deutschen Volkslieder und die Choräle, die ihre Mutter mit unendlicher Rührung und Herzenseinfalt vorzutragen verstand. Das waren Samenkörner in Anthemias lauterer Seele, die späterhin zu wahren Himmelsfrüchten aufblühten.

Unter den klassischen Tonmeistern nahm allmählich Beethoven ihr ganzes volles Herz gefangen. Mit bewundernswerter Hingabe konnte sie den von ihr erfühlten und geahnten poetischen Ideen Beethovenscher Tonschöpfungen nachfinnen; ja sie ward mehr und mehr von einer unstillbaren Sehnsucht nach dem Vaterlande Beethovens und damit nach dem Wunderlande der reinen klassischen Musik ergriffen. Dort allein hoffte sie die Schlüffel zu vielen tondichterischen Rätseln zu finden.

Wie schwer es auch Anthemias Eltern wurde, sich auf so ungewiß lange Zeit von ihrem Augentrost zu trennen, wie bange und wie sorgenvoll ihnen auch zumute ward: sie waren besonnen und vernünftig genug, endlich gern und willig den berechtigten Wunsch ihrer von so vielen Genien gesegneten Tochter zu erfüllen.

Drittes Kapitel.

Eigenartige Entwickelung eines Lebens.

Den vielbewegten Reiz der Welt zu meiden,
Das Einerlei der Einsamkeit zu wählen,
Wird sich's der Mann erlauben, der sich oft
Wohltätiger Zerstreuung übergab,
Wenn unerträgliches, mit Felsenlast
Herbei sich wälzend, ihn bedrohend, schlich.
Goethe: Die natürliche Tochter.
Und Lust und Liebe sind die Fittige
3u großen Taten.

Goethe: Iphigenie auf Tauris.

End Anthemia betrat deutschen Boden, eine Hauptstadt deutschen Musiklebens.

Schnell genug wurde sie im Konservatorium der Gegenstand aufrichtiger Bewunderung. Ihr Wesen hatte etwas derartig Gebietendes und dabei so Freundliches, Herzgewinnendes, daß sie selbst die in Konservatorien mit besonderer Vorliebe hausenden Dämonen des Neides, der Mißgunst und der Nebenbuhlerschaft völlig überwand. Man huldigte nicht allein ihrem hervorragenden musikalischen Ingenium, sondern auch der allbezaubernden Anmut, Hoheit und Liebesfülle ihrer persönlichen Erscheinung.

Unter den vielen weiblichen Bekannten im Konservatorium erwarb Anthemia sich auch bald eine treue Freundin in Emma Hildebrandt, der Tochter eines Geheimrats der Residenz.

Äußeres wie inneres Wesen dieser beiden Jungfrauen bildeten einen starken Gegensat. Dort die dunkle, großäugige, ernste Anthemia, in ihrem ganzen Auftreten einer Olympierin vergleichbar: hier die hellblonde, lebhafte, stets heitere, elfenzarte Emma. Aber eine gleiche treue Innerlichkeit knüpfte diese beiden gerade infolge dieser heilsamen Gegensäglichkeit nur um so inniger, fester aneinander. Dadurch ward ihre Freundschaft vor ertötender Einförmigkeit bewahrt; sie empfanden es deutlich, daß einer den andern ergänzte.

Die Freundinnen sahen sich fast täglich. Der Gedankenaustausch fand zumeist in Emmas Elternhause statt, in dem die Musik eine leidenschaftliche Pflege fand. So oft es hier anging, zogen sie sich in Emmas Geheimzimmerchen zurück, wo sich die Mädchenseelen ganz allein angehörten. Da ward denn aus der tiesinnersten Herzenstruhe alles hervorgesucht und dem gegenseitigen Empfinden, Fühlen, Wünschen und Urteilen anvertraut.

Wer mit der geistigen Tarnkappe begabt ist, vermag das Innerste des Menschenherzens zu erspähen; selbst die zartesten, fest verschlossenen Regungen einer jungfräulichen Seele erlauscht dann sein Geist, alles enthüllt sich ihm, unverschleiert liegt ein ganzes Menschensein vor seinen Dichteraugen. Sollte es einem solchen nun nicht möglich sein, eine jener traulichen Unterredungen zwischen Anthemia und Emma wiederzugeben?

Es war einige Wochen nach jenem für Anthemia so ehrenvollen Konzertabend, als sich diese wieder einmal bei ihrer Freundin in deren Privatzimmer befand. Die Mädchen hatten soeben meisterlich Beethovens Schicksalssymphonie (die fünfte in C-moll) vierhändig gespielt. Anthemia sah feierlich ernst aus. Da sprach Emma zu ihr:

Aber ich begreife nicht, liebste Anthemia, wie dich der gerechte, stolze Triumph einer Heldenseele noch ernster

als gewöhnlich stimmen kann! In dir muß etwas ganz Sonderbares vorgehen, du bist jetzt fast beständig in Nachdenken verloren. Und in solchen Momenten spricht mich dein schwarzes Haargeflecht so eigentümlich an.

Vielleicht, erwiderte Anthemia, erinnerst du dich des schönen Gedankens aus Beethovens Briefen an Bettina von Arnim: „rauschende Freude treibt mich oft gewalttätig wieder in mich selbst zurück“. Ich habe die Tiefe dieses Ausspruchs oft an mir selbst erfahren. Und soll der Mensch nach den fast übermächtigen Jubelklängen, wie sie der Heldenseele im Finale der C-moll-Symphonie entströmen, nicht andächtig in sich gehen? Ich wenigstens bin stets darob verwundert, daß unser Konzertpublikum nach einer Beethovenschen Symphonie sofort in das gewöhnlichste Geplapper verfällt. Ich begreife zuweilen euer Volk nicht. Am meisten beneide ich die Deutschen darum, daß sie einen Beethoven ihr eigen nennen und wie unwürdig behandeln sie ihn und seine Werke so oft!

Das glaube ich wohl, versezte Emma, obschon ich Beethovens wunderbare Größe nicht so erfasse, wie du mit deinem hohen Künstlergeiste. Du darfst aber auch nicht zu schroff aburteilen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Es gibt wahrlich nicht wenige, die Beethovens Tonwelt mit jener Gemütsandacht in sich aufnehmen, wie sie dir, meine Teure, so wohl ansteht. Da fällt mir zur rechten Zeit ein mir sehr befreundeter junger Musiker ein, gewiß das höchste Muster eines Beethovenverehrers. Wunderdinge könnte ich dir von dessen Begeisterung und unendlicher Verehrung für diesen Tonheros erzählen. Das ist Edgar Wittig. Du hast ihn gewiß schon bemerkt, denn schwerlich versäumt er ein Konzert, in dem eine große Beethovensche Tonschöpfung zur Aufführung gelangt. Sein bleiches, ätherisches Künstlergesicht mit den langen Haaren prägt sich leicht den Sinnen ein. Aber, beste Anthemia, dein eigenes Gesicht überzieht

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