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weise wurde auf Anordnung des Volks oder Senats von der Accusationsmaxime abgewichen und inquisitorisch d. h. von Amtswegen verfahren; Ankläger wie Angeklagter mußten persönlich erscheinen (Paul. S. R. 5, 16, 11). Der Ankläger hatte sich durch juramentum calumniae vom Verdacht böswilliger Anklage (Chicane) zu reinigen, und durfte die erhobene Anklage nicht ohne Einwilligung des Gegners wieder fallen lassen; Calumniatoren wurden bestraft (Cic. ad fam. 8, 8; pr. Rosc. Am. 19. 20; fr. 7. § 1. D. de accus. 48, 2). Der Angeklagte ward regelmäßig in Untersuchungshaft (custodia rei) genommen, als contumax (ohne rechtmäßiges Exil ausgebliebener) aber verurtheilt und bez. sein Vermögen eingezogen (Cic. Verr. 2, 17. 38. 40. Liv. 25, 4. Plut. Brut. 27. Fr. 1—4. D. de cust. reor. 48, 3). Geib S. 254 ff. 290ff. Walter II. § 854 ff. Rudorff II. § 127. 131. 134. 138-141. Zumpt I. 2. S. 143ff. 210ff.

Das Verfahren war öffentlich und in der Hauptsache mündlich. Nach geschehener Anmeldung der Anklage beim Gerichtsvorstand (delationis postulatio), wobei Andere sich als subscriptores anschließen konnten, erfolgte am angesetzten Gerichtstermine die nominis delatio gegenüber dem Angeklagten; dieselbe wurde schriftlich abgefaßt, auch in das Gerichtsregister eingetragen (nomen rei recipere), und der 10. oder 30. Tag zur öffentlichen Verhandlung angesetzt (Cic. ad fam. 8, 6. 8; de divin 19. 20; Verr. 2, 41-43; in Vatin. 14). An diesem Tage fand die solenne accusatio und defensio mit Fragen und Gegenfragen (altercatio) Statt, wenn nicht comperendinatio (zweite actio in einem weiteren Termine) bewilligt wurde; Patrone hielten Reden und Gönner (laudatores, gewöhnlich ihrer 10!) legten Fürsprache ein (Cic. Verr. 2, 1, 9; 5, 22; Dio Cass. 40, 52. 55). Das Befragen der (vereideten) Zeugen war Sache des Producenten, concurrirend mit dem Recht des Gegners zu beliebigem Kreuzverhör (Quinct. V, 7, 9-22. 26—31); die Zeugenaussagen wurden niedergeschrieben. Geständniß des Angeklagten war keine Bedingung der Verurtheilung, Tortur gegen Freie unstatthaft. Die Abstimmung der Geschwornen geschah ohne Debatte; geheim und durch Täfelchen; Stimmengleichheit galt als Freisprechung; im Falle eines Non Liquet ward nochmalige Verhandlung angesetzt (ampliatio). Cic. Verr. II, 1, 9; Brut. 22. Liv. 43, 2. Cic. pr. Cluent. 27. 28. 58. Appellation fand nicht Statt, da die Quaestionen im Namen des Volks urtheilten. Vergl. Eisenlohr die Provocatio ad populum (1858) S. 30. Geib S. 252-4. 261. 266-289. 302. 317-392. Walter II. § 849-852, 859. Rudorff II. § 128. 132. 135. Zumpt II. 2. S. 168-192.

XXV. Kapitel.

2) Der Formularproces.

(Zu § 213-265)
I.

Der Ursprung der Proceßformeln und die lex Aebutia.

Zu § 914] Wir besitzen über Zeit und Art der Entstehung der Formulae keine directen Quellenzeugnisse. Gaius (4, 30) erzählt: Istae omnes legis actiones paulatim in odium venerunt; namque ex nimia subtilitate Veterum, qui tunc jura condiderunt, eo res perducta est, ut vel qui minimum errasset, litem perderet, itaque per legem Aebutiam et duas Julias sublatae sunt istae legis actiones, effectumque est, ut per concepta verba, id est per formulas litigaremus. Unter diesen leges Juliae konnte Gaius wohl nur die beiden leges judiciorum privatorum et publicorum des Augustus (?) meinen; Gellius (16, 10) gedenkt nur der lex Aebutia, woraus zu entnehmen ist, daß sie das Hauptgesetz war, durch welches dem Formularproceß Bahn gemacht wurde. Aus Gaius und Gellius. scheint übrigens hervorzugehen, daß durch die lex Aebutia diese neue Proceẞart nicht eigentlich eingeführt, sondern nur die alte Proceßart in den Hintergrund gedrängt worden sei. Eigentliche und directe Abschaffung durch ein Gesetz lag zwar nicht in der Gewohnheit der Römer, sie überließen Veraltetes am liebsten dem Naturproceß stillen Absterbens und begnügten sich mit Eröffnung der neuen vollkommneren Bahn; hier aber scheint die Abschaffung oder wenigstens Einschränkung direct durch gesetzliche Vorschrift geschehen zu seyn, was durch besondere praktische Gründe wohl gerechtfertigt seyn konnte. Schon vor der lex Aebutia mochte die Entwicklung des Formularprocesses begonnen haben, rein auf dem Wege der Praxis; in jener Stelle des Gaius ist es nicht nothwendig, das „,effectumque est" mit auf die vorhergenannten Gesetze zurückzubeziehen, und die darauf folgenden Worte drücken auch nicht gerade die erste Einführung der Formeln aus, sondern können bedeuten, daß dieselben nun zur vollen Geltung und ausgebildeten Herrschaft gelangt sind, was möglicherweise eine indirecte Folge der lex Aebutia war. Vergl. v. Bethmann-Hollw. II. § 55. Anm. 3. 16. Rudorff I. § 44. Anm. 1.

Heffter Comm. ad Gai. IV (1827) p. 23 vermuthet, daß die lex Aebutia nicht vor 149 v. Chr. (605 d. St.) gegeben sei, wo die lex Calpurnia repetundarum noch ein sacramento agere gegen den Uebertreter festsetzte, indeß ist von dem criminalistischen Gebiete aus kein Schluß zu machen. Burchardi (Wiedereins. in den vor. Stand S. 300 ff.) nimmt wegen der exceptio doli, welche schon vor 184 v. Chr. (570 d. St.) vorkomme, und Puchta (Cursus 1. § 80 a. E.) wegen der lex Cincia und Plaetoria, welche Exceptionen gewährten, an, daß schon zu dieser

Zeit durch Formeln processirt werden konnte, und daher die lex Aebutia in die Zeit von 254-204 v. Chr. (500—550) fallen müsse. Vergl. dazu Ihering Geist d. R. R. III. § 52. S. 114-117. Leist (Gesch. d. Röm. Rechtssysteme S. 17), Rudorff (I. § 44 a. E.) und v. Bethmann-H. (II. § 55. Anm. 2) betonen, daß noch um 204 v. Chr. (550 d. St.) die legis actiones bei Aelius als ein Haupttheil des Rechts hervortreten, und Letzterer fügt speciell hinzu, daß die lex Aebutia frühestens in die zweite Hälfte des 6. Jahrh. d. Stadt (204—154 v. Chr.) fallen könne, wo nach überstandenem Kampf auf Leben und Tod in einer Zeit innerer und äußerer Ruhe Manches den erweiterten Verhältnissen gemäß zu ordnen war. v. Keller (Civilproc. § 23) gibt nur überhaupt das 6. Jahrh. d. St. an, und Voigt (Jus naturale d. Röm. II. § 83), in Uebereinstimmung mit Puchta (l. c. § 85 a. E.) von der Annahme ausgehend, daß der Proceß des jus gentium durchaus auf dem Formularverfahren beruhte, nimmt an, daß die lex Aebutia in die Zeit der ersten Reception des jus gentium fallen müsse.

Die Voraussetzungen für eine endgültige Beantwortung dieser ZeitFrage fehlen noch; während Rudorff (II. § 27) bemerkt, daß in der letzten Zeit der Republik der Legisactionen selten Erwähnung geschehe, sucht Bekker (Zeitschr. f. Rechtsgesch. V. S. 341 ff.) zu zeigen, daß zu Cicero's Zeit der Legisactionenproceß noch auf weitem Felde zur Anwendung kam, und daß Cicero, welcher die lex Aebutia nicht namentlich nennt und nicht einmal auf die Existenz eines solchen Gesetzes Bezug nimmt, Formeln und Actionen nicht als Elemente zweier wesentlich verschiedenen Proceßformen betrachtete, vielmehr nur Einen ordentlichen Civilproceß vor Augen hatte, ein lege agere, bei welchem zugleich die prätorischen Formeln schon in Gebrauch waren; die lex Aebutia sei danach entweder ein älteres Gesetz von geringerer Bedeutung, oder etwa ein integrirender Theil der Julischen Proceßgesetzgebung, welche die Reformen des Rechtsganges zum Abschluß brachte; beide Annahmen aber, freilich nicht in genauer Uebereinstimmung mit Gaius, drängten dahin, der von den Rechtsgelehrten geleiteten fast unmerklich sich ändernden Praxis größeren Einfluß auf die Umgestaltung des Processes zuzuschreiben, so daß die Gesetze eben nur schließlich die Wandelung, die im allgemeinen Rechtsbewußtseyn vollzogen war, anerkannt hätten. Diese historische Vermittlungsansicht verdient weitere Erwägung; doch ist aus manchen Stellen bei Cicero zu schließen, daß zu seiner Zeit das System der Proceßformeln ziemlich entwickelt war; pr. Rosc. Com. 8. sagt er: „Fraudabat te in societate Roscius? Sunt jura, sunt formulae de omnibus rebus constitutae, ne quis aut in genere injuriae aut ratione actionis errare possit. Expressae sunt enim ex uniuscujusque damno... publicae a Praetore formulae, ad quas privata lis accommodatur. Formulam non noras? Notissima erat." Unterstützt wird diese Annahme durch die bekannten Stellen (de off. 3, 17 und de nat. deor. 3, 30), wo Cicero die Gruppe der bonae fidei judicia fast vollständig aufführt, denn die Ausbildung dieser Gruppe Kuntze, Excurse.

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setzt eine bereits fortgeschrittene Ausbildung des Formelwesens vor

aus.

Was die Entwicklung der Formulae anlangt, so wird diese von Manchen mehr als ein äußerer Receptionsproceß, von Anderen mehr als ein innerer Umbildungsproceß gedacht. Es wird nämlich von jenen darauf hingewiesen, daß schon frühzeitig Rom in Bündnissen mit anderen Völkern besondere internationale Schieds- oder Gastgerichte (recuperatores) zur Reclamirung von Werthsachen vereinbarte (s. C. Sell d. Recuperatio d. Römer; 1837. Voigt D. jus naturale d. Römer II. S. 177-228. Rudorff II. § 8. v. Bethmann-H. I. S. 67. II. S. 15. 63. 457). Solche Schiedsgerichte bestanden in Rom zwar lediglich aus Römern, allein diese konnten nicht das jus proprium Romanorum ihren Entscheidungen zu Grunde legen, da es den Peregrinen nicht zugänglich war, und die Prätoren, welche dann nach diesem Muster Gerichte für unterthänige Peregrinen anordneten, konnten dabei nicht im Wege der Legisactionen verfahren, welche gleichfalls den Peregrinen unzugänglich waren: es blieb ihnen hier nichts übrig, als in freier Weise den oder die Richter zu instruiren, nach welchen Grundsätzen zu entscheiden sei, und dies geschah durch eine schriftliche Anweisung (dica oder formula); von dem Peregrinenprätor und bez. den ProvinzialStatthaltern übernahmen dann die Stadtprätoren diese Form freier Proceßinstruction. So hat Huschke (Analecta literaria 1826. p. 216 und in Richter's krit. Jahrbb. Bd. I. 1837. S. 861 ff.) den Ursprung der Formeln gedacht, und Puchta (Cursus I. § 83. II. § 163) ist ihm gefolgt, indem er jedoch beiläufig (II. § 163) die zweite Ansicht andeutet, und von der leg. act. per condictionem* sagt, daß sie eine Art von Uebergangsbildung zu dem neuen Verfahren gewesen.

Genauer ist dieses dann von Keller (Civilproc. § 25) ausgeführt worden, welcher speciell von der 1. a. ex lege Calpurnia (condictio triticaria) annimmt, daß sie einfach in das Formularverfahren übergegangen sei, wofern sie schon ohne Sponsion das Judicium begründet hatte. Von anderer Seite her und gleichfalls im Anschluß an Huschke (krit. Jahrbb. I. S. 892) hat Voigt (d. jus naturale d. Röm. II. S. 183 ff.) besonders auf die enge Verwandtschaft der clarigatio und recuperatio (wobei Völker und bez. Privaten Partei waren) mit der 1. a. per condictionem aufmerksam gemacht und hier Spuren des Uebergangs in den Formularproceß erkannt. Damit war zunächst für alle certae obligationes ex contractu gesorgt, nach deren Vorbild leicht auch die Delictsklagen behandelt werden konnten; vielleicht spielten dabei die Proceßfictionen (ficticiae actiones, d, h. ad legis actionem expressae) eine Rolle (Ihering Geist d. R. R. III. § 58. S. 291). Der Executivproceß mit manus injectio war so gut wie abgeschafft, die leg. act. per arbitri postulationem fügte sich ohne Schwierigkeit dem Formelwesen (arbitria, actiones bonae fidei; vergl. auch v. Bethmann-H. II. § 84. Anm. 2), und

*). Cursus § 149.

neben dem bonae fidei judicium konnte die formula petitoria leicht aus dem Sacramentsproceß abgelöst und zur Anerkennung gebracht werden, ohne daß es nöthig und zur Erklärung dienlich ist, hier mit v. Keller den Sponsionsproceß als Durchgangsphase zu setzen. Vergl. v. Bethmann-H. II. S. 233, 304.

Unter diesen Gesichtspunkten liegt die von Puchta (II. § 163) ausgesprochene Vermuthung nahe, daß durch die lex Aebutia zunächst die 1. a. per condictionem (und vielleicht die per arbitri postulationem) abgeschafft worden sei. Bestimmter drückt sich Rudorff (R. R.-Gesch. II. § 27) aus: ,,Seit Gn. Flavius (304 v. Chr. 450 d. St.) wurden die civilrechtlichen Formae Actionum im Edicte proponirt, und dies durch die neuen Genera Actionum, welche im Jus Aelianum (um 204 v. Chr. 550 d. St.) zusammengestellt waren, und noch in den Tripertita den dritten Rechtstheil und die Schule des Processes bildeten, allmählich vermehrt; die lex Aebutia beseitigte das Anstößigste und Entbehrlichste, namentlich die Privatexecution, die Condictio mit 30 tägiger Bedenkzeit, die formelle Judicis Arbitrive Postulatio entweder direct oder indirect durch Fictionen".

II.

Die Bedeutung der Formeln im Röm. Civilproceß und für das Röm. Civilrecht im Allgemeinen.

Zu § 227] Jedes wirkliche Rechtsverhältniß (ein Eigenthumsrecht, eine Obligatio) ist ein lebendiger Körper, ein geistiger Organismus." Ein lebendiger Körper aber, welcher lebenskräftig ist, rüstet sich und setzt sich zur Wehr, wenn er Störung erfährt. Die ruhige Selbstsetzung und Selbstbehauptung, welche unablässig für das Da- und Eigenseyn eintritt, geht damit in Selbstdurchsetzung und Nothwehr über. Es beruht diese Thätigkeit nicht in einer zweiten Grundfunction, welche sich einfach neben der ersten und eigentlichen Vitalfunction entwickelte; sondern es ist dieselbe eigentliche Lebenskraft, die, indem sie sich behauptet, auch im Streite Stand hält; die Reaction ist nichts wesentlich Andres, als die Action. Gerade dies, und weiter nichts, lese ich aus jener Aeußerung des Celsus in fr. 31. D. de O. et A. (44, 7): Nihil aliud est actio, quum jus, quod sibi debetur, judicio persequendi. Aber es ist das Besondere, daß diese Lebens- und Thatkraft im Streite sich prägnanter äußert, zu präciseren Formen zusammenschließt und gleichsam ihr inneres Wesen zur Oberfläche drängt, wie der Staat gegenüber dem Feind das Mark seines Volks gerüstet und geordnet an die Grenzen vorschiebt. So ist die lis eine res (privata) in procinctu, der Proceß ein zu voller juristischer Lebensthätigkeit angespanntes, gerüstetes, präcisirtes, und sich zur ganzen Schärfe und Wucht seines wesentlichen Gehalts zusammenfassendes Rechtsverhältniß. So war der ordo judiciorum pri

*) s. oben Excurse zu § 200-212. No, I.

**) s. oben Excurse zu § 1-5. No. II. a. E.

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