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zehnten Jahrhunderts angehöre. Wie konnte das bestehen? Wie kann man solche Dinge wieder pretigen wollen? Wie muß es nicht Jedem einleuchten, wenn er Semler gelesen hat, daß zu einer Zeit, als Geßner, Ernesti, Heyne, Michaelis das Studium der Alten, Geschmack an Kunst und Poesie, verständige Beschäftigung mit den orientalischen Sprachen und Sitten auf Schulen und Universitäten wieder emporbrachten, auch die Bibel und die Theologie anders mußten behandelt werden, als zwanzig Jahre vorher?

Semler war durch seine angeborne Natur und zugleich durch seine Bildung vor allen Andern geeignet, aufzufinden und auf historischem Wege nachzuweisen, was schlaue Betrü gerei den Christen seit Jahrhunderten als alte und ächte Urkunden göttlicher Lehre aufgedrungen hatte. Er war unermeßlich gelehrt und unermüdet fleißig; ausgezeichnet durch einen angebornen Takt, den das Studium der deistischen Schriften, aus deren Widerlegung er sich ein Geschäft gemacht, ausgebildet hatte, war er in den Stand gesezt, jeden frommen Betrug instinktmäßig zu spüren, jede erdichtete und verfälschte Beweisstelle zu entdecken. Um ihn als den Urheber der im achtzehnten Jahrhundert befolgten im neunzehnten verfolgten Lehre vom Bedürfniß und der Nothwendigkeit des Fortschreitens der religiösen Lehrmethode zu charakterisiren, fügen wir zwei Stellen unter dem Terte bei, worin er selbst von seiner Ansicht der Geschichte der Theologie Rechenschaft gibt. In der Einen begründet er den in unserer Zeit wieder, wie zu SemIers Zeit, verwünschten und verfolgten Grundsag des Fortschreitens mit der Zeit; 18) in der andern sagt er geradezu,

18) Semler sagt in seiner Lebensbeschreibung 2te Abtheilung S. 259: Jeder, sowohl der Lehrer als der Christ hat die Freiheit, ein Eclecticus in der Theologie zu sein, indem selbst die Natur aller in Zeichen ausgedrückten` Erkenntniß und ihre Mittheilung an andere, dem Unterschied der Zeit unters worfen ist, oder mit der Zeit aufkommt und wieder abkommt, nicht aber eine Unveränderlichkeit haben kann. Ich sah also die vielen philosophischen und theologischen Schriftsteller an, als fleißige treue Arbeiter, die einen nüßlichen Stoff so gut bearbeiten, als sie zu ihrer Seit es im Stande sind; die aber den Fleiß und die Treue der nach ihnen folgenden Arbeiter nicht

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daß Deutung der Bibel ohne Kritik nichts als ascetische oder dogmatische Saalbaderei sei. 19)

S. 2.

Literaturbriefe. - Erste Jahre der allgemeinen deutschen Bibliothek. Herders Fragmente zur deutschen Literatur. Wieland.

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von Thümmel.

Man hatte im sechsten Jahrzehnt zwei Mal versucht, ein kritisches Tribunal in Berlin oder Leipzig zu errichten, Weiße hatte endlich allein die Leitung der Bibliothek der schönen Wissenschaften übernommen; allein er hatte nicht Ansehen genug, eine unter den damaligen Umständen nöthige Dictatur zu übernehmen. Diese Dictatur ward auf Nicolais Veranlassung und mit seiner Hülfe den sogenannten Literaturbriefen verschafft, welche ausdrücklich bestimmt waren, das ganz ungebildete und nur an elende deutsche Bücher gewöhnte deutsche Publikum in den Stand zu sehen, das Schlechte vom Mittelmäßigen und dieses vom Vortrefflichen an sicheren Zeichen zu unterscheiden. Dieses war 1759 Leffings und Nicolais Zweck bei der Er

unnüß machen können; sie müssen vielmehr zufällige, unvermeidliche Mängel haben, die weder wir noch sie in Vorzüge umschaffen können. Wo wäre sonst der fast unendliche Stoff der Widerlegungen hergekommen, oder so vielerlei Meinungen der patrum, scholasticorum und der einzelnen Schriftsteller? Eben diese unvermeidlichen Einschränkungen führet die Seit ferner mit sich hinter Luthern und hinter allen theologischen Verfassern, noch vielmehr, als in allen bürgerlichen, ötos nomischen u. f. w. Geschäften sichtbar ist; worin doch die Zeit unvermeidlich immer andere Vortheile und Entschließungen für aufmerksame Beitgenossen mit sich bringt.

19) In dem angeführten 2ten Th. S. 336 heißt es: Weil ich die Kritik schon liebete, und es durchaus mir nicht versagen ließ, man dürfe über die Bibel die Kritik nicht so gebrauchen, wie bei Profanscribenten. Ich sah es, daß die protestantischen Theologen des fiebzehnten Jahrhunderts die Kritik eben so wenig, ja noch weniger kannten, áls die meisten römischen Gelehrten; da ein Morinus und Nichard Simon freilich einen neuen Weg bahnten, den aber die beiderseitigen Dogma tiker immer wieder mit neuen Schlüffen zu verschütten sich bemühten.

Zweiter Abschnitt. Sweites Kapitel. neuerung ihres früheren Versuchs, ein förmliches Tribunal der Kritik über den Theil der Literatur zu errichten, der nicht die Gelehrten allein, sondern das ganze Volk angeht. Das neue kritische Journal, welches Nicolai in seiner doppelten Eigenschaft, als Buchhändler und als Freund einer Reformation der Literatur und der Männer, welche diese bewirkten, errichtete, zerfällt in zwei ganz verschiedene Hälften; die Eine bildete eine von Lessing und seinen Freunden angelegte Sammlung ihrer Urtheile über deutsche Literatur; die andere ist eine kaufmännische Spekulation Nicolais. Der Titel des in den Jahren 1759-63 erschienenen Journals ist: Briefe die neueste Literatur betreffend, und die Unternehmung schien allen so bedeutend für unsere Literatur, daß schon in den Jahren 1761-1766 eine neue Auflage in vierundzwanzig Theilen gemacht ward.

Die Hauptarbeiter an diesem kritischen Journal, welche sich durch diese Arbeit die jest allgemein anerkannten, damals sehr oft verkannten, Verdienste um unsere Literatur erwarben, waren Leffing, Nicolai, Mendelssohn, denn was hernach Grillo, Abbt, Resewig schrieben, hält keinen Vergleich mit dem Früheren aus. Sulzer lieferte nur einen Brief, er gehörte nicht zu denen, die wir Reformatoren nennen, denn ihm war ja Bodmer ein Ideal. Das neue Tribunal konnte freilich der Mittelmäßigkeit, welche auf den Beifall vieler Leser ihrer Bücher pochte, deren Zahl bekanntlich in eben dem Verhältnisse größer zu sein pflegt, als der innere Werth der Bücher geringer ist, keinen Damm sehen, aber das Publikum erfuhr doch, daß die Waare, die man ihm bisher als ächt gepriesen, durchaus verfälscht sei. Diese Belehrung bedurfte sogar ein Möser, in Beziehung auf Dusch, da sich Möser nicht scheut, diesen armen Wicht neben Cervantes und Molière zu stellen. Dusch, dessen Familie Burgheim, Karl Ferdiner und andere Romane auch in den folgenden Jahrzehnten noch mehrere Male aufgelegt wurden, war der Hauptschriftsteller, Dichter und Ueberseger von Niederdeutschland, vom Könige von Dänemark geehrt und pensionirt, gegen ihn richtete sich deshalb Leffing ganz besonders, damit man in Deutschland lerne, daß man noch keine

Literatur habe und daß die Dusch keine bilden könnten. Uebrigens zeigten die Kritiker zu gleicher Zeit in diesen Briefen durch ihren Styl und an ihrer Sprache, wie man schreiben müsse.

Ueber die Schärfe der neuen Kritiker wurde lautes Geschrei erhoben, wie wohlthätig aber diese unter den damaligen Umständen war, sehen wir an Wielands Beispiel. Dieser ward

ganz vorzüglich durch die gegen ihn gerichtete scharfe Kritik dieser Briefe und durch bitteren aber gerechten Tadel von frömmelnder Empfindsamkeit und Pinselei und von dramatischen Versuchen, die zu nichts führen konnten, zu einer Gattung Schriftstellerei getrieben, in welcher er Lieblingsschriftsteller der Nation ward. Die Kritiker, besonders Lessing erkannten Wielands Talente und Anlagen, sie tadelten nur die Anwendung derselben, und Wieland selbst deutet bei allem Unwillen über die Berliner Kritik gleichwohl an, daß sie ihr Handwerk recht gut verständen. Wieland nämlich gibt ihnen in seinen Briefen freilich den Schimpfnamen der Frèrons, weil Voltaire seinen Kritiker Frèron überall in Prosa und in Versen als einen Bösewicht darstellte; aber er erkennt zugleich, daß ihre Stimme ihn schrecke. Er sagt in einem Briefe vom Januar 1762:20)

Die Berliner halte ich, sofern ich sie kenne, für Leute, die fich qualifiziren, deutsche Frèrons zu werden. Sie haben Wig, Belesenheit und Bosheit genug dazu. Ich wäre gern mit diesen Herren außer Fehde, wurde aber seit einigen Jahren in die Händel meiner Züricherschen Freunde ohne mein Zuthun verwickelt u. s. w. Die Folge war, daß Wieland sich von den Zürichern trennte und von ihnen und allen Empfindsamen heftig gescholten ward, als er aus den Regionen der Seraphim zu menschlichem Leben und Wesen und aus der Platonischen Republik nach Biberach und Weimar zurückkam. Gern hätte Lessing in diesen Blättern auch Klopstock von Engeln und Thränen, von Wehmuth, Andacht und Dogmatik zur epischen Wahrheit, zur Lebensfreude und rüftigen Thätigkeit gerufen, das durfte er aber in jenen Zeiten nicht wagen, und was er am Messias tadelt, geht blos die Form an.

20) Seite 167.

Schlosser, Gesch. d. 18. u. 19. Jahrh. II. Th. 4. Aufl.

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Wie gut die Kritiker unfruchtbare Nachahmung und falsche Mystik von genialer Schwärmerei und geistreicher Auffassung des religiösen Prinzips in der menschlichen Seele, in der Literatur und in der Geschichte zu unterscheiden wissen, zeigen sie in der Art, wie sie ihren Gegner Hamann beim Publikum einführen. Der schwache Nachahmer Klopstocks, J. A. Kramer, und sein ganzer rührender und gerührter Anhang wird sehr übel behandelt und die Blößen der Schule aufgedeckt; F. C. von Moser, so sehr man sein patriotisches Streben preiset, wird in seiner trüben und geschmacklosen Mystik verständig und wigig bekämpft; Hamann dagegen, so mystisch seine Natur, so unklar seine Gedanken, so wunderlich sein Styl ist, wird als geniale Erscheinung mitten unter allgemeiner Plattheit freundlich begrüßt.

Das Hauptziel von Lessings Streben, welches er, wie wir unten zeigen werden, hernach durch die Dramaturgie glücklich erreichte, war, seine Nation von den Franzosen und von ihrer rhetorischen Poesie zu den Engländern und zur Originalität zu leiten, weil es daran in Deutschland sowohl im Leben, als in jeder Gattung der Literatur gänzlich mangelte. Durch die Literaturbriefe ward Shakespeare, den Wieland hernach, freilich schlecht genug, in ein deutsches Gewand hüllen half, zuerst in Deutschland als wahrhaft großer Dichter bekannt. Dadurch ward die Poesie wenigstens vom Platten befreit. Auch in der Prosa ward durch die Kritik ein anderer Ton erzwungen. Lesfing und seine Freunde bewiesen durch ihre geistreichen und wigigen Kritiken in reinem Deutsch, daß es einen Weg gäbe, der zwischen dem pedantischen und schwerfälligen Styl der Schule, der platten Prosa der Gottschedianer und dem frommen Gewinsel der Bewunderer von Klopstocks Poesie hindurch führe. Mendelssohn richtet sich in den Literaturbriefen nicht auf die schöne Literatur und den Styl, sondern er tritt gegen die Philosophie auf, welche damals in der sogenannten mathematischen Methode steif, geistlos und absprechend nicht blos auf dem Katheder und in Compendien, sondern auch in den zum allgemeinen Gebrauch bestimmten Schriften behandelt ward. Das Beispiel, welches Lessing und Mendelssohn in der im vorigen

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