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der sekundären Demenz eingeschlossen hatte, dass es sich dabei um fertige, im weiteren Leben nicht mehr fortschreitende Krankheitsvorgänge handle. Der Name der Idiotie erfreut sich heute noch allgemeiner Anwendung. Aber auch hier drängt die fortschreitende Erkenntnis dazu, eine durch mehr äusserliche Merkmale umgrenzte Krankheitsgruppe in eine Reihe natürlicher Krankheiten aufzuteilen. Ballet meint, Idiotie sei ein altes, schlechtes Wort und vielleicht die Zeit nicht mehr fern, der es gelingen werde, sie in eine Reihe pathologisch-anatomisch scharf gekennzeichneter Krankheitsprozesse zu trennen. Dem gleichen Gedanken hat auch Kraepelin Ausdruck gegeben.

Kraepelin hat auch bereits den Kretinismus oder die myxödematöse Idiotie aus dem Haufen idiotischer Zustände herausgenommen und zu den Stoffwechselerkrankungen gestellt. Hier hat die klinische Beobachtung der Krankheit den richtigen Platz anweisen lassen. Die Betrachtung der Kachexia strumipriva, des Myxödems, das Tierexperiment, die Erfolge der Thyreoidin behandlung haben ergeben, dass die mangelhafte Leistung oder der Ausfall der Schilddrüse den Kretinismus mit all seinen Symptomen verursacht.

Schwieriger erweist sich die Aufgabe, auf dem Wege der klinischen Beobachtung aus der übrigen Masse der Idiotien natürliche Krankheiten herauszufinden. Gewiss bieten sich uns schon bei der Betrachtung einer grösseren Reihe von Idioten verschiedene, eigenartige und immer wiederkehrende Typen dar. Aber wohl der Umstand, dass hier die Krankheit ein unfertiges Gehirn befallen und seine Weiterentwicklung gehemmt hat, gibt den Bildern so viele gemeinsame Züge, dass dadurch die brauchbaren Unterscheidungsmerkmale offenbar verdeckt werden. Man braucht, um sie zu finden, einen Führer und, wie Kraepelin meint, dürfte dazu die pathologische Anatomie am geeignetsten sein.

Schon die makroskopische Betrachtung der Idiotengehirne zeigt uns eine Reihe eigenartiger, mehr oder minder ausschliesslich der Idiotie zukommender Befunde, z. B. die Mikroencephalie und Makroencephalie, die Mikrogyrie und Makrogyrie, die Porencephalie und Hydrocephalie.

Aber um nur einige davon herauszugreifen: die mikroskopische Prüfung zeigt, dass die Mikroencephalie einesteils durch sehr verschiedenartige destruktive Prozesse bedingt und auch wieder durch Entwicklungshemmungen veranlasst werden kann. Drei Fälle von Mikrogyrie, die ich untersuchen konnte, waren offenbar auf grundverschiedene Weise zustande gekommen, in einem Falle durch eine umschriebene, schwartige Meningitis, wahrscheinlich entzündlicher Herkunft, mit gleichzeitiger Schädigung der Hirngefässe, im zweiten durch Markherde mit sekundärer Atrophie der

Markleisten und der Rinde, im dritten durch eine primäre Rindenerkrankung. Die Porencephalie kann durch Blutungen, Embolien und Encephalitis verursacht werden. Auch der idiotische Hydrocephalus ist wahrscheinlich nur eine Folgeerscheinung vielleicht verschiedener Hirnerkrankungen.

Wir haben also in diesen Leichenbefunden nicht die letzte Ursache der Idiotie, sondern schon die Folgen abweichender Krankheitsvorgänge auf das noch in Entwicklung begriffene Gehirn vor uns.

Um natürliche Krankheiten zu finden, müssen wir aber den Krankheitsvorgängen selbst nachgehen. Nun wollen wir sehen, was hier schon festgestellt ist.

Von allen Gewebsveränderungen der Hirnrinde ist heute die Paralyse am besten bekannt. Man kann ohne Schwierigkeit die paralytische Rinde von den meisten übrigen uns bekannten Rindenerkrankungen unterscheiden. So ist es möglich, wenn uns selbst die klinischen Merkmale im Stiche lassen oder eine sichere Entscheidung nicht gestatten, mit dem Mikroskop die Zugehörigkeit eines Falles zur Paralyse über jeden Zweifel zu erheben. Nach einer Stelle aber bieten sich für die Abtrennung noch einige Schwierigkeiten, gegenüber gewissen Formen der Idiotie.

Schon früher habe ich in einer Arbeit über die Frühform der Paralyse darauf hingewiesen, wie unverhältnismässig häufig dieselbe bei von Geburt an Imbecillen und Idiotischen beobachtet wird. Inzwischen sind mir noch mehr Fälle begegnet. Dass wir es hier wirklich mit Paralysen zu tun haben, beweist die völlige Uebereinstimmung der Veränderungen des Zentralnervensystems mit denen der Paralyse der Erwachsenen. Handelt es sich aber nun hier um Paralysen, die als solche geboren werden?

Ich glaube nicht. Betrachtet man nämlich den Verlauf dieser Fälle genauer, so wird man finden, dass sie nicht nur zu einer Zeit starben, in welcher auch die Frühform der Paralyse, welche früher gesunde Kinder betroffen hat, zum Tode führt, sondern dass auch kennzeichnende paralytische Symptome und ein deutlicher Krankheitsfortschritt sich erst mit dem 6. bis 7. Jahre oder später bemerkbar gemacht haben, einem Alter, in welchem auch bei den anderen Fällen der jugendlichen Paralyse die ersten Krankheitszeichen auffällig werden. Das rechtfertigt wohl den Schluss, dass wir bei diesen Paralysen idiotischer Kinder zwei verschiedene Dinge vor uns haben, einen angeborenen Schwachsinn und eine spätere Paralyse.

In den Gehirnen zweier solcher Fälle haben sich nun ausser den paralytischen Veränderungen einige Herde nachweisen lassen, die be

schränkte Entwicklungshemmungen verursacht hatten. Form und Anordnung derselben rechtfertigen den Schluss, dass sie durch eine primäre Gefässerkrankung bedingt waren. Der Umstand, dass diese eine Entwicklungshemmung nach sich gezogen hatte, beweist die Entstehung dieser Herde in einer frühen Lebensperiode. Der anamnestische Nachweis einer hereditären Lues deutet auf den luetischen Ursprung der Gefässerkrankung hin, der mikroskopisch bei dem Alter der Veränderungen nicht sicher mehr festzustellen war. So dürfte es sich also bei diesen Fällen um echte Paralysen, aufgepfropft auf einen Schwachsinn mit wahrscheinlich hereditärluetischer Grundlage, handeln.

Soweit ich sehen kann, finden sich solche Paralysen nicht häufig, aber auch keineswegs ganz selten in Idiotenanstalten, besonders solchen, welche ihre Kranken aus grossen Städten erhalten. Sie werden noch vielfach verkannt. Sobald man nur auf sie acht hat, wird man sie an dem progredienten Verlauf und den kennzeichnenden Lähmungserscheinungen der Paralyse herausfinden können. Dass auch jugendliche Paralysen ohne angeborenen Schwachsinn als Idioten angesehen und in Idiotenanstalten gebracht werden, weiss ich gleichfalls aus Erfahrung.

Zu diesen Pfropfparalysen gehören wohl auch manche Fälle, die Bourneville als meningitische Idiotie beschrieben hat. Doch finden wir darunter, wie auch sonst in der Literatur neben Fällen, die hinsichtlich der Zeit des Auftretens der ersten paralytischen Erscheinungen und des Eintritts des Todes mit den schon erwähnten übereinstimmen, auch andere, welche schon den ersten Lebensjahren angehören. Sie ähneln in ihrem Verlauf und ihrer Erscheinung vielfach der Paralyse. Auch der Sektionsbefund erinnert an den der Paralytiker, nur erreicht die Verdickung der Pia, die Atrophie des Gehirns und die Rindenschälung, wie es scheint, häufig Grade, wie wir sie bei der Paralyse seltener sehen. Genauere histologische Untersuchungen stehen noch aus. Jedenfalls sind wir noch nicht berechtigt, auch diese Fälle mit der Paralyse zusammenzuwerfen und müssen erst abwarten, ob sich als anatomische Grundlage derselben paralytische, luetische oder irgendwie andersartige Gewebsveränderungen ergeben.

Schon für den Kretinismus trifft nicht die Annahme zu, dass es sich hier um fertige Defektzustände handelt. Sogar der Therapie bleiben hier noch bescheidene Erfolge. Diese Paralysen und paralyseähnlichen Formen zeigen aber einen durchaus fortschreitenden, perniziösen Verlauf.

Am wenigsten passt aber jedenfalls die Vorstellung von der Unveränderlichkeit idiotischer Zustände auf die zuerst von Warren, Tay und Sachs beschriebene amaurotische Idiotie. Hier begegnet uns

der Name Idiotie sogar bei einem nahezu foudroyant oder galoppierend verlaufenden Krankheitsvorgang.

Die amaurotische Idiotie ist eine ungemein scharf gekennzeichnete Krankheit; die einzelnen Fälle zeigen eine ausserordentliche Uebereinstimmung im Verlauf und der Erscheinung. Die ersten Anzeichen der Krankheit machen sich meist im ersten Lebensjahr bemerkbar und nach wenigen Monaten führt die Erkrankung schon zum Tode. Das Kind, das sich bisher gut entwickelt hatte, verlernt wieder zu spielen, zu essen, zu sitzen, beginnt zu speicheln, schluckt schwer, bewegt sich immer weniger und liegt zuletzt da wie eine leblose Masse. Das Verhalten der Reflexe ist wechselnd, das Babinski'sche Phänomen wurde beobachtet. Der Sehnerv atrophiert, in der macula lutea bildet sich als ein besonders charakteristisches Zeichen ein kirschroter Fleck. Häufig werden Spasmen in den Armen und Beinen beobachtet, der Tod erfolgt oft unter Krämpfen. Bis jetzt sind etwa 30 Fälle beschrieben worden, die Krankheit scheint ganz vorzugsweise in jüdischen Familien, öfters bei mehreren Kindern derselben Familie vorzukommen.

Nach allgemeiner Angabe fehlen im Gehirn entzündliche Erscheinungen. Dagegen zeigen sich die Ganglienzellen und Markscheiden. aufs schwerste verändert. Nach den Untersuchungen von Frey und Schaffer handelt es sich dabei nicht um einen gleichmässig ausgebreiteten Prozess, sondern um eine auswahlsweise Beteiligung einzelner Fasersysteme des Mantels, Mittelhirns und Rückenmarks.

So spricht die klinische Erscheinung, wie der anatomische Befund dafür, dass wir hier eine ganz eigenartige Erkrankung vor uns haben, wie wir sie unter den Rindenerkrankungen der Erwachsenen nicht kennen. Ihr genaueres Studium dürfte noch manche pathologisch-anatomisch interessanten Ergebnisse liefern.

Recht merkwürdig ist dann noch ein weiteres Krankheitsbild, das einen idiotischen Zustand zur Folge hat, die hypertrophische tuberöse Sklerose. Was wir darüber wissen, verdanken wir vorzugsweise Bourneville. In Deutschland hat Brückner den ersten Fall beschrieben.

Auch hier greifen die ersten Krankheitsäusserungen oft bis in die ersten Lebensjahre zurück; zuweilen treten sie aber auch erst in den späteren Jahren des ersten Jahrzehntes zutage, und wenn, was wahrscheinlich ist, auch die Fürstner'schen Fälle hierher gehören, dürfte zuweilen die volle Krankheitsentwicklung erst im späteren Leben erfolgen. Schwere und häufige epileptische Anfälle scheinen die Regel zu sein. Lähmungen treten meist im weiteren Verlaufe ein, auch Pupillenstörungen scheinen vorzukommen. Oft werden zwangshafte Haltungen und Be

wegungen beobachtet.

Vielfach handelt es sich um besonders schwere idiotische Zustände. Der Verlauf ist progressiv, bald in stärkerem bald in geringerem Grade. Der Tod erfolgt oft im status epilepticus.

Die Sektion zeigt ein Gehirn, an dessen Oberfläche zerstreut oder in Herden angeordnet Höcker und Buckel hervortreten, die aus derben Gliamassen gebildet sind.

Auch hier stehen wir wieder einem noch nicht verständlichen Krankheitsvorgang gegenüber. Vielleicht aber kann die Beobachtung, dass sich verhältnismässig häufig in diesen Fällen kleine eigenartige Nierengeschwülste gefunden haben, der Vermutung Raum geben, dass es sich auch bei diesen geschwulstartigen Gliamassen um Geschwülste und nicht um eine Gliawucherung handelt, die lediglich einen Ersatz für das untergegangene Nervengewebe darstellt. Weitere Beobachtungen und genauere histologische Untersuchungen werden erst feststellen müssen, ob diese Vermutung zutrifft.

Sind wir so auf zwei Krankheiten gestossen, deren Stellung zu anderen Rindenerkrankungen vorläufig noch nicht geklärt ist, so ist es für eine grosse Zahl weiterer Fälle von Idiotie sicher, dass sie bei verschiedenartigen Herderkrankungen des Gehirns untergebracht werden müssen.

Besondere Beachtung verdient dabei die Encephalitis, weil sie besonders häufig das jugendliche Gehirn betrifft und so eine der häufigsten Ursachen der Idiotie darstellt. Die Encephalitis ist gekennzeichnet durch umschriebene, entzündliche Gefässveränderung mit massenhaftem Auftreten von Körnchenzellen (Gitterzellen) und durch den Untergang des nervösen und gliösen Gewebes im Bereiche des Herdes. Schliesslich wird der Herd durch eine mächtige Gliawucherung in seiner Nachbarschaft von dem gesund gebliebenen Gewebe abgegrenzt. Die Herde haben ihren Lieblingssitz an der Grenze zwischen Rinde und Mark und öfters zeigt sich auf weite Strecken das Rindenblatt von der Markleiste abgehoben. Beide verfallen dann weitgehendster Atrophie. Je nach der Zahl und Ausdehnung der Herde und dem Entwicklungszustande des Gehirnes zur Zeit des Beginnes der Erkrankung sind die Folgen für die weitere Ausbildung des Gehirnes verschieden; es können nur kleine Narben oder grosse porencephalische Defekte übrig bleiben.

Kennzeichnend für diese Fälle scheint ein Beginn mit schweren cerebralen Erscheinungen. Sitzen die Herde in der motorischen Region, so können cerebrale Lähmungen verursacht werden. Im weiteren Krankheitsverlauf sind epileptische Anfälle häufig, zuweilen erfolgt der Tod im status epilepticus, meist aber zeigen die Fälle im weiteren Leben wenig Veränderung.

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