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geistig ebenso wie für körperlich Kranke, Epileptiker usw. getroffen; nur versagten sie in der Praxis meist, da ihre Handhabung beim Henker lag. in der Tortur entstandene psychische Störungen lag also wenig Wahrscheinlichkeit der Erkennung vor, aber auch sonst war diese selbst durch die Zuziehung der Aerzte, die wohl vorgesehen war, beim damaligen Stand der Psychiatrie kaum gewährleistet. Zudem hatte man auch damals schon eine grosse Furcht vor Simulation, und gerade bei schweren Verbrechen, den crimina nefanda, und bei Hexerei, also gerade dort, wo wahrscheinlich Geisteskrankheit der Täter häufig in Frage kam, war die Anwendung der Schutzbestimmungen ausgeschlossen. Ja eine Reihe psychopathischer Zustände, z. B. Krämpfe während der Tortur, vor sich Hinsprechen, anästhetische Hautstellen, galten direkt als Beweis für Hexerei und verschafften den Opfern die volle Anwendung der Tortur. In der Praxis kamen also die Geisteskranken sicher recht schlecht weg.

Die angeführten gesetzlichen Bestimmungen, deren Kommentare, die einzelnen Prozessgeschichten und deren damalige forense Erörterung sind von grossem Interesse. Chotzen.

273) Ganter: Untersuchungen auf Degenerationszeichen bei 251 geisteskranken Männern.

(Arch. für Psych. und Nervenkrankheiten, Bd. 38, H. 3.)

Es handelt sich um eine einfache zahlenmässige Zusammenstellung der beobachteten Degenerationszeichen, bei deren Aufzählung es dem Leser in der Tat ganz grün und blau vor den Augen" werden kann, wie Verf. selbst bei Besprechung der Farbennuancen der Iris bemerkt (Seite 997). Die Arbeit, die ein grosses Material zusammenträgt, eignet sich für ein zusammenfassendes Referat nicht. Die Oede des behandelten Objektes hat Verf. durch allerlei eingestreute Scherze, die in der ernsten Umgebung des Archivbandes etwas eigentümlich anmuten, zu mildern gesucht. Kalberlah (Frankfurt).

274) W. Fuchs: Ungewöhnlicher Verlauf bei Katatonie.

(Allg. Zeitschr. f. Psych. LXI, 3.)

Auf eine im Zuchthaus ausgebrochene Psychose katatonen Charakters folgte eine 10 jährige Phase scheinbar reiner Paranoia mit Eigenbeziehung und systematisierten Verfolgungs- und Grössenideen. Danach bricht nach einer erneuten Verhaftung wieder eine akute Katatonie aus, die in dreiviertel Jahren zur Verblödung und dann auch zum Tode führt. Das paranoische Bild zeigte gar keine Züge der Verblödungspsychosen, so dass auch retrospektiv die Diagnose Paranoia gerechtfertigt wäre, obwohl einige groteske Wahnvorstellungen auffällig sind. Indessen zeigte es sich, dass während dieser ganzen Phase wahrscheinlich nächtliche abortive halluzinatorische Stuporzustände bestanden, welche die Elemente des Wahnsystems lieferten, das also nicht kombiniert und ergrübelt war, wie beim echten Paranoiker. Diese Stuporzustände bilden also eine Brücke zwischen den beiden akuten katatonen Schüben. Eine genaue Epimnese ergab auch, dass schon vor der ersten offenbaren Erkrankung psychotische Zustände auch von paranoischem Charakter aufgetreten waren, so dass sich also beide akute Schübe als Exacerbationen eines chron. Prozesses darstellen, der danach nur als eine Katatónie mit eigentümlichen Verlauf aufgefasst werden kann. Chotzen.

275) Flügge: Ueber das Bewahrungshaus in Düren. (Allg. Zeitschr. f. Psych. LXI, 3.)

F. berichtet über die Einrichtung des Pavillons für 48 verbrecherische Geisteskranke und geisteskranke Verbrecher bei der Provinzialirrenanstalt in Düren und die Erfahrungen, die mit dieser Unterbringung gemacht wurden. Nach einer kurzen Ruhe im Beginn zeigten sich die Folgen der Anhäufung solcher Kranker darin, dass alle Sicherheitsmassnahmen sich als ungenügend erwiesen und verstärkt werden mussten. Bemerkenswert ist, dass das Material alle Schwierigkeiten und Schrecken verlor, als die Insassen des Umbaus wegen unter die übrigen Kranken verteilt wurden.

Verf. glaubt, dass die Furcht vor der notwendigen strengen Zucht in diesem Annexe auf die Kranken in den Beobachtungsstationen der Gefängnisse und Zuchthäuser erzieherisch einwirken wird. Chotzen.

276) Wende: Ein Fall von traumatischer Psychose.

(Allg. Zeitschr. f. Psych. LXI, 3.)

Verf. schildert eine Krankheitsform, die sich an eine leichte Gehirnerschütterung angeschlossen hat. Neben einer Reihe neurasthenischer und flüchtiger hysteriformer Symptome trat eine geistige Störung auf, die einen. gänzlichen Mangel an Initiative setzte, daneben Verlust des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit mit Konfabulationen, Desorientierung und eine hochgradige Hemmung der Gedankentätigkeit überhaupt, so dass es zu ausgesprochenem Vorbeireden kam.

Trotz dieses und der früher vorhandenen hysteriformen Symptome erscheint Verf. die Auffassung des Krankheitsbildes als hysterischen bei dem jetzigen Fehlen sonstiger hysterischer Stigmata nicht als gerechtfertigt.

Chotzen.

277) Strohmayer: Ziele und Wege der Erblichkeitsforschung. (Allg. Zeitschr. f. Psych. LXI, 3.)

Verf. kritisiert die heutige Art der Statistik der Erblichkeit, die sich begnügt, einzelne Erkrankungen der Verwandtschaft zusammenzustellen, noch dazu auf Grund von Laienurteilen. So erhält man gar keinen Einblick in die Schwere der Belastung eines Individuums und in die Wirksamkeit der Heredität überhaupt; eine solche kann nur die genaue Betrachtung der Ahnenreihe (nach Lorenz) vermitteln. Nur eine genaue Familiengeschichte auf Grund der Ahnentafel kann das Mass einer Belastung und die Wirksamkeit der Vererbung zeigen gegenüber exogenen Momenten und so zu einer Lösung der Erblichkeitsprobleme führen. Damit würde unsere heutige Anschauung über fortschreitende Degeneration einer Revision verfallen, ebenso die über die Verderblichkeit der Inzucht; auch die gesunden Leute erwiesen sich als in erheblichem Masse erblich belastet, eine aufbessernde Amphimixis wirkte der Degeneration entgegen. Verf. glaubt mit Lorenz, dass in einer Ahnentafel mit vielfältiger Verzweigung psychopathische Fälle nur als Ausnahmen vorkommen werden.

Chotzen.

V. Vermischtes.

Im Verlag von F. Enke in Stuttgart erschien das erste Heft des von Ebstein herausgegebenen, von Schreiber redigierten Jahresberichts über die Fortschritte der inneren Medizin im In- und Auslande. Bericht über das Jahr 1901. In diesem Heft, das zum Preis von 4 Mk. käuflich ist, werden neurologische und psychiatrische Arbeiten des Jahres 1901 kurz referiert. Die Berichterstattung liegt in den Händen einer grossen Anzahl von Mitarbeitern. Vollständigkeit ist natürlich auch hier nicht erreicht, namentlich ist das Kapitel ,,Psychiatrie einschliesslich der Paralyse und des Delirium tremens" sehr kurz und unvollständig (nicht ganz drei Seiten!).

G.

Die Vorträge, die auf der 1. „Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1903 gehalten wurden (kurzer Bericht s. dieses Centralblatt 1903, Maiheft S. 380), sind nunmehr im Druck erschienen; sie bilden Heft 1 und 2 des II. Bandes der von Finger, Hoche und Bresler herausgegebenen ,,juristisch psychiatrischen Grenzfragen". (Verlag von C. Marhold, Halle 1904.) Preis 2,40 Mk.

G.

Die Abteilung „Neurologie und Psychiatrie" der 76. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte (Breslau, 18.-24. IX. 1904) weist bis jetzt folgende Vorträge auf:

1. Bielschowsky (Berlin): Demonstration mikroskopischer Präparate aus der normalen und pathologischen Histologie der nervösen Zentralorgane nach neuen Imprägnationsmethoden.

2. Fischer (Prag): Zur Cytodiagnose des liquor cerebro-spinalis.

3. Foerster (Breslau): Das obere Längsbündel des menschlichen Grosshirns. 4. Fuchs (Wien): Thema vorbehalten.

5. Liepmann (Berlin): Ueber Apraxie, mit Demonstration von Gehirn

schnitten.

6. Mann (Breslau): Ueber einige elektrotherapeutische Fragen.

7. Rosenfeld (Strassburg): Stoffwechsel versuche bei abstinierenden Geisteskranken.

8. Pfister (Freiburg): Thema vorbehalten.

9. A. Pick (Prag): Beitrag zur Pathologie des Schläfelappens.

10. F. Pick (Prag): Ueber Erkrankungen der cauda equina.

11. Rothmann (Berlin): Ueber neue Theorien der hemiplegischen Bewegungsstörung.

12. Saenger (Hamburg): Referat über die Lehre von der Stauungspapille.
13. Storch (Breslau): Physiologie des Wollens und Denkens.
14. Stransky (Wien): Zur Lehre von der Amentia.

Geschäftsführer sind: Geh. Rat Wernicke (Halle) und Primärarzt Hahn (Breslau, Einbaumstrasse).

G.

Druck der Anhaltischen Buchdruckerei Gutenberg, e. G. m. b. H., in Dessau.

CENTRALBLATT

für

Nervenheilkunde und Psychiatrie.

Internationale Monatsschrift

für die gesamte Psychiatrie und Neurologie in Wissenschaft und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der Degenerations - Lehre. Herausgegeben im Verein mit zahlreichen Fachmännern des In- und Auslandes

von

Dr. Robert Gaupp, Privatdozent in Heidelberg.

Monatlich ein Heft von 4-5 Druckbogen. Preis des Jahrganges Mk 20. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Verlag von Vogel & Kreienbrink, Berlin SW. 11 und Leipzig.

XXVII. Jahrgang.

September 1904.

I. Originalien.

Neue Folge. XV. Bd.

Aus der Provinzial-Irrenanstalt Dziekanka (Direktor: Sanitätsrat Dr. J. Kayser). Zur Frage der stationären Paralyse.*)

Von Dr. C. Wickel, III. Arzt der Anstalt.

Bei Erörterung der Frage der stationären Paralyse ist es angebracht, zunächst festzustellen, was unter „stationär" verstanden werden soll. Ein Stationärbleiben in gewissem Sinne hat auch bei den sogenannten Remissionen statt, ebenso bei den selteneren Intermissionen, ein Ausdruck, mit welchem wohl meist der Heilung nahe kommende Remissionen bezeichnet wurden.

Zu der Natur der Remission und erst recht der Intermission gehört aber ein deutliches Zurückgehen der krankhaften Erscheinungen auf geistigem und körperlichem Gebiete. Bei dem Stationärbleiben fällt diese Forderung weg. Hier ist das Wesentliche, dass der Krankheitsprozess auf einer mehr weniger vorgeschrittenen Stufe der Entwicklung zum Stillstand kommt.

Gaupp1 hat in seiner bemerkenswerten Abhandlung über die Prognose der progressiven Paralyse die Frage folgendermassen präzisiert: „Gibt es Fälle, in denen die Krankheit eine Zeitlang fortschreitet, eine gewisse

*) Nach einem auf der Jahresversammlung des Nordostdeutschen psychiatrischen Vereins zu Danzig am 27. Juni 1901 gehaltenen Vortrage. Daselbst wurden die Kranken zu Fall II und III vorgestellt.

Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie. September-Heft 1904.

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geistige Schwäche, vielleicht auch einzelne Wahnbildungen, sowie eine Anzahl körperlicher Symptome erzeugt, dann aber auf dieser Stufe der Schädigung Halt macht?"

Ich glaube, dass diese Fassung des Begriffs etwas zu eng ist. Auch diejenigen Fälle, welche erst nach Eintritt der Demenz stationär werden, solche mit reichlichen psychischen und somatischen Symptomen, bedürften der Berücksichtigung.

Wenn Gaupp weiterhin fragt: „Gibt es also Fälle von progressiver Paralyse ohne Progression ?" so ist damit gewissermassen zum Ausdruck gebracht, dass diese Fälle stationär bleiben, nicht mehr fortschreiten sollen.

Ohne Zweifel wird lediglich ein Fall, der dauernd stationär bleibt, einer,,stationären Paralyse" im engsten Sinne entsprechen können.

Die Bezeichnung,,stationäre Paralyse" ist somit überhaupt erst nach dem aus nicht paralytischer Ursache erfolgten Tode des betreffenden Falles berechtigt.

Es scheint mir indes nicht nötig, dass mit der Bezeichnung,,stationäre Paralyse" unbedingt die Vorstellung unveränderlicher Dauer verbunden ist.

Auf einen Fall, welcher durch eine Reihe von Jahren, zwei und besser noch mehr, stationär war, bei welchem schliesslich zunehmender körperlicher und geistiger Verfall, paralytische Insulte etc. den Exitus herbeiführen, bei dem also wieder eine gewisse Progression statthat, wird man doch wohl die Bezeichnung stationäre Paralyse anwenden können, indem man damit einem wesentlichen, charakteristischen Punkte des Gesamtverlaufes Rechnung trägt, ähnlich wie dies bereits der Fall ist bei den Bezeichnungen: depressive, manische, zirkuläre, katatonische, paranoide, demente, galoppierende Paralyse.

Unter stationärer Paralyse wären demnach Fälle von Paralyse zu verstehen, welche auf einer mehr weniger weit vorgeschrittenen Stufe der Erkrankung zum Stillstand gekommen und einen längeren Zeitraum (Jahre) hindurch auf dieser Stufe ohne nachweisbare Aenderung stehen geblieben sind.

In diesem Sinne wird auch von der Mehrzahl der Autoren das Stationärbleiben der Paralyse, die stationäre Paralyse, aufgefasst. Nach den Erfahrungen von Krafft-Ebing's sind selbst in vorgeschrittenen Stadien der Paralyse noch Remissionen und Stillstände von Wochenbis Jahresdauer möglich. Binswanger führt in seinen Untersuchungen über Hirnsyphilis und Dementia paralytica aus, dass es manche Fälle von Paralyse gibt, in welchen der Verlauf auf zwanzig und mehr Jahre protrahiert ist. Es bleibt dann die Erkrankung lange in einem der vier Stadien der Paralyse stationär oder zeigt lange Remissionen. Besonders

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