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2. Es ist ein mir unfassbarer Irrtum, wenn man behauptet, dass die zentralen Nervenzellen sterbende resp. gestorbene Organismen sind und keine Lebensäusserungen haben. Durch die einfachsten, nur geeignet angeordneten Experimente kann man sich überzeugen, dass die Nervenzellen auf äussere Einflüsse reagieren, Substanzen verlieren, ihre Formen verändern und sich wieder vollständig zurückbilden können.

3. Es widerspricht einer leicht zu konstatierenden Tatsache, wenn man behauptet, dass mit Farbbasen sich tingierende Substanzen nur im Zellkern, nicht aber auch im Zellleib verschiedener Zellarten nicht nervöser Natur auftreten. 4. Es ist eine durch und durch irrtümliche Behauptung, dass die mit basischen Farben sich tingierenden Substanzportionen des Nervenzellleibes bei der Auflösung von Kernen entstehen, resp. sich aus dem Kernchromatin herleiten.

5. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand behaupten kann, dass im gesunden Zentralorgan Leucocyten die Capillaren verlassen und das Gewebe durchwandern. Eine solche Angabe kann nur jemand machen, der sich mit der Glia nicht näher beschäftigt hat.

6. Es ist für mich unbegreiflich, dass jemand, der sich unter Benutzung der modernen Hilfsmittel mit den Nervenzellen eingehend beschäftigt hat, erklären kann, dass die Nervenzellen das Produkt verschmolzener Leucocyten sind, fortwährend untergehen und dauernd durch Verschmelzung von Leucocyten neu entstehen.

7. Es ist unrichtig, wenn behauptet wird, dass im Zentralorgan der Transport von Farbstoffkörnchen allein durch Leucocyten besorgt wird und dass dadurch die Erscheinung der Ehrlich'schen vitalen Methylenblau-Färbung sofort verständlich wird.

8. Es ist ein Irrtum zu sagen, dass keine wesentlichen Differenzen zwischen den Fortsätzen einer Nervenzelle bestehen. Abgesehen von den morphologischen Differenzen zwischen dem Axenzylinderfortsatz und den Protoplasmafortsätzen zeigt sich darin ein sehr wesentlicher Unterschied, dass die Neurofibrillen anscheinend unverändert den Neuriten verlassen und zu Fibrillen eines Axenzylinders werden, während es noch niemanden gelungen ist, eine Neurofibrille über das Gebiet der Dendriten hinaus zu verfolgen.

Auf die aus diesen Irrtümern abgeleiteten Behauptungen Kronthal's einzugehen, halte ich für überflüssig. Ich habe mich wahrhaftig lange genug mit dem zentralen Gewebe beschäftigt, um zu wissen, dass man jeden Tag Ueberraschungen erleben kann, dass jeder Tag uns neue Erkenntnisse, namentlich auf biologischem Gebiete, zu bringen vermag, die man kaum für möglich hielt und die mit dem, was man bis dahin wusste, oft in grellem Widerspruch stehen. Sollte ich wirklich auf ein so falsches Geleise geraten sein, dass mein Urteil für die Kronthal'sche Behauptungen völlig getrübt ist, so wird es demselben nicht schwer fallen, erdrückende Beweise für die Richtigkeit seiner Angaben beizubringen. An mir soll es dann gewiss nicht fehlen, meinen Irrtum ebenso offen einzugestehen, wie ich seine Behauptungen bekämpft habe.

II. Vereinsberichte.

Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven

krankheiten.

Bericht der Sitzung vom 8. Februar 1903.

Von Dr. Max Edel-Charlottenburg.

112) Henneberg (Eigenbericht).

Henneberg berichtet im Anschluss an die Verlesung des Protokolles über den Sektionsbefund des in der Dezember-Sitzung demonstrierten Kaninchens. Es hat sich um einen Fall von Ohrräude gehandelt. Dieselbe ist bereits seit 1858 bekannt. Sie wird hervorgerufen durch eine parasitäre Milbe (Dermatocoptes caniculi) die sich im äussern und nach Verstärkung des Trommelfelles auch im innern Ohr ansiedelte. In vorgeschrittenen Fällen zeigen die erkrankten Tiere nicht so selten einen Symptomenkomplex, wie er bei dem demonstrierten Tier vorlag. Die Sektion ergab ein völlig intaktes Hirn; auch der Akusticus und die Kerne erwiesen sich als unversehrt. Im äussern und innern Ohr fanden sich zahlreiche Milben und erhebliche Störungen. Durch Einführung von reizenden Substanzen in den äusseren Gehörgang können gleichartige Störungen der Motilität erzeugt werden.

Nach einer Auseinandersetzung zwischen Brasch und Remak und der Ablehnung eines Antrages von M. Rothmann (Hinter die jetzt gültigen Vorschriften über die Wahl des ersten Vorsitzenden ist einzufügen: Jedoch darf dasselbe Mitglied nicht öfter als zwei Jahre hintereinander zum ersten Vorsitzenden gewählt werden.) folgt:

113) Seiffer: Demonstration. (Eigenbericht.) Seiffer demonstriert eine 33 jährige Kranke mit linksseitiger Facialislähmung, deren entweder rheumatische oder syphilitische Ursache dahingestellt bleibt. Es handelt sich um eine periphere Facialisparalyse mit den gewöhnlichen klinischen Symptomen, auf welche nicht weiter eingegangen wird.

Das Ungewöhnliche des Falles liegt auf dem Gebiete des Bell'schen Phänomens, welches hier nicht wie beim Gesunden und bei den meisten Facialisgelähmten in der Weise abläuft, dass der Bulbus beim Augenschluss nach oben und aussen, sondern nach innen bezw. nach unten rollt. Da Lagophthalmus besteht, sieht man diese ungewöhnliche Bewegung des Bulbus sehr deutlich. Der zunächst sich ergebende Einwand, dass eine Lähmung bestimmter Augenmuskeln vorliegen könne, so dass nur noch der Musc. rectus internus, resp. der Musc. rectus inferior funktioniere, wird durch die Untersuchung der völlig normalen Beweglichkeit des Bulbus nach allen Richtungen widerlegt. Der Vortr. demonstriert folgende Versuchsanordnungen: 1. bei aktivem Schliessen der Augen sieht man, dass der Bulbus auf der gelähmten Seite nach innen, auf der gesunden nach aussen rollt; 2. verhindert man passiv den Versuch, die Augen zu schliessen, so sieht man, dass beide Bulbi nach unten rollen; 3. untersucht man jedes Auge einzeln, so rollt beim Augenschluss der Bulbus der gelähmten Seite nach unten, zuweilen auch nach innen, auf der gesunden Seite nach unten; 4. öffnet man passiv die energisch geschlossenen Augen, so sieht man beide Bulbi nach unten gerollt.

Der Vortr. betont, dass ein derartiges Verhalten der Augäpfel beim

Bell'schen Phänomen bisher anscheinend noch nicht beobachtet wurde; aus einer kurzen Revision der Literatur war nur zu entnehmen, dass Bonnier in einem einzigen Falle die Bulbi direkt nach aussen rollen sah. Die Regel ist und bleibt aber die Bewegung nach oben und nach aussen. Wie in dem vorliegenden Falle dieses atypische Phänomen zu erklären ist, bleibt unentschieden. Wie immer, so erfolgt auch hier die betreffende Bewegung völlig unbewusst.

Vortr. betont an der Hand des vorgestellten Falles die interessante Tatsache, dass derartige Reflex- oder Bewegungsmechanismen ausnahmsweise auch in einer der gewöhnlichen entgegengesetzten Richtung ablaufen können.

Weiterhin stellt Seiffer einen 61 jährigen Kranken aus der Poliklinik vor, welcher dauernd einen auffallend langsamen Puls zeigt. Die Pulsfrequenz betrug für gewöhnlich 30 Schläge pro Minute, ohne dass eine nennenswerte Anomalie von seiten des Herzens nachweisbar wäre. Auch die Untersuchung des Respirationstraktus, der Verdauungsorgane, der Nieren, des Urins usw. ergibt nichts besonderes. Endlich befindet sich der Kranke nicht etwa im Rekonvalescenzstadium nach einer Infektionskrankheit oder unter der Einwirkung anderer Faktoren, wie z. B. Gifte, welche eine Pulsverlangsamung bedingen können. Es handelt sich somit um eine idiopathische Bradycardie. Nur von seiten der Arterien lässt sich eine gewisse Rigidität und Schlängelung nachweisen. Subjektive Beschwerden hat der Kranke von seiner permanenten Pulsverlangsamung im allgemeinen nicht; wohl aber war der Grund, warum der Kranke die Poliklinik konsultierte, eine Neigung zu epileptiformen Anfällen, welche seit etwa zwei Jahren aufgetreten ist. Die früheren Anfälle hatten mehr den Charakter starker Schwindelzustände mit Bewusstseinsverlust, allmählich wurden daraus Anfälle mit krampfartiger Starre der Gesamtmuskulatur und Bewusstseinsverlust. Dieselben traten in der ersten Zeit ungefähr alle vier bis sechs Wochen auf, dauerten mehrfach unter kurzen Intermissionen tagelang, wurden aber in der letzten Zeit bei kombinierter Brom-Jodbehandlung an Intensität geringer und an Häufigkeit seltener. Der permanent langsame Puls besteht seit mindestens zwei Jahren, wo er bereits von einem Arzt konstatiert wurde; andrerseits ist nicht anzunehmen, dass es sich um eine kongenitale Bradycardie handelt, da Patient früher gesund war und seiner Militärpflicht genügte.

Vortr. hebt hervor, dass es sich hier um einen der bei uns ziemlich selten beschriebenen Fälle von Stokes-Adam'scher Krankheit handelt, deren Kardinalsymptome eben die Bradycardie und die epileptiformen resp. apoplectiformen Anfälle sind.

Zum Schluss berührt Vortr. kurz die drei Haupthypothesen, welche über die Genese der Krankheit aufgestellt sind, nämlich die Charcot'sche bulbäre Theorie, nach der ein arteriosclerotischer oder Erweichungsprozess in der Medulla oblongata angenommen werden müsste; die cardiale Hypothese, nach welcher eine Herzaffektion die Ursache der klinischen Erscheinungen wäre und endlich die vasculäre Theorie: Erkrankung der peripheren Gefässgebiete. Obwohl in dem vorgestellten Falle versäumt wurde, das von Dehio angegebene Experiment zu versuchen, nämlich Lähmung der peripheren Vagusenden im Herzen durch subcutane Atropininjektion (bei Weiterbestehen der Bradycardie ist dann die intracardiale Ursache bewiesen), glaubt Vortr. doch, dass es sich hier wahrscheinlich um eine Sclerose der Coronargefässe des Herzens handelt und dass diese als Ursache des Krankheitsbildes anzusprechen ist.

Bernhardt hat das Nachuntengehen des Bulbus beim Versuch des Augenschlusses im Falle von Facialislähmung noch nie gesehen; hat aber im Nachtrage der zweiten Auflage seines Buches zwei neuere belgische Arbeiten erwähnt, in denen diese Erscheinung unter 200 Fällen einmal angegeben ist.

Tobi Cohn hat diese Bewegung nie gesehen. In einer Dissertation von Eichelbaum sei eine Reihe von Fällen verzeichnet, in denen der Bulbus nach oben geht, nicht nach oben aussen.

Seiffer erwidert, dass die Bewegung nach oben innen nicht so selten sei; er habe sie mehrere Male gesehen.

Remak hält die Erscheinung für interessant, weil beim Blick nach unten und dem Versuch, das Auge zu schliessen, der Kranke trotzdem sieht, während man beim Abweichen des Bulbus nach oben aussen an einen Selbstbetrug des Kranken denken könnte; dieser habe dann das Gefühl, als wenn das Auge geschlossen wäre, weil er bei dieser Einstellung nichts sehe. Zunächst halten die Kranken das Auge gerade, erst bei forciertem Augenschluss trete wegen der Absicht, nichts zu sehen, jene Bewegung ein.

Schuster schien beim Zurückbiegen des Kopfes der Kranken der Bulbus ein wenig nach unten zu gehen.

Seiffer hat die Kranke in allen Haltungen untersucht und nur ganz geringe Schwankungen in der Bulbusbewegung bemerkt. Werde das Auge bei Gesunden nur leicht geschlossen, so bleibt es grade stehen, bei energischem Schluss rückt der Bulbus nach oben. Die Frage, ob die Kranken sich täuschen, sei schwer zu beantworten.

Bernhardt erwidert Remak, dass gesunde Menschen, wenn sie ihr Auge fest schliessen, es ebenso nach oben aussen oder innen rollen wie bei Facialislähmung. Die Absicht, nicht sehen zu wollen, liege bei Gesunden nicht vor.

Liepmann erwähnt, dass bei ganz andern Synergismen dasselbe geschieht. Fordere man bei Radialislähmung jemanden auf, stark zu strecken, so erscheint die Bewegung des Handschlusses. Ein psychisches Moment fehle hierbei.

Remak ist bekannt, dass das Auge bei Gesunden nach innen und oben geht. Ihm ist aber aufgefallen, dass dies bei frischen Facialislähmungen nicht vorhanden ist, sondern erst nach einiger Zeit auftritt. Auf Grund dieser Beobachtung habe er sich die angegebene Erklärung gemacht.

Zum zweiten Fall bemerkt Krause, er habe einen Fall acht Monate hindurch beobachtet, welcher manche Verschiedenheiten bot und bei dem der Puls bis 22 und 16 Schläge in der Minute verlangsamt war. Trotz wiederholter Atropinanwendung wurde keine Vermehrung des Pulsschlages erzielt; also bestand sicher eine cardiale Bradycardie als Ausdruck von Herzschwäche. Mitunter trete dieselbe nach erschöpfenden Krankheiten in die Erscheinung. Warum das Herz in einem Fall arythmisch, im andern verlangsamt schlägt, sei nicht klar.

Rothmann fragt, ob Pulskurven angelegt seien. Ihm scheinen manchmal irreguläre Schläge aufzutreten. Das würde mehr für eine Erkrankung des Herzens sprechen.

Seiffer hat Pulskurven noch nicht aufnehmen können. Der Kranke habe zeitweilig einen doppelschlägigen Puls gehabt, dann ein langes Intervall, einen Schlag, langes Intervall, dann wieder einen Schlag. Das wechsele ab.

114) Wertheimer stellt ein junges Mädchen mit Tabes dorsalis vor, deren anwesende Mutter gleichfalls an Tabes leidet. Das 19 jährige Mädchen war bis zum 16. Jahr gesund, bekam zuerst Beschwerden beim Gehen, dann lancierende Schmerzen, Incontinentia alvi, ataktischen Gang, Kyphoscoliose, Romberg, Pupillenlichtstarre, Fehlen der Knie- und Achillessehnenreflexe, Lagegefühlsstörung usw. Die 52 jährige Mutter ist seit fünf Jahren krank, hatte mehrere Monate Doppelsehen, seit vier Jahren stechende blitzartige Schmerzen in Brust und Rücken. Es bestehen Parästhesien, Gefühl von Ameisenkribeln in den Fingerspitzen, die Achillesphänomene fehlen, der rechte Patellarreflex ist schwach, links fehlt er. Umstände, welche für eine syphilitische Affektion der Eltern sprechen, sind: 1. dass der Vater 1895 an spastischer spinaler Lähmung gestorben ist, 2. dass die Mutter vor diesem Kinde einen Abort gehabt hat, 3. dass dasselbe in den ersten Monaten eine entzündliche Affektion am Ellenbogen gehabt hat, welche auf Sublimatbäder rasch zurückging, nachdem sie sämtlichen therapeutischen Massnahmen getrotzt hatte. Also ist Lues congenita tarda wahrscheinlich. Es fehlt die Atrophia nerv. opt., welche sonst bei Tabes im jugendlichen Alter vorhanden zu sein pflegt.

115) Cornelius (Meiningen): Die sogenannten funktionellen Nervenerkrankungen vom Standpunkt der Nerven (knoten) punktlehre aus betrachtet.

Vortr. bestreitet die übliche Auffassung einer Neuralgie als Ursache einer unbekannt wodurch entstandenen pathologischen Umstellung der Nervenmoleküle". Der Begriff der funktionellen Nervenkrankheiten sei ebenso unklar, wie ihre pathologisch-anatomische Ursache unbekannt. Der geläufigen Ansicht, dass die Beschwerden der Nervösen entweder rein zentral oder nur eingebildete seien, tritt Cornelius ferner entgegen. Die Existenz eingebildeter Schmerzen erkennt er überhaupt nicht an; man vermöge rein suggestiv nur solche Schmerzen zu erzeugen, welche bereits vorher prädisponiert vorhanden seien. Alle Erscheinungen der funktionellen Nervenerkrankungen liessen sich durch seine Theorie leicht erklären. Dieselbe gipfelt ,,1. in der Annahme von dem den ganzen Organismus im Nerven durchfliessenden, in ewigen Wellen (der Erregung und Beruhigung) befindlichen Nervenstrom; 2. in der Annahme einer rein physikalischen (meist anatomischen) Behinderung dieses Stromes, die sich an ganz bestimmten Punkten (Nerven (knoten)punkten) vorfindet". Periphere Reize finden nicht allein im Zentrum, sondern auch an ganz entfernten peripheren Stellen ihren Widerhall, die Höhe der Erregungswelle hängt aber auch von dem Spannungsgrade des Nervenstroms ab, nicht bloss von der Stärke des Reizes. Cornelius unterscheidet den sensiblen, motorischen, vasomotorischen und sekretorischen Nervenknotenpunkt. Die Blutfüllung hat nach Ausführung des Vortr. nur eine sekundäre Bedeutung für die nervösen Erscheinungen. Die sieben von ihm aufgestellten Gesetze der Nervenpunktlehre lauten:

,,1. Klagt jemand über einen durch sichtbare Gründe (Verletzungen, Entzündungen usw.) nicht zu erklärenden peripheren Schmerz (allgemeinhin Nervenschmerz genannt), so ist, die Richtigkeit der Angaben des Betreffenden vorausgesetzt was sich meist leicht wird feststellen lassen als Ursache dieses Schmerzes stets ein typischer Schmerz- oder Druck(Nervenknoten) punkt vorhanden, mit dessen Beruhigung auch der betreffende Schmerz sofort ver

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