Page images
PDF
EPUB

segt wurde und hier nun zu der mißgeborenen Idee eines Naturrechtes: des ius quod naturalis ratio constituit führte; so war nun bei dem allezeit auf das Practische gerichteten Sinne der Römer die Aufforderung nahe gelegt, dem Denken auch in jener Richtung einen practischen Werth abzugewinnen. Und diesem Streben entsprechend begegnen wir daher auch einer zwiefältigen practischen Verwendung jener speculativen Idee. Zunächst unterbreitete man dem ius gentium die Bestimmung ius quod naturalis ratio constituit zu sein, und gewann damit für das in Umfang und normativer Beschaffenheit seines Stoffes lediglich empirisch und historisch bestimmte ius gentium eine speculative und aprioristische Basis, welche der Anforderung des forsch- und fragedürftigen Geistes nach dem legten Grunde des Gegebenen auch hinsichtlich des ius gentium genügen mochte. Zwar konnte nun unmöglich die Wahrnehmung dem Alterthume sich entziehen, daß doch nicht alle Rechtss institutionen des ius gentium auf die naturalis ratio als ihre leyte materielle Quelle sich zurückführen und damit in ihrer Existenz sveculativ sich rechtfertigen lassen; zwar mußte hierbei oftmals das Denken mit sich selbst in Widerspruch gerathen, wenn es z. B. die Stipulation in der Form von Spondesne? Spondeo für iuris civilis, in allen übrigen Formen dagegen für iuris gentium anerkennen sollte (Thl. I, §. 84). Allein da es zu allen Zeiten Denfer gegeben hat, die über unlösbar scheinende Schwierigkeiten mit bofmännischer Gewandtheit und mit wohldressirter Phrase hinwegschlüpfen, anstatt dem Ungelösten seine Lösung zu gewinnen; so haben wir in keiner Weise Veranlassung, über das Vorkommniß gleicher Erscheinung zu Rom nur im Entferntesten uns Wunder nehmen zu lassen: man sprach jene Genesis des ius gentium ven der naturalis ratio in Bezug auf die einzelnen Institute desselben nur insoweit aus, als das betreffende Institut hierfür sich eignete und Veranlassung bot, wie dies z. B. hinsichtlich der societas det Fall war bei Gai. Inst. III, 154.:

Iuris [enim] gent[ium est societas, quam inire] omnes homines naturali ratione possunt,

und hinsichtlich der specificatio, wo jene naturalis ratio als Beweisgrund fungirte in der Controverse der Sabinianer und Proculianer über die juristische Beschaffenheit jenes Erwerbtitels nach Gai. lib. 2. Aur. (Dig. XLI, 1, 7. §. 7.) u. Inst. III. §. 79. In

soweit dagegen das betreffende Institut keine besondere Veranlassung bot, dessen Abstammung von der naturalis ratio zu verfünden, oder gar solche Herleitung als unstatthaft sich erwies, insoweit sah man auch ohne Weiteres und ohne irgend welchen Denkscrupel davon ab, daß hierin ein inconsequentes, ja willkührliches Abweichen von jener These zu Tage trete, welche das gesammte ius gentium als Product der naturalis ratio hinstellte. Und in Folge dieser philosophisch unberechtigten, juristisch aber nothwendigen Inconsequenz konnte es daher auch beschehen, daß jene Thatsache an sich des Unterschiebens einer speculativen Substruction unter das ius gentium insofern ohne allen und jeden Einfluß auf die Materie selbst dieses Rechtes geblieben ist, als selbst jene Unvereinbarkeit der historisch gegebenen Materie mit solcher speculativen Basis nie als zureichender Grund anerkannt und benugt wurde, um diesem unvereinbarlichen Stoffe feine Qualität abzusprechen, iuris gentium zu sein (vgl. Thl. I, §. 85.).

Wohl aber ist es die weitergehende Verwendung jener speculativen Idee in Bezug auf das ius gentium, welche eine wahrhaft historische Bedeutung und damit Beachtlichkeit für uns gewinnt. Nachdem nämlich die beobachtete Benüßung jenes Gedankens von einem durch die naturalis ratio gegebenen Rechte als des leßten Grundes vom ius gentium bereits erfolgt und den Geistern vertraut geworden war, hiermit eine freiere und selbstständigere Behandlung seiner selbst ermöglichend, so wagte nun die Reflexion den weiteren Schritt, jenes neue speculative Merkmal des ius gentium von dem historischen Merkmale als ius commune omnium [liberorum] hominum wieder abzulösen, zu logischer Selbstständigkeit zu erheben, und in dieser Selbstständigkeit in seiner Verbindung mit der technischen Bezeichnung und mit der notio definienda,,ius gentium" zu belassen. Und während daher früher jene speculative Wesenbestimmung dem ius gentium nur innerhalb oder unterhalb der ihm ureigenen, objectiv wahren und historisch zukömmlichen Wesenbestimmung gleich als prämissives und abhängiges Merkmal beigelegt worden war; so ward nun allen Gefeßen des formalen und materialen Denkens zuwider jene wirkliche Wesenbestimmung des ius gentium theilweis aufgegeben, das bisher abhängige Merkmal des naturale zu voller Selbstständigkeit und zur Bedeutung des Grundwesentlichen erhoben und damit nun jener wahrhaften Wesen

Voigt, Jus naturale etc. II.

53

bestimmung eine neue und falsche substituirt. Jusoweit nun diese Usurpation lediglich eine Rechtsmaterie betraf, welche an sich schon iuris gentium war, insoweit nun fällt jene Manipulation an und für sich lediglich dem Gebiete des Denkens anheim und wir haben in der danach prädicirten Rechtsmasse wahres ius gentium anzuerkennen, welches nur falsch oder nur als Pseudo-ius gentium prädicirt war, daher denn, weil dieses Pseudo-ius gentium zugleich wahres und wirkliches ius gentium ist,920) diese Gedankenrichtung für unseren gegenwärtigen Gesichtspunkt durchaus kein weiteres Interesse bietet. Allein indem jene Usurpation auch das Gebiet des rein Jdcellen verließ und an die Sphäre des Reellen herantrat; indem dieselbe über die historisch gegebene Sphäre des ius gentium hinausgriff und sonach eine Rechtsmasse als iuris gentium prådicirte, welche nicht ein ius commune omnium hominum und demnach auch wahres und wirkliches ius gentium nicht war, insoweit nun haben wir hier festzustellen, daß neben jenem wahren und wirklichen ius gentium auch ein Pseudo-ius gentium in der römischen Theorie auftrat, welches lediglich um deßwillen, weil es für ein ius a naturali ratione constitutum erachtet wurde, ius gentium genannt ward, ohne gleichwohl ius commune omnium hominum zu sein. Und einem solchem Rechte begegnen wir z. B. bei Quint. I. O. VII, 1, 46.:

Qui naturam sequetur

hoc dicturum:,,pater intestatus duos nos filios reliquit; partem (bonorum possessionis unde liberi) iure gentium peto;"

denn hier wird die B. P. unde liberi als Institut des ius gentium eingeführt, um deßwillen weil sie durch die naturalis ratio geboten sei; und indem nun andrerseits diese B. P. den zur Peregrinität deminuirten Söhnen nicht deferirt wird, somit aber dieselbe in Wahrheit dem ius civile anheimfällt, so ist nun jenes sogen. ius

920) Ein Beispiel hierfür bietet Gai. lib. 2. Aur. (Dig. XLI, 1, 1. pr.): quarundam rerum dominium nanciscimur iure gentium, quod ratione naturali inter omnes homines peraeque servatur; denn hier werden ges wisse Eigenthums - Erwerbtitel als iuris gentium um deßwillen bezeichnet, weil sie durch die naturalis ratio gegeben sind; und insofern daher find diese Titel als Pseudo- ius gentium gedacht; allein es sind dieselben auch zugleich wahres und wirkliches ius gentium, weil sie iuris communis omnium hominum find.

gentium nicht wahres und wirkliches, sondern lediglich Pseudo-ius gentium, weil es nicht ius commune omnium hominum, sondern lediglich ius natura constitutum ist. Ja indem von Gaius, Paulus und anderen Juristen die These, daß das ius, quod naturalis ratio constituit zugleich ius gentium sei, in Form eines logisch allgemei-, nen Urtheiles aufgestellt ward (Thl. I, §. 82), so erwuchs hiermit für jeden auf jene naturalis ratio zurückgeführten oder daraus hergeleiteten Rechtssag die Prätension iuris gentium zu sein; und indem nun eine große Anzahl solcher Rechtsfäße in jener Prädicirung und mit solcher Prätension hervortrat, ohne bereits als ius commune omnium hominum in dem rechtlichen Verkehre und der Rechtspflege anerkannt zu werden, so mußte es zu allen Zeiten in dem römischen Rechte eine sehr bedeutende Masse solchen Pseudoius gentium geben. Allein gerade insofern und weil diese Rechtsmaterie lediglich ein Pseudo-ius gentium bildete, nicht aber wahres und wirkliches ius gentium war, verliert dieselbe für unseren gegen= wärtigen Gesichtspunkt alles Interesse, weil im Gegenwärtigen wir lediglich das ius gentium d. h. dieses wahre und wirkliche, nicht aber das Pseudo-ius gentium behandele, daher auch jener Stoff ganz außerhalb des uns gegebenen Gesichtskreises fällt und keine weitere Beachtung verdient. Lediglich in §. 108, wo wir die Quellen des ius gentium in das Auge zu fassen haben, werden wir jenes Pseudosius gentium mit Rücksicht darauf wieder in Betracht nehmen, daß im Laufe der Zeit ein Theil desselben auf Grund seiner Prätension, wahres und wirkliches ius gentium zu sein, in der That in solches sich verwandelte.

§. 107. Fortseßung.

(Pseudo-ius gentium: ius quo omnes gentes utuntur.)

In der Verbindung des ius gentium mit dem ius naturale, welche wir in §. 106 betrachteten, lag zugleich die Veranlassung, das Erstere als ein allen Völkern gemeinsames Recht zu prädiciren, weil die antike Philosophie dieses leßtere Merkmal ihrem Naturrechte beimaß (Thl. I, §. 34. 41.). Anderntheils trat der Jurisprudenz der ersten römischen Kaiserzeit in Folge der Unterwerfung der Provinzen, wie der Einordnung vieler liberae civitates in das

römische Reich, die Aufforderung nahe, Vergleichungen der verschiedenen Rechte der Völkerschaften zunächst innerhalb, wie weiterhin auch außerhalb des Reiches anzustellen, in Folge dessen sich dann zu Rom verhältnißmäßig frühzeitig eine comparative Jurisprudenz ausbilden mochte. Von Vorn herein mochte indeß diese Leztere bei ihren Beobachtungen unabhängig von dem ius naturale sich stellen und ihre Resultate selbstständig machen von speculativen Voraussetzungen, so daß daher jenes von der Philosophie in einer speculativen Beziehung festgehaltene Merkmal der staatlichen Gemeingültigkeit des Rechtes in der Jurisprudenz frei von jeder Abhängigkeit zum ius naturale erscheinen und anfänglich als völlig selbstständige, als rein empirische Wahrnehmung auftreten mochte. Allein indem daneben, wie bemerkt, auch eine Verbindung jenes Merkmales mit dem ius gentium durch das Mittel des ius naturale bereits gezeigt war, andrerseits aber auch die Benennung des Ersteren an sich die Verknüpfung nahe legte, daß das ius gentium jugleich ein ius omnium gentium sei, so trat nun auch jenes selbstständige Merkmal der Gemeingültigkeit in eine besondere Beziehung zum ius gentium (Thl. I, §. 81).

Hier nun haben wir genau die nämliche dreifältige Beziehung des Merkmales ius quo omnes gentes utuntur zu dem ius gentium anzuerkennen, die wir in §. 106 bezüglich des Merkmales ius quod naturalis ratio constituit feststellten: zunächst unterbreitete sich jenes Merkmal dem ius gentium als der lezte und höchste Grund, der dieses als das ius commune omnium hominum rechtfertigte (Thl. I, §. 87.). Und sodann verdrängte jenes neue Merkmal das wesentliche Criterium selbst des ius gentium, so daß demnach das Lettere seine Wesenbestimmung nicht mehr darin fand, ius commune omnium hominum, als vielmehr ius quo omnes gentes utuntur zu sein. Und hier wiederum tritt jenes doppelte Verhältniß zu Tage, daß entweder diese falsche und unwahre Wesenbestimmung dem wabren und wirklichen ius gentium unterbreitet und somit ein lediglich ideelles Pseudo-ius gentium geschaffen wird, wie dies der Fall ist bei Paul. lib. 34. ad Ed. (Dig. XIX, 2, 34.):

Locatio et conductio, quum sit omnium gentium; theils aber auch jenes Merkmal der Gemeingültigkeit einem Rechtss stoffe beigelegt wird, der nicht iuris communis omnium hominum, somit also nicht iuris gentium ift, gleichwohl aber auf Grund jener

« PreviousContinue »