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treu ihrem eigenen ursprünglichen Willen, die Verlobten nicht in nerlich überwinden zu lehren, sondern nur äusserlich durch ander weite Ehe und Tod zu erneuen vermag. Bei alle dem aber tritt nicht nur das Unsymmetrische der Form durchaus nicht störend hervor, sondern das Ganze ist auch durchgängig schön, geistig anregend und lehrhaft und wahrhaft fesselnd geschrieben, und die Frucht der Lectüre, eindringliche Mahnung zur Vorsicht bei Ver löbnissen und Hinstellung eines ganz anderen Lebenszieles, als in Heirathen als solchem liegt, verdient vollste und freundlichste Anerkennung. [G.] 18. Marie Berger, Einsam und arm. Erzählung. Halle (Mühlmann) 1868. 310 S. 8. 1 Thlr.

Eine Erzählung, die nicht mit einer Heirath schliesst, nicht politisirt, nicht christlich salbadert, auch nicht irgend reich ist an geistvollen tiefen Gedanken und Dialogen, deren Persönlichkeiten sämmtlich, mildest ausgedrückt, sehr unvollkommen sind und our schwer unser Interesse zu fesseln vermögen, und deren Verlauf selbst nicht ohne Unnatürlichkeiten bleibt; und dennoch, und zum Theil deshalb eben, ein gutes, ja schönes Buch, welches die Menschen wirklich kennt und kennen lehrt, schlicht und anspruchslos, aber nachhaltig, grosse praktische Wahrheiten ins Herz gräbt, und insbesondere der deutschen Mädchenwelt", der es sich widmet, in der Hauptperson nicht zwar ein anmuthig liebenswürdiges Ideal, sondern ein schönes stolzes, ernstes, strenges, eigenwilliges, un verständiges, vermeintlich gar tugendhaftes und doch gewissenloses, nicht glückliches, einsames und armes Bild zeichnet, ein Bild aber, dessen Geschick, Entwicklung, Arbeit und Entsagung, so viele Schuld daran haften mag, jedes sittlich ernste Mädchen, das nicht blos tändeln und liebeln, freien und freien lassen will, mit tiefer Sympathie anschauen und verfolgen und zum Segen in sich aufnehmen wird.

[G.] 19. Jos. Nordheim, Stadt- und Dorfgeschichten fürs Volk erzählt. Hamburg (Rauhe II.). Ohne Jahr. VIII u. 318 S. geb. 20 Gr.

Der Verf. kennt gründlich das Volksleben und besitzt die Gabe, dasselbe in all seiner sittlichen Unvollkommenheit treu und in volksmässigem Tone zu zeichnen, und seine 4 hier erzählten hausbackenen Geschichten sind wohl geeignet, gewisse Volkskreise durch Beispiel vor sittlicher Fäulniss zu warnen und zu sittlichem Ernst und religiöser Rechtschaffenheit zu erwärmen. Wir bezweifeln indess doch bescheiden, ob das endlose Herumwühlen in Pfuhl (obwohl es hier zurückhaltender auftritt, als in des Verf.'s früheren Knechtsgeschichten"), das gänzliche Eingehen des Tones auf ordinärste Volksweise, und das allerdings volksmässig humoristische, aber durch seine Continuität endlich doch schier unleid

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liche Witzmachen wirklich die geeignetste Form sei, um eine tiefere und nachhaltigere Sympathie der Volksschichten zur Umgestaltung des Volkslebens zu erwecken. [G.] 20. E. Sewell, Entwickelungen. Eine Erzählung. (Als Bd. 9. der Ausgewählten Schriften".) Stuttgart (Steinkopf) 1869. 400 S. 1 Thlr.

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Das schöne „Tagebuch aus dem häuslichen Leben“ der Verfasserin, welches diese Zeitschr. 1869 S. 406 f. zur Anzeige gebracht, hatte schon mit der Confirmation der jugendlichen Hauptpersonen abgeschlossen. Eine Fortsetzung nun geben diese weiblichen Entwicklungen." Zwar läuft selbst hier die ganze Entwicklung der jungen Mädchen, fast aller wenigstens, eigentlich nur aufs Heirathen hinaus, das selbst bei einer 16 jährigen in unnatürlicher Weise schon ganz in den Vordergrund tritt. Doch ist die ganze Darstellung im Tagebuche der gewissenhaften und ungefärbt frommen schreibenden Mutter und Stiefmutter so geistig gehaltreich, so fern von äusserlicher Effectmacherei und dabei doch so innerlich anziehend und zart und so reich an lehrhaftester Unterhaltung, dass auch dies Werk würdig den übrigen der verehrten Verfasserin sich einreiht. Uns unverständlich und wahrhaft unleidlich nur ist es, wie dabei selbst diese sinnig fromme Schreiberin in Einzelnem und Kleinem, namentlich im abscheulichen stereotypen Gebrauch des Wortes anbeten für innig lieben, so schmachvollen Tribut an Zeit und Welt zahlen kann.

[G.] 21. Dr. W. H. Blume, Trost und Mahnung in Thatsachen christlicher Erfahrung gesammelt. Bd. 3. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1868. 216 S.

Die zwei ersten Bändchen dieser Sammlung sind uns nicht zu Gesicht gekommen. Das abschliessende dritte enthält eine Sammlung kürzerer oder längerer erweckender und erbauender Erzählungen als Beläge 1. für Gebetserhörungen und kräftige Glaubenserfahrungen, 2. für göttliche Strafgerichte und Warnungen, 3. für bedeutsame Erweckungen und Bekehrungen, 4. für Glaubens. und Bekenntnisstreue und 5. für den Verkehr mit dem Jenseits, wozu schliesslich noch Mannichfaltiges zukommt. Durch logische Ordnung also zeichnet sich die Sammlung nicht aus. Was aber dargeboten wird, ist in treuem Sinn gesammelt, gibt auch stets gebührend die Quellen der Erzählungen an; und wenn der Her. ausgeber besonders im Hinblick auf seine zahlreichen Kinder und Enkel die Sammlung „betend" veranstaltet hat, ihnen zugleich ,,ein Zeugniss von dem Glauben ihres Vaters und Grossvaters darin niederzulegen", so wünschen und hoffen wir herzlich, dass ihnen und nicht wenigen Anderen eine Glaubensförderung daraus erwachsen möge.

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[G.]

22. Barbara v. Eichstetten. Eine Novelle von der Verfasserin des: last du gelernt? u. s. w." Bevorwortet von Ph. v. Nathusius. (Aus dem Volksblatt für Stadt u. Land.) Halle (Fricke) 1868. VI u. 173 S. 12 Gr.

Eine Erzählung von dem in christlicher Liebe und tiefer Selbstverleugnung ganz aufgegangenen Leben einer edlen christlichen Jungfrau, welches in seinem ganzen Gepräge und den daran geknüpften warmen und lehrhaften Mahnungen eines ernsten nachhaltigen Eindrucks auf jugendliche weibliche Gemüther nicht verfehlen wird, grundverschieden von dem mehr als zweideutigen Erfolge gefühliger unchristlicher und christlicher Liebeleienromane; obwohl unsere Erzählung, so sorgfältig, ja studirt gearbeitet sie auch ist, freilich doch an fesselndem Interesse der Entwicklung schwächer ist. [G.] 23. H. v. R.-T., Die Kinderherberge. Eine wahre Dorfgeschichte aus dem schlesischen Volksleben. 3. verb. Aufl. (Der Ertrag für ein Waisenhaus bestimmt.) Breslau (Dülfer) 1868. 96 S. geb. 7 Gr.

Das Urtheil, welches vor Jahren diese Zeitschr. bei einer früheren Auflage dieses Büchleins ansgesprochen hat, dass die einfache und volksthümliche Dorfgeschichte und gleichsam Familienchronik, die es darbietet, eine der anziehendsten, lieblichsten und geistlich erweckendsten Gaben sei, kann auch heute noch nur wiederholt werden. [G.] 24. Illustrirter Volkskalender auf das J. 1869.

schnitten. Dresden (J. Naumann). gr. 4.

Mit Holz

Was wir in dieser Zeitschr. 1868 S. 790 von der vorjährigen Gestalt dieses vortrefflichen (nur in Bezug auf einige minder wesentliche kalendarische Zuthat noch mangelhaften) Volkskalenders haben rühmen dürfen, ganz dasselbe müssen wir auch von der heurigen empfehlend anerkennen. Unter den gegebenen Darstellungen heben sich besonders biblisch geographische, volksgemäss poetische und die über Katharina Luther hervor.

[G.]

Uebersicht der Verfasser der in diesem Heft be

sprochenen Bücher.

II. Theolog. Liter. Lommatzsch. IV. Werke der Theol. s. d. Ref. Stock. V. Exeget. Theol. Kübel, Rohling. Kühn, Keil, W. Engelhardt. Ziemssen. Grau. IX. Kirchengesch, Kahnis. Stietzing. Geiger, Pressel. Lau. Palmer, Niemann, Nagel. Ziethe. Ungenannt. Josenhaus. Ung. X. Kirchenrecht u. Kirchenpolitie. Ung. Ung. Köstering. Frickhöffer. Ung. XII. Symbolik. Caspari. Detzer. XIII. Apologetik u. Polemik, Peip, Resch, Frank. XIV. Dogmatik. Romberg. Isenberg. XVI. Christl. Ethik. Löber. Kuntze. XVIll. Homilet. u. Ascet. Rautenberg. Dünuebier. Hoffmann. Pape. Romberg, Borghardt, Schmieder u. Kögel, Schlier. Bengel. Spieker. Chatelanat, Lobstein, Ahlfeld, XIX. Hymnologie. Schöberlein. Leitritz. Ung.. Ung. Ung. Mergner. XX. Die an die Theol, angrenz, Gebiete. Wichern Hoffmann, Eilsberger. Rocholl. Riebm, Grube. Wangemann. Grein. Petri. Naumann. Voigt. Wendt. Steffann. Nathusius. Richter, Wackerhagen, Berger, Nordheim. Sewell, Blume. Ungg.

Verantwortlicher Redactor Prof. Dr. H. E, F. Guericke.

Druck von Ed. Heynemann in Halle.

I. Abhandlungen.

Die Schlussvision des Propheten Ezechiel.

Von

Fr. Delitzsch.

Wir befinden uns in der sechsten Periode der alttestamentlichen Geschichte. Der Untergang des Reiches Juda, welches ungefähr 130 Jahr das Reich Israel überdauerte, bezeichnet das Ende der fünften Periode. Beide Reiche erlagen der Uebermacht des oberasiatischen Weltreichs, weil sie es nicht verstanden, eine abhängige Existenz der Vernichtung ihrer Existenz vorzuziehen. Sie wäre erhalten geblieben, wenn sie unter die gewaltige Hand Gottes sich gebeugt hätten. Aber sie sannen auf Abfall. Schon an sich war das Sünde - das Prophetenthum, dieses Gewissen des Staates, verurtheilt diesen Abfall als Treubruch. Aber die Sünde wurde dadurch noch gesteigert, dass sie sich in diesem ihrem Treubruch auf ihre heimliche Allianz mit der westlichen Grossmacht verliessen. Sie stützten sich auf den Rohrstab Aegypti. Sie erwarteten Hülfe von der grossen Nation, welche Jesaia „Grossmaul das still sitzt" nennt. Beide Reiche Gesammtisraels sind an ihrer ägyptisirenden Politik zu Grunde gegangen.

Die Schlacht bei Karkemisch (Circesium) im 4. J. Jojakims hatte gezeigt, wie wenig Aegypten, damals unter der Dynastie der Psammetichiden, gegen den Koloss des chaldaischen Weltreichs vermöge. Jojakim war von Pharao Necho, den Nebukadnezar dort am Euphrat aufs Haupt schlug, auf den Thron erhoben und wurde nun den Chaldäern zinsbar. Dennoch brütete er Abfall und sein Sohn Jojachin hatte es zu büssen. Die Chaldäer eroberten Jerusalem und Jojachin wurde mit Zehntausend seines Volkes nach Babylonien geschleppt. Es war der Kern des Volkes, welcher dem Reiche Juda entzogen ward, um es nicht allein numerisch, sondern zugleich intellektuell und industriell zu schwächen. Unter den damals Deportirten befand sich auch Ezechiel Sohn Buzi's Zeitschr. f. luth. Theol. 1869. IV.

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der Priester. Er wurde in die Ufergegend des mesopotamischen Chaboras versetzt. Dort wohnte er in Tel Abib mitten unter seinen verbannten Volksgenossen. Dort in der Einsamkeit eines Thales ward er zum Propheten berufen, indem ibm Gott der Weltregent und Weltrichter auf jenem von den viergestaltigen Cheruben getragenen wundersamen Thronwagen erschien. Dante im 29. Gesang seines Purgatorio bezieht sich auf diese Vision, wenn er die Beschreibung der vier himmlischen Wesen abbricht, indem er sagt: Ma leggi Ezzechiel, che li dipigne „Lies nur Ezechiel der sie uns vormalt!"

In der That was von Marcus unter den Evangelisten gilt, dass er sich im Ausmalen gefällt, das gilt im grossartigsten Massstab von Ezechiel unter den Propheten. Kein Prophet ergeht sich wie dieser bis ins Kleinste in Genauigkeit des Details, keiner bietet uns so ausgeführte visionäre Gemälde und allegorische Schilderungen. Wie kurz ist Jesaia in C. 6, wo er in wenig Versen beschreibt was er in der Ekstase gesehen; Ezechiel dagegen beschreibt an dem Thronwagen Alles von oben bis unten, von der regenbogenfarbenen Doxa, die den Thronenden umwölbt, bis zu dem Farbenglanz und der Bewegungsweise der über und über mit Augen bedeckten Räder, so dass der Talmud einmal sinnig sagt: Jesaia gleicht einem Grossstädter, welcher den König zu sehen gewohnt ist, Ezechiel aber einem Mann vom Lande, der, wenn er einmal des Königs Einzug zu sehen bekommt, Alles anstaunt und sich gar nicht satt sehen und erzählen kann.

Noch war Jerusalem obwohl geknechtet doch noch nicht zerstört. Noch wohnte ein Rest der Bevölkerung beider Reiche auf heimischem Boden und der Tempel mit seinem Cul tus bestand noch, dieses Herz des Volksleibes hatte noch nicht aufgehört zu schlagen. In dieser Zeit, wo Vieles, aber noch nicht Alles verloren ist, predigen Jeremia daheim und Ezechiel im Ausland ihrem Volke bussfertige Demüthigung unter Gottes verdientes Gericht als das einzige Mittel, dem Aeussersten zuvorzukommen. Es ist bewunderungswürdig, wie diese zwei grossen Propheten, obgleich sie in keinem äusseren Zusammenhang stehen, sich doch in vollkommener innerer Uebereinstimmung befinden. Ohne um die Gunst des Volkes zu buhlen warnen sie selbst auf die Gefahr hin, als Verräther an der Freiheit ihres Volkes zu gelten, vor Abfall von der chaldäischen Oberhobeit. Aber vergeblich unter Zedekia, dem verblendeten König, den Ezechiel einem nach Nilwasser des pharaonischen Adlers lechzenden, aber darüber verdorrenden Weinstock vergleicht und in schaurigen Worten die Aus

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