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Dem BGB und dem neuen HGB fehlen Vorschriften über das Gewohnheitsrecht. Die Entscheidung der Frage, ob und inwieweit in Zukunft gewohnheitsrechtliche Säße verbindende Kraft haben, bleibt daher der Wissenschaft und der Rechtsprechung überlassen. Es wird unterschieden werden müssen:

a) partikuläres Gewohnheitsrecht, das nach Art. 2 RV als Landesrecht Reichsgesehe zwar nicht aufheben, wohl aber ergänzen, b) allgemeines Gewohnheitsrecht, das als Reichsrecht Reichsgesehe sowohl ergänzen als abändern kann.

Damit ist dem Interesse der Reichsgesetzgebung an der Wahrung der durch die neue Kodifikation geschaffenen Rechtseinheit Genüge geleistet, und Art. 2 EG z. neuen HGB hat im Gegensahe zu Art. 1 des alten HGB das Gewohnheitsrecht nicht erwähnt, weil eine Wiederholung jenes Art. 1 die Anerkennung auch des partikulären, das HGB abändernden Gewohnheitsrechts enthalten haben würde.

Soweit aber neben der Reichsgesetzgebung das Landesrecht bestehen bleibt, behält das Gewohnheitsrecht diejenige Bedeutung, die ihm das Landesrecht einräumt. überall da also, wo das Landesgesetz die Anwendung gewohnheitsrechtlicher Normen nicht verbietet oder einschränkt, bleiben nicht bloß die am 1. Januar 1900 bestehenden Gewohnheitsrechtssäße in Kraft, sondern kann sich auch neues Gewohnheitsrecht, und zwar sowohl ergänzendes als abänderndes, bilden (Artt. 2, 3, 55 EG 3. BGB, Art. 15 EG z. HGB).

4. Da das Gewohnheitsrecht übung voraussetzt und häufig eine lange gleichmäßige übung verlangt, so ist die Abgrenzung feines Begriffes gegen andere gleichfalls auf übung beruhende Erscheinungen des Rechtslebens geboten.

a) Wie das Gesez, so enthält das Gewohnheitsrecht eine Rechtsnorm im Sinne des § 550 ZPO. Dadurch unterscheidet sich das Gewohnheitsrecht von der erwerbenden Verjährung, welche subjektive Rechte begründet. Die lange übung fann ferner einen Beweisgrund dafür abgeben, daß ein bestimmtes Rechtsverhältnis entstanden sei, und die sog. unvordenkliche Ver= jährung begründet in den Fällen, in denen sie anerkannt war, sogar eine Rechtsvermutung dafür, daß ein Recht, welches so lange ungestört ausgeübt worden, daß Zeit und Art seiner Entstehung nicht mehr bekannt waren, durch gültigen Titel begründet worden sei. Das Wort Herkommen bezeichnet zwar immer das Bestehen einer längeren übung, aber bald der eines subjektiven Rechtes, bald der eines Rechtssakes.

b) Das Gewohnheitsrecht entsteht durch die Betätigung dessen, was man für rechtlich notwendig erachtet. Durch fortgesette übung des geschäftlich 3 wed mäßigen entsteht ein bloßer Ge

schäftsgebrauch. Geschäftsgebrauch ist daher das bei ge= wissen Geschäften übliche oder Gewöhnliche, das, was das BGB Vertehrssitte nennt. Diese Verkehrssitte dient zur Auslegung zweifelhafter, also auch zur Ergänzung unvollständiger Erklärungen und insbesondere zur Bestimmung der Leistungspflicht (§§ 157, 242). überall da also, wo die Parteien das übliche gewollt haben, ist der Geschäftsgebrauch auch dann maßgebend, wenn ein Teil oder auch beide Teile ihn nicht gekannt haben. Nach § 346 HGB ist unter Kaufleuten auf die Geschäftsgebräuche des Handelsver= fehrs in jedem Falle Rücksicht zu nehmen, unter Nichtkaufleuten oder bei Geschäften zwischen Kaufleuten und Nichtaufleuten fann nur entweder die allgemeine oder die besondere Verkehrssitte gerade desjenigen Kreises (z. B. der Architekten) herangezogen werden, dem der erklärende Teil angehört.) Die sog. Börsenusancen sind zuerst meist bloße Geschäftsgebräuche, es entwickelt sich aus ihnen aber Gewohnheitsrecht, sobald das bisher übliche für rechtsnotwendig gehalten wird. Das letztere wird von denjenigen Börsenusancen, welche von den Börsenorganen tundgemacht sind, ohne weiteres angenommen werden müssen.)

B. § 6. Anwendung des Rechts.

Der Richter hat sowohl das Geset als das Gewohnheitsrecht, soweit dieses verbindlich ist, anzuwenden. Der Anwendung muß die Feststellung dessen, was Recht ist, vorausgehen.

1. Da nur das gültige Gesez Recht schafft, so hat der Richter die Gültigkeit des Gesezes zu prüfen. Die entgegenstehende Anordnung einzelner Verfassungsurkunden schließt das Prüfungsrecht nur gegenüber den auf Grund dieser Verfassung zustande gekommenen Gesehen aus. Die Vu des Deutschen Reichs enthält eine derartige Bestimmung nicht. Aber auch wo sie besteht, ist die Verfassungsmäßigkeit der Verkündung zu prüfen, und wo sie nicht besteht, erstreckt sich die Prüfung auch auf die Verfassungsmäßigkeit des Zustandekommens. Ist in der Eingangsformel des Gesezes auf das Vorhandensein der Erfordernisse gültigen Zustandekommens hingewiesen, so ist zwar damit nicht eine bindende Entscheidung getroffen, wohl aber die Annahme der Gültigkeit begründet. Eine Schranke findet das Prüfungsrecht in der Befugnis der gefeßgebenden Gewalt, sich zum Erlasse des Gesetzes für zuständig

1) S. darüber besonders RG 12, 371. Leonhard: Irrtum bei nichtigen Verträgen, 1882. S. 224 ff. Regelsberger Pand. § 22 II. Danz: Die Auslegung der Rechtsgeschäfte 1897. S. 159 ff.

2) Staub: Komm. z. HGB 6. Aufl. S. 10 ff.

zu erklären. Daher ist heute überall die Prüfung geboten, ob das Landesgesetz gegenüber der Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung, dagegen die Prüfung ausgeschlossen, ob das Reichsgesetz gegenüber der Landesgesetzgebung seine Zuständigkeit zu Recht angenommen hat.

2. Das Vorhandensein eines Gewohnheitsrechts kann aus gerichtlichen Entscheidungen, angesehenen Rechtsaufzeichnungen (Sachsenspiegel!), Zeugnissen von Behörden, Körperschaften oder Einzelnen, auch aus Rechtssprichwörtern entnommen werden.

Das Vorhandensein eines gültigen Gesezes oder eines Gewohnheitsrechtssages ist Gegenstand nicht eines zivilprozessualischen Be= weises, sondern richterlicher Erforschung.1) Denn jura novit curia. Das schließt nicht aus, daß die Partei den Richter bei seiner Forschung unterstükt, ja daß er der Partei diese Unterstügung auferlegt (§ 293 3PO, RG 30, 366; 39, 376).

Zur Feststellung dessen, was als Recht anzuwenden, gehört die Auslegung (Interpretation) d. h. die Erforschung des Sinnes eines gegebenen Rechtssakes. Als freie geistige Tätigkeit läßt die Auslegung sich nicht an feste Regeln binden. Soweit sie nur die Mittel der Sprachkunde zu Hilfe nimmt, nennt man sie grammatische, soweit sie nur den allgemeinen Denkgesehen folgt, logische, soweit sie auf die Stellung des Rechtssakes in dem Ganzen, dem er angehört, sieht, systematische, soweit sie auf die Verhältnisse Rücksicht nimmt, die zum Erlasse des Gefeßes geführt haben, historische Interpretation. Damit sind aber die Mittel der Auslegung nicht erschöpft; Klarheit gibt in vielen Fällen nur der Zweck des Gesetzes. Der Streit darüber, ob das Gesez nur den Willen des Gesetzgebers enthält (subjektive Theorie) oder mit seiner Verkündung sich vom Gesetzgeber losreißt und von seinem Willen unabhängig wird (objektive Theorie), hat geringe praktische Bedeutung, da überall, wo es auf den Zweck, den Willen, den Gedanken des Gefeßes ankommt, doch immer nur der von Menschen mit dem Geseke verfolgte Zwed in Frage kommen. kann. Ist das Gefeß aber einmal erlassen, so hat es auch diejenigen Wirkungen, deren Eintritt den an seiner Entstehung beteiligt ge= wesenen Personen nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Damit erledigt sich die Frage nach der Bedeutung der sog. Gesetzesmaterialien (Vorarbeiten, Gutachten, Motive, Kommissionsprotokolle usw.). Als Zeugnisse über die Gedanken einzelner sind sie wertlos, weil der einzelne nicht Gesetzgeber und der Gesetzgeber nicht das Gesetz ist; lassen sie aber mit Sicherheit den Zweck erkennen, den man mit dem Geseze verfolgte, so bilden sie als Zeugnisse über Grund und Ziel des Gesezes ein Hilfsmittel der Auslegung.

1) über diesen Gegensatz f. meinen deutschen Zivilprozeß 1901. G. 268.

Zur Gesetzesanwendung gehört die Analogie. Sie besteht in der Ableitung von Grundsägen aus der im Geseze bewirkten Rege= lung eines bestimmten Tatbestandes und in der Anwendung des so gewonnenen Grundsages auf wesentlich gleiche Tatbestände. Sie füllt die scheinbaren Lücken des Gesetzes aus und paßt das bestehende Gesez neuen Erscheinungen des Lebens an. Man unterscheidet Ge= seges analogie, wenn man ein einzelnes bestimmtes Geset auf Fälle anwendet, die dieses Geseß nicht regelt, und Recht 3 analogie, wenn man eine Gesamtheit von Rechtssägen auf ein Rechtsgebiet anwendet, für das sie nicht gegeben sind. Sog. Ausnahmerecht (jus singulare) entzieht sich der analogen Anwen= dung auf Personen, Sachen oder Verhältnisse, die außerhalb der vom Ausnahmerecht umfaßten Klassen stehen.

Die Analogie ist häufig nichts anderes als ausdehnende Interpretation. Ist tatsächlich eine Lücke im Geseze vorhanden, d. h. läßt sich auch auf dem Wege der Analogie der vorhandene, aber nicht ausgesprochene Sah entwickeln, so ist zu unterscheiden: entweder hat das Gesetz gewisse Lebensverhältnisse nicht regeln wollen, dann bilden sie keine Rechtsverhältnisse, oder es hat die Regelung nur tatsächlich unterlassen; dann ist so zu entscheiden, wie das Gesetz entschieden haben würde, wenn es selbst die Regelung vorgenommen hätte.

Das BGB, das neue HGB und die mit diesen gleichzeitig in Kraft tretenden Geseze bilden jedes für sich und alle zusammen eine einheitliche Kodifikation. Hieraus folgt, daß Rechtsfäße, die nicht ausdrücklich ausgesprochen sind, im Wege der Analogie nur aus dem Geseze selbst, und wenn hierzu die Unterlagen fehlen, nur aus dem gesamten Gesetzgebungswerte gefolgert werden dürfen. Die An= wendung des früheren, also nicht mehr gültigen Rechtes wäre gesezwidrig. Damit ist aber die Verwertung des früheren Rechts zur Erklärung des neuen Rechts nicht ausgeschlossen. Eine solche Verwertung darf stattfinden, insofern bei Abweichungen des neuen Rechts vom alten im Wege der historischen Auslegung der Grund der Abweichung als Erklärungsmittel dienen kann, und bei übereinstimmung des alten und des neuen Rechts die Ergebnisse der an das frühere Recht geknüpften wissenschaftlichen Forschungen auch für das neue Recht ausgebeutet werden.

C. § 7. Die Einteilungen der Rechtssätze.

1. Diejenigen Rechtsfäße, welche den einzelnen der Herrschergewalt eines mit Befehlsmacht ausgestatteten und also ihm übergeordneten Verbandes (Staat, Provinz, Gemeinde, öffentliche Körperschaften) unterwerfen, wie diejenigen, welche dieses Verhältnis der

Unter- und überordnung an Voraussetzungen knüpfen oder beschränken, bilden das öffentliche Recht. Diejenigen Rechtssäße aber, welche das Verhältnis der einzelnen als gleichberechtigter nebengeordneter Individuen zueinander regeln, bilden das Privatrecht. Daher steht der Staat, soweit er zu einzelnen in Rechtsbeziehungen tritt, die ihn dem anderen gleich stellen, unter den Normen des Privatrechts, und soweit er Privatrechte hat, nennt man ihn Fistus.

2. Vermittelndes (dispositives) Recht (jus suppletorium) sind die Normen, die nur in dem Falle zur Anwendung kommen, daß die Beteiligten selbst nichts anderes festgesezt haben. So z. B. § 109 HGB, der die folgenden Paragraphen für dispositives Recht erklärt. 3wingendes (absolutes) Recht (j. cogens) ist dasjenige, durch das die Festsegung der Beteiligten ausgeschlossen wird.') Da das öffentliche Recht, indem es die Gesamtinteressen verfolgt, die Privatautonomie grundsäßlich ausschließt, nennt man das zwingende Recht auch jus publicum und sagt: Jus publicum privatorum pactis mutari non potest (1. 38 D. de pactis 2, 14). Hierher gehören auch alle im Gesamtinteresse gegebenen Privatrechtsnormen z. B. Formvorschriften (auch z. B. § 619 BGB). Dispositiv sind aber nicht bloß die Rechtsfäße, die zur Anwendung kommen, wenn keine, sondern auch die, welche eintreten, wenn eine unvollständige Festsetung getroffen ist (RG 14, 114). Die dispositiven Rechtssäße sind der Niederschlag aus dem stereotypen Inhalt einer unendlichen Masse von gleichartigen Rechtsgeschäften“.2)

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3. Diejenigen Rechtssäge, welche auf alle möglicherweise vorkommenden, unter fie fallenden Tatbestände Anwendung finden sollen, nennt man abstraktes oder allgemeines Recht. Keinen vollständigen Gegensaß dazu bildet das besondere Recht (jus singulare); dies ist das nicht für schlechthin alle, sondern für eine besondere Art von Tatbeständen, d. h. das für gewisse Klassen von Personen, Sachen oder Rechtsverhältnissen gegebene Recht, wie z. B. die nur für Kaufleute gegebenen Bestimmungen, denn sie sind innerhalb ihres Geltungsbereiches allgemeines Recht. Soweit es Begünstigungen gewährt, spricht man von Rechtswohltaten, beneficia juris, Privilegien in diesem Sinne. Seiner Natur nach widerstrebt es der analogen Anwendung.

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Den Gegensatz zu den allgemeinen Rechtssäten bildet der „In dividualrechtssa", das konkrete Recht, das Privi

1) Ehrlich: Das zwingende und nicht zwingende Recht im BGB. 1899. Stammler: Recht der Schuldverhältnisse. 1897. G. 55 ff. Labandim Arch. f. ziv. Praxis 73, 164. Ebenso Danz: Laienverstand und Rechtsprechung. 1898.

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