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Sprachwissenschaftliches aus den lateinischen

Glossen.

II. 1)

Wie ich in einem ersten Aufsatze eine sprachwissenschaftliche Nachlese aus dem Corpus Glossariorum VI gegeben habe, so möge es mir gestattet sein, in gleicher Weise auch den zweiten Theil des Thesaurus glossarum emendatarum (Corp. Gloss. Lat. VII 1) zum Anlasse eines ähnlichen Aufsatzes zu nehmen, wobei ich, wie in der oben genannten Abhandlung, mit Rücksicht auf die streng alphabetische Anordnung des Glossenmaterials in diesem Bande des Corp. Gloss. auf die Ausschreibung der Citate verzichten werde.

Um auch hier wieder mit dem Verbum den Anfang zu machen, sind zu den früher aufgeführten vulgären Neubildungen zu ferō auch praefertat und zum Perfectum obtulo aufzuführen. Die gleiche Rückbildung vom Perfect aus, wie obtulo, weisen perculo, peperō (Perf. peperi) und pepēdō (Perf. pepēdī) auf, die bei Behandlung des bei Petronius 61 vorkommenden fefellitus auch schon von Heraeus, Die Sprache des Petronius u. s. w. S. 40 aufgeführt sind.

Hinsichtlich der Stammbildung hebe ich zunächst pangitāre hervor, das durch laudare' glossiert ist; es steht zu pangere im gleichen Verhältnis, wie die im früheren Aufsatze zur Rechtfertigung manitāre erwähnten Verba coquitare, auditāre zu coquere, audire u. s. w. Was die Bedeutung anlangt, so genügt es auf den bei Cic. Tusc. I, 34 überlieferten Vers des Ennius

von

Hic vestrum panxit maxima facta patrum

und auf den bekannten Anfangs vers eines Kirchenhymnus Pange lingua gloriosi corporis mysterium zu verweisen. Bemerkenswert ist

1) Vgl. XXII, S. 307-313.

ferner pleminare replere'. Plemināre gleicht in seiner Bildung Ableitungen von n-Stämmen, wie semināre (semen), germināre (germen), ōrdināre (ordin-is), fulmināre u. a. Sollen wir also aus unserem Zeitworte ein sonst unbekanntes *plemen „Füllung, Fülle" erschließen? Oder geht plemināre, wie gemināre von geminus herkommt, auf eine ursprünglich participiale Bildung *plēminus zurück? Ersteres dürfte größere Wahrscheinlichkeit für sich haben. Andere Möglichkeiten der Erklärung vermag ich nicht zu erkennen 1). Weiter hebe ich hervor vaginatus exagitatus'. Dass dieses Part. d. Perf. mit vāgire (vagit luctuat, plorat, plangit' und 'vagitatur violenter flet') nichts zu thuu hat, liegt auf der Hand. Es muss also zu vagus gehören. Freilich macht die Erklärung deshalb Schwierigkeiten, weil das einfache vagare (die Belege bei Wagener-Neue 3 99), neben welchem ein *vaginare nicht auffallender sein kann als etwa lēvigināre neben lēvigāre (Job a. a. O, 336, Hist. Gramm. I, 595), ebenso wie das Deponens vagārī nur die intransitive Bedeutung hat. Da aber das Glossem exagitatus' entschieden auf transitive Bedeutung weist, so muss wohl auch vagare vagināre in transitivem Sinne 'unstät machen' bedeutet haben.

Ferner sei tīrōnicāre erwähnt, das hinsichtlich seiner Bildung ein Seitenstück zu dem Hist. Gramm. I, 594 besprochenen mangōnicāre bildet und keineswegs in tirocinari abgeändert zu werden braucht.

Weiter verdienen unsere Beachtung zwei Verba auf -issāre. virissāre (virissat erklärt mit 'fortiter vel viriliter sapit' oder 'viriliter facit') zeigt die dem plautinischen graecissäre innewohnende Bedeutung. Dagegen hat 'vocissare vociferare' eine etwas abgeschwächte Bedeutung, wie sie auch dem bei Titinius vorkommenden vibrissäre entspricht. Vgl. darüber Hist. Gramm. I, 598 f., wo über diese Verba auf -issāre übersichtlich gehandelt ist.

Hieher scheint mir auch 'salissatio пaλμóc' und 'salisatores quacumque membrorum parte cum salierint divinant' zu gehören. Ich halte beide Worte für Ableitungen eines uns sonst nicht bezeugten Zeitwortes *salissare und meine darum, dass nicht das überlieferte

1) Nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, bin ich erst darauf gekommen, dass schon Job, Le présent et ses dérivés dans la conjugaison latine 337 in ähnlichem Sinne über unser plemināre gehandelt hatte. Jedoch war er geneigt, der Herleitung von *plēmenos den Vorzug zu geben. Aber gerade das von ihm angeführte com-plēmen-tum, welches das geforderte *plemen enthält, hätte ihn dazu bewegen müssen, die Herleitung von diesem Nomen als wahrscheinlicher zu erklären.

salissatio in salis[s]atio, sondern salisatores in salis (s)atores zu ändern ist. Für die Richtigkeit dieser Erklärung scheint mir insbesondere das Glossem von 'salisatores' zu sprechen.

Die Glosse reculicet reculcet', welch letzteres offenbar ein Compositum mit 'calcare' ist, beweist das Vorhandensein einer durch Contamination zwischen 'calcare' und 'calcitrare' zustande gekommenen Mischform calicare'.

Auch 'sublabrare labris sumere' soll nicht mit Stillschweigen übergangen werden, da meines Wissens nur labrātus „mit großen Lippen" bei Charisius nachgewiesen ist.

Erwähnenswert ist sicher auch transgredificio παράγω.

Eine eigenthümliche Bildung ist 'sexit duoioî', das zu sexus (unter anderm auch durch óuoíwcic glossiert) im gleichen Verhältnis steht, wie gestire: gestus (Hist. Gramm. I, 612).

Vulgäre Neubildungen treten uns entgegen in pollīmus für pollēmus, recenseti, das nach der Glosse 'recensiti libri non recenseti, quomodo praebiti non praebeti' als volksthümliche Missbildung untergegangen sein muss. Der Wortlaut dieser Glosse lässt aber auch schließen, dass in volksthümlicher Aussprache recensiti gesprochen wurde, da anderenfalls der Vergleich mit 'praebiti' unmöglich zutreffen könnte. Doch ist die Kürzung kaum als ein rein phonetischer Vorgang aufzufassen, sondern viel eher durch den analogischen Einfluss der übrigen Participia auf -itus hervorgerufen worden. Weiter gehört in dieselbe Kategorie von Vulgarismen 'subinducatus subintroductus'.

Die Glosse votitum devotum religiosum' wird man wohl so auffassen müssen, dass ihr eine Bildung vōtītus nach Art von artītus und anderen Hist. Gramm. I, 534 aufgeführten analogen Ableitungen zugrunde liegt. vōtītus bezeichnet einen, der mit 'vota' zu thun hat", also gewissermaßen instructus votis', wie artitus von Paul. Festi erklärt wird mit 'bonis instructus artibus'.

Das einmal überlieferte vehexit portavit' wird man wohl als eine vulgäre Bildung ansehen müssen, die thatsächlich irgendwo einmal gesprochen worden ist, und nicht nur als Schreibfehler für vexit. Will man aber diese Bildung verständlich machen, so genügt weder die von Rönsch Collectanea phil. 229 gegebene Erklärung, es sei ein „Infinitivstamm-Perfectum", wie 'sepivi' inferciverit' 'fulcivi' und einige andere, noch die von O. Keller Lat. Volksetymologie 139 f. herrührende, die Form vehexit sei durch „Diärese" aus vexit entstanden, welche auf der durchaus unrichtigen Auffassung der Form vehemens beruht, die nach Keller angeblich aus

rēmēns hervorgegangen sein soll. Es genügt im Vorbeigehen auf die Ausführungen von Niedermann, Indog. Forsch. X, 255 f. zu verweisen. Hat die Form vehexit wirklich existirt, so kann sie wohl nur als Nachbildung von perrexit surrexit aufgefasst werden, da zwischen vehere: vehexit wenigstens ein annähernd ähnliches Verhältnis obwaltet, wie zwischen pergere: perrexit, surgere: surrexit. Die Glosse quod si mentirim quodsi mentitus fuerim' hat zwar schon Landgraf, Arch. f. lat. Lex. IX 417 angeführt und mit Recht die archaischen Formen siris sirit sirint verglichen, jedoch letztere fälschlich aus sīveris u. s. w. erklärt. Um der richtigen Einsicht Bahn zu brechen, sei es gestattet darauf hinzuweisen, dass sich die Erklärung dieser Formen bei Solmsen, Stud. z. lat. Lautgesch. 179 (vgl. auch meine Laut- und Formenlehre 3. Aufl. 532) findet. Diese Formen sind Optative des s-Aoristes wie faxim u. s. w.; mentirim ist also an Stelle eines ursprünglichen *menti-s-ie-m (vgl. siem) getreten.

Im einzelnen sei noch hingewiesen auf passo nάeш' oder úпоuévw und das in transitivem Sinne gebrauchte 'tenerascere attenuare'. Neben oppito sospitó, valde saluto' ist auch 'opitens offerens' überliefert. In ersterem könnte man die lautgesetzliche Form für das schriftlateinische oppeto sehen, obwohl allerdings die angegebene Bedeutung 'sospito, valde saluto' sich wohl kaum mit denen von 'oppetere' vereinigen lässt. Besser gienge dies mit der zweiten Glosse, wenn es gestattet wäre zu schreiben: 'op(p) itens (se) offerens'.

Aus dem Bereiche der Nominalcomposition sei zunächst 'oenomelle oivóμeli' erwähnt, dessen zweites Glied nach dem lat. mel mellis umgeformt ist. Dazu gewissermaßen ein Gegenstück in vinoforum pincernarium' neben echtlateinischem viniferum, nach griech. oivocópoc. Ferner das hybride turmarcha qui praeest exercitui'. Die bekannte Form spätlateinischer Bildungen zeigt planopedum кατúɣewv. Eigenartige Formation des erstes Gliedes weist auf 'Saxamerulus петρокóссиoc' 'Felsschwarzdrossel', vielleicht im Anschluss an 'saxatilis' zu erklären. Weiter seien folgende sonst nicht belegte Composita hervorgehoben, die zum Theil gewiss nur zu Zwecken der Übersetzung geschaffen sind: piligerat τpixoloɣeî, zu dessen Bildung man rumigerāre vergleichen mag; pilicrepus und pililudius; plebicola, daneben mit Anschluss an die Diminutive auch plebicula überliefert, wie ausschließlich populicula. An alienigena indigena (Hist. Gramm. I, 418) schließt sich das mit 'postumus' gleichbedeutende postigena. Neben wiederholtem primigenus, schon aus Lucretius bekannt, erscheint auch primignus, während um

Wien. Stud. XXIII. 1901.

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gekehrt für privīgnus auch privigenus oder priviginus üblich gewesen sein muss. Sacrimēnsis, Übersetzung von iepoμnvía; tortioculus, zur Erklärung von strabō gebildet, daneben tortiloquium; triundālis in Verbindung mit gurgite', erklärt durch 'quasi triplici unda'. Ein nicht uninteressanter Beleg für die Recomposition des ersten Gliedes ist sexdigitus, das mehrmals neben einmaligem sēdigitus bezeugt ist.

In das Bereich der sogenannten Zusammenrückung gehören quantocius, tantocius, saviolibantes osculantes', soviel als 'savio libantes'. Volksthümliche Ausdrücke für „heute“ und „übermorgen" sind postpridie pospridie (über die Form vgl. Festgruß aus Innsbruck an die 42. Philologenvers. S. 109 ff.) und postcras. Die Ähnlichkeit der Formen hat zu mehrfachen Verwechslungen der Glosseme geführt, da postpridie auch die Erklärung 'altera die' und postridie neben der regelrechten durch μeo' ǹuépav' und 'cras', ebenso wie postpridie auch die Erklärung 'post tertio die' aufweist, was auf das Vorhandensein einer Form posttridie schließen lässt (auch vom Herausgeber in Klammern gegeben).

Eine ganz singuläre Bildung ist proscariose affabiliter vel iucunde: cari enim graece gratia dicitur'. Mit Recht wird dieses Adverbium vom Herausgeber als eine Ableitung der griechischen Wendung πρòc xápiv' bezeichnet. Die von Heraeus, Die Sprache des Petronius 133 nebst unserem Worte aufgeführten von griechischen Wörtern abgeleiteten Bildungen auf -ōsus sind alle anderer Art (auch charitōsus euxάpicтoc, CIL IX, 3482 von einem in früher Jugend verstorbenen Knaben gesagt). Man wird das Wort wohl nur als eine scherzhafte Augenblicksbildung zu betrachten haben.

Den bekannten durch Doppelsetzung gebildeten Pronominalformen mit verallgemeinernder Bedeutung (vgl. Hist. Gramm. I, 441) schließt sich 'qualisqualis óлоíα aν' an.

Von interessanten Erscheinungen im Bereiche der Wortbildung verzeichne ich pissago pix liquida' (zu messen pissägō, vgl. Hist. Gramm. I, 527, wo diese Bildungen auf -agō besprochen sind), plix πTUXń, tumus in der Glosse tumus locus qui tumet', die der Herausgeber für ein Verderbnis zu halten scheint, da er (tumulus? tumex?) dazu setzt, volvola für gewöhnliches 'convolvulus'. Bemerkenswert sind scamellum oder 'scamillum úпопódiоν', wie volksthümlich statt des schriftgemäßen 'scabellum' gesagt worden ist, indem die Sprechenden offenbar nach dem Muster von cast-ellum : castr-um, flab-ellum : flabr-um auch zu scamn-um ein scam-ellum neu schufen. Diese durch die Glossen als volksthümlich bezeugte

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