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fene Musterbild einer Rechtsordnung als Vernunft- oder Naturrecht, insofern es als ein durch abstractes Nachdenken und logische Deduction aus der allgemeinen Natur des Menschen gewinnbares gilt. Der Versuch einer solchen Gewinnung nun hat seine Berechtigung, so lange die Speculation sich auf die bezeichneten allgemeinen Grundzüge und auf die der Höhe des christlichen Lebensideals zustrebenden Entwicklungsgesetze beschränkt; allein es darf nicht vergessen werden, daß mit diesen allgemeinen Linien nimmer ein practisch ausreichendes und lebensfähiges Recht gewonnen, und daß die ganze reale Ausfüllung nur durch die schöpferische Kraft solcher Mächte, welche ganz unter dem Einfluß des geschichtlichen Wechsels stehen, bereitet wird. Die alte Naturrechtsdoctrin übersah oder unterschätzte die historische Strömung und die organische Um- und Fortbildung, in welcher die Rechtsidee, indem sie sich zum practischen System entfaltet, unablässig sich befindet.

III.

Die Natur- und Kunststufe der Rechtsbildung.

Zu § 15] Das Gewohnheitsrecht ist die Naturstufe, die Gesetzgebung die Kunststufe der Rechtsbildung, entsprechend den Stufen der Volks- und Kunstpoesie. Puchta d. Gewohnheitsrecht (2 Thle.: 1828. 1837.); v. Savigny System d. R. R. I. S. 34 ff.; Kierulff Theorie des Civilrechts I. S. 6 ff.; Ihering Geist des R. R. II. § 25.

Bei jedem Culturvolk, so auch bei den Römern und Deutschen, ist der Periode der Gesetzgebung eine Periode des Gewohnheitsrechts vorangegangen. Im späteren Lebensalter der Völker verkümmert der naive Rechtstrieb, das Gewohnheitsrecht tritt dann hauptsächlich nur noch im Gerichtsbrauch (juristische Praxis, usus fori, stilus curiae), d. h. in den übereinstimmenden Aussprüchen des den Richterberuf ausübenden Juristenstandes hervor und weicht mehr und mehr dem Einfluß wissenschaftlicher Autoritäten (communis doctorum opinio). Bestritten ist, inwiefern auch die Wissenschaft als (dritte) Rechtsquelle neben der Volksüberzeugung und Gesetzgebung betrachtet werden dürfe; nur das ist unbestreitbar, daß im Leben der Culturvölker eine spätere Periode der Rechtsentwicklung vorzugsweise das wissenschaftliche Gepräge trägt. Man unterscheidet danach die Perioden des gewohnheitlichen, gesetzlichen und wissenschaftlichen Rechts, denen im Allgemeinen die drei Ausdrucksmittel: Bild, Wort und Begriff entsprechen. (s. Arnold Cultur und Rechtsleben. 1865. S. 290.)

Oft wird der Ausdruck Rechtsquellen in einem mehr äußerlichen oder antiquarischen Sinn gebraucht, indem darunter die Quellen der Rechtskunde, d. h. die einzelnen direct oder indirect überlieferten und vorhandenen Rechtsdenkmäler (Münzen, Inscriptionen, Urkunden, Handschriften) verstanden werden, aus welchen wir unsere Kenntniß früheren Rechts schöpfen. (Vergl. v. Savigny System d. R. R. I. 8. 12.) *) Vergl. Excurse zu § 177–187. No. II.

V. Kapitel.

Das System des Rechts.

(Zu § 16-19)

System. Rechtsinstitute. Aequitas.

Der Laie erblickt, indem er ein Gesetzbuch durchblättert, eben nur die einzelnen Blätter und erkennt in dem Ganzen nur eine Vielheit einzelner Titel und Artikel; anderseits erscheinen dem Laienblick viele einzelne Rechtssätze als absolut einfache Sätze, während sie in der That eine Fülle verborgner Folgesätze enthalten. Oft also, wo der Jurist Einheit wahrnimmt, sieht der Laie Vielheit, und so auch umgekehrt. (Vergl. dazu Ihering Geist d. R. R. II. S. 328 ff.)

Ein System läßt sich unter dem Bilde eines Kreises mit Mittelpunkt, Radien und Peripherie vorstellen, wobei der Blick der Rechtsanschauung entweder von dem Mittelpunkte (der Grundidee des Rechts) oder von der Peripherie (den einzelnen Rechtssätzen) ausgehen kann. Die Rechtssätze sind Ausstrahlungen der Rechtsidee (und bez. der Rechtsinstitute), gleichsam die äußersten Spitzen der auseinander strebenden Radien oder die Punkte in der Peripherie; also erscheint die Masse der Rechtssätze in ihrem gemeinsamen und gleichmäßigen Bezug zur Centralidee als die um diese sich ausspannende Peripherie, und die Rechtsinstitute sind die der centralen Rechtsidee zustrebenden convergirenden Vereinigungslinien der Rechtssätze.

Man hat oft, indem man die geschilderte Art des Rechts ausdrücken wollte, es einen Organismus genannt, indeß kann ein System höchstens bildlich ein Organismus genannt werden, denn ein Organismus ist eine lebendige Realität (Individuum, Stamm, Volk), die Rechtsordnung aber ist eine abstrahirte, gedachte Einheit. Die Rechtsverhältnisse, die Rechtssphären (Personen) können Organismen genannt, aber die Gesammtheit der Rechtsregeln kann nur als System bezeichnet werden.

Weil die systematische Gliederung des Rechts aus dessen innerem Wesen folgt, so hat die Erkenntniß des Systems auch einen wesentlichen (intellectuellen, didactischen) Werth. Ein Rechtsinstitut, eine Rechtsregel empfangen nur an der richtigen systematischen Stelle die rechte Beleuchtung, an falscher Stelle vorgetragen hinterlassen sie einen unklaren oder falschen Eindruck. Vergl. Ihering a. a. O., S. 343. 344. 409 ff.

Rechtsinstitute sind z. B. aus dem Röm. Recht: legatum und fideicommissum, nexum und stipulatio, hereditas und bonorum possessio, manus, obligatio naturalis, bonorum emtio; aus dem germanischen Recht: Gewere, Auflassung; Erbvertrag, Reallast, Retractrecht; aus dem Handelsrecht: Firma, Indossament, Actienverein; aus dem Proceßrecht: Litiscontestation, Appellation, Staatsanwaltschaft.

Manche Rechtsinstitute, namentlich solche, an denen eine besonders erhebliche Fülle von Folgesätzen hervortritt, werden auch Systeme genannt, z. B. Stammguts-, Hypotheken-, Inscriptionensystem.

Die Aequitas (bonum et aequum) unterscheidet sich von den logischen Elementen des Rechts, welche rationell deducirt, exact demonstrirt werden können und also reine Producte des Denkens sind; das aequum ist ein Product des Schaffens, freie Entfaltung des Stoffes, schöpferische Erweiterung der juristischen Lineamente, aber getragen von den Grundideen des Rechts, und dadurch unterschieden von den bloßen Utilitätsgesetzen, welche nur mechanische Zusätze bilden und immer mehr oder minder das Gepräge der Willkür tragen. Aus der aequitas in jenem Sinne stammen z. B. die Principien der compensatio und der actio negotiorum gestorum.

VI. Kapitel.

Die ethische Grenzbestimmung des Rechts.

(Zu § 20-23)
I.

Das Recht neben Kunst und Wissenschaft.

Zu § 20] Ich habe die Phantasie, Energie und Intelligenz als die Entfaltungen der Stimmung, Handlung und Erkenntniß des Menschen bezeichnet; die Ordnungen dieser drei Grundvermögen sind die Kunst, das Recht und die Wissenschaft. Sie gehören wesentlich zusammen; keine Persönlichkeit gibt es, in welcher nicht die Elemente aller drei Vermögen gesetzt wären, und in jedem Lebensmoment und Lebensact wirken sie zusammen. Allerdings kann das eine Vermögen in diesem, ein anderes in jenem Individuum oder Volke, in dieser oder jener Periode des Lebens, bei der oder jener That vorwiegen, mehr in die Augen fallen, oder aber das eine oder das andere Vermögen da oder dort verkümmern, zu schlummern scheinen, überwuchern, ausarten. Aber der Zusammenhang bleibt doch im Ganzen und Großen, weil er ein allgemeines Postulat des persönlichen Geisteslebens ist. So können wir sagen, daß sie coordinirte Grundvermögen sind; keines verdient ethisch einen Vorzug vor dem anderen.

II.

Das Recht neben Religion und Moral.

Zu § 23] Gott als absoluter Anfang und schöpferischer Urgrund ist das Princip des menschlichen Lebens und Wesens, also das Ziel unserer lebendigen Hingabe und die lebendige Norm unseres Wesens. Religion und Moral sind die Entfaltungen dieses Ziels und dieser Norm. Sie halten den menschlichen Geist im Zusammenhang und Einklang mit dem göttlichen Geist.

Die Liebe ist die Grundkraft der Religion, das Band der Vollkommenheit,,,das königliche Gesetz" (Jac. 2, 8) und die Seele alles wahren ewigen Lebens; die Tugend ist der Grundbegriff der Moral, der Kuntze, Excurse.

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Maßstab der Vollkommenheit, und die Tugendlehre gipfelt in dem Satze: Seid vollkommen, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist (Matth. 5, 48) - Ihr sollt heilig seyn, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott! (3. Mos. 19, 2). Also hängt die Moral an der Religion und ist deren Dependenz: ist die Moral der Tugendspiegel, so kann die Religion der Tugendhebel oder die Tugendleiter genannt werden.

In der religiös-moralischen Kraft wurzeln und gipfeln alle Kräfte des Menschen. Religion und Moral erheben das endliche Wesen der Menschheit in das Licht des ewigen Wesens und durchdringen mit diesem Himmelslichte die irdischen Lebensbereiche der Kunst, des Rechts und der Wissenschaft; sie bilden den ächten Ausgangs-, Mittelund Endpunkt des menschlichen Lebens, und die Geschichte der Völker zeigt, daß das Recht gleich wie die Kunst und Wissenschaft sich in seinem geschichtlichen Ursprung aus dem Schoße der Religion erhebt, im weiteren Verlauf seiner Entwicklung vielfach religiöser und moralischer Elemente sich bedient und bedarf, und in seiner Vollendung wieder zur Höhe religiöser Verklärung hinanstrebt. Die Römische Rechtsgeschichte beginnt mit dem fas, lehnt sich an die sacra (s. Cic. de divinat. 1, 16; Ulp. in fr. 1. u. 10. § 2. D. de J. et J.) und endet mit der Christianisirung; der Sachsenspiegel ruht auf specifisch christlicher Weltanschauung und schließt in ihr die Entwicklung des rein germanischen Lebens ab.

Die Glaubenskraft im Menschen ist ein durch die ganze Persönlichkeit gehender Zug des göttlichen Ebenbildes in uns zu dem göttlichen Urbilde über uns; dieser durchgehende Zug und innerste Lebenstrieb ist nicht bloß ein Spiel der Phantasie, nicht bloß ein Geschäft der Intelligenz, sondern geht die Person in ihrer lebendigen Totalität an, und vermöge dieser ihrer Bedeutung für den menschlichen Geist üben Religion und Moral einen mehr oder weniger maßgebenden Einfluß auf die Energie so gut, wie auf die Phantasie und Intelligenz, diese finden in jenen ihr Rectorium und Finale. Eine solche Rolle spielt die Moral nicht bloß dem Recht, sondern auch der Kunst und Wissenschaft gegenüber, es gibt unsittliche Triebe und Bestrebungen auch im Bereiche der letzteren, und daher ist es falsch, die Moral auf das Bereich des Willens einzuschränken und sie begrifflich nur gegenüber dem Recht abzugrenzen.

Die Moral hat es mit der inneren geistigen Seite der Handlungen, das Recht mit der sinnlichen Manifestation des Willens zu thun. Für die Moral kommen die Handlungen nur als Symptome und Consequenzen, als die Früchte des Willens, für das Recht aber der Wille nur, sofern er sich in äußere Thatsachen umsetzt, in Betracht.

VII. Kapitel.

Die Erkenntniß des Rechts.

(Zu § 24-26)

Interpretation. Kritik. Analogie.

Zu § 25] Die Auslegungskunst hat auch für den Historiker, Theologen u. s. w. Werth, und ist nicht bloß bei Rechtsregeln, sondern auch bei (gesprochenen, urkundlichen) Rechtsgeschäften ein Bedürfniß. (Vergl. Ihering Geist d. Ŕ. R. II. S. 475 ff.)

Die Legalinterpretation erklärt nicht einen früheren, sondern erzeugt eigentlich einen neuen Rechtssatz und bindet die Unterthanen schlechthin; die Doctrinalinterpretation ist freie wissenschaftliche,,Reconstruction" und bindet daher nur, insofern sie überzeugt; s. v. Savigny System, I. S. 209.

Die Kritik d. h. Textherstellung, hat der Auslegung den Boden zu bereiten durch Sammlung, Ordnung, Reinigung und Ergänzung des linguistischen Materials. Sie wird daher unter Hermeneutik im weitern Sinne mit begriffen; s. v. Savigny ebend. S. 241 ff.

Der Extensivinterpretation kommt die Analogie sehr nahe: jene gewinnt den Rechtssatz, welchen der Gesetzgeber wirklich hat ausdrücken wollen, diese einen solchen, welchen der Gesetzgeber ausgedrückt haben würde, falls er daran gedacht hätte; jene ist also bloß Ermittelung, diese aber Ergänzung und Vermehrung des gegebenen Rechts. Im Sinne analogischer Rechtsfortbildung verstanden die Römer die alte interpretatio legis XII tabularum.*

Zweiter Abschnitt.

Geist und Studium des Römischen Rechts.

VIII. Kapitel.

Die Bedeutung und Reception des Römischen Rechts.
(Zu § 27-29)

Karakterzüge des Römischen Rechts.

Zu § 28] Das politische Ethos Rom's bildet die nothwendige Ergänzung des hellenischen Ethos, mit welchem der occidentalische Geist seinen großen civilisatorischen Triumphzug begann. Nur in der Kunst, nicht im Staats- und Rechtswesen hatte es der hellenische Genius zur vollen Verschmelzung und fruchtbaren Einigung des dorischen und ionischen Volksthums gebracht, den Römern aber gelang die Mischung der extremen Temperamente, diese einzige Gewähr politi

*) 9. Cursus § 114.

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