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handlung hätten wir ein symptomatisches Mittel mehr für die Behandlung der Krankheit. Gewiss, symptomatisch bleibt solche Behandlung bei dem zentralen Sitz des Leidens ganz und gar, aber darum ist sie nicht wertloser als etwa die günstige elektrische Behandlung bei einer diabetischen Lähmung, wenn wir die Lähmung bessern wollen. Ich muss gestehen, dass ich mich bei Kenntnis der modernen Auffassung vom Werte der Elektrizität bei Angiotrophoneurosen ungern an die Faradisation machte; dem trostlosen „,ut aliquid fiat" sollte genügt werden und die freudige Enttäuschung wuchs von Tag zu Tag. So möchte ich empfehlen, sich wieder etwas vertrauensvoller an die elektrische Behandlung der Raynaud'schen Krankheit heranzuwagen, und die Hoffnung aussprechen, dass sich auch in weiteren Fällen gute Resultate bei konsequenter Anwendung faradischer Bäder verzeichnen lassen.

Nachtrag.

Während die vorstehende Arbeit in der Redaktion lagerte, verlief unter meiner Beobachtung und Behandlung ein weiterer Fall mit Raynaud'scher Krankheit. Von der Bahndirektion wurde mir ein Unfallkranker, dessen Unfall fast ein Jahr zurücklag, zur Untersuchung überwiesen, der vierzehn Tage nach Aufnahme der Arbeit als Schaffner die Tätigkeit wegen Erscheinungen an den Händen wieder aufgeben musste. Zuerst verlor er jedes Gefühl in den Fingern der rechten Hand, mit welcher er die Coupierzange führte; bald wurden Finger und Hand weiss, wie tot, um dann blau und rot zu werden. Links setzten die Störungen acht Tage später ein. Ich beobachtete den Mann so lange ohne Eingreifen, bis Anfälle sehr hochgradiger Syncope und Asphyxie ausgebildet waren. Mit Pravaznadeln stach ich einmal tief in Finger und Hände bei Syncope ein; nichts von stärkerem Schmerz wurde geäussert; kein Tropfen Blut entrann den Stichkanälen. Als nach zehn Minuten die Syncope wich und Asphyxie eintrat, floss tiefdunkles Blut aus allen Oeffnungen, so stark, dass ich den Patienten mit einem Watteverband entliess; er war beunruhigt über sein schwarzes Blut. Die Behandlung nach der vorstehend mehrfach wähnten Methode wurde aufgenommen, als sich etwa sechs schwere Anfälle von Syncope mit Asphyxie in 24 Stunden einstellten. Mit geradezu verblüffender Pünktlichkeit gingen nun Häufigkeit, Umfang und Dauer der Anfälle zurück. Nach dem ersten elektrischen Handbad blieb Patient von morgens 11 Uhr bis zum nächsten Morgen 9 Uhr ohne Anfall; in den nächsten Tagen meldete sich meist gegen Abend ein zweiter Anfall; sichtlich verloren sich die Störungen in konsequenter Besserung. Auch in diesem Fall unterbrach ich mit Absicht die Behandlung; sofort steigerten sich die Beschwerden derart, dass Patient selbst um Wiederaufnahme der Bäder nach sechs Tagen bat. Dann ging die Besserung ununterbrochen ihren Weg. Nach acht Wochen waren die letzten sichtbaren Spuren des Leidens verschwunden; merkwürdiger Weise hielt sich die Störung links, wo sie nie so hochgradig wie rechts war, am längsten. Auftreten und Anwachsen der Raynaud'schen Symptome, deren progessives

Zurückweichen unter der Behandlung wurden ebenfalls vom Bahnarzt mit Interesse verfolgt, der vor einem Monat den Mann als geheilt und arbeitsfähig meldete. Es hat sich nichts Krankhaftes seither gezeigt.

II. Vereinsberichte.

Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten.

Bericht der Sitzung vom 14. Dezember 1903.
Von Dr. Max Edel-Charlottenburg.

In Ergänzung der Diskussion zu dem Vortrage des Herrn Henneberg in der letzten Sitzung dieser Gesellschaft demonstriert

37) Oppenheim den von ihm beschriebenen Reflex an einem Kinde. Er fügt hinzu, dass der von den französischen Autoren geschilderte Reflexvorgang von dem seinigen durchaus verschieden sei. Jene percutieren die Haut der Oberlippe, während er die Schleimhaut der Zunge bestreiche. Es handle sich nicht wie dort nur um eine Kontraktion des Orbicularis oris, sondern um eine Summe von Reflexerscheinungen in der Kau-, Zungen-, Schlund- und Lippenmuskulatur. Während jene endlich das Phänomen bei Dementia paralytica, alcoholica u. a. gesehen haben, habe er es bei einer ganz bestimmten Form der Diplegia spastica und in einem Fall von Coma epilepticum beobachtet. Da eine ähnliche Erscheinung beim Affen durch Reizung einer bestimmten Stelle der Rinde zustande komme (Dr. Vogt), so scheine der Vorgang eine kortikale Auslösung zu haben. Das demonstrierte vierjährige Kind ist mittels Zange geboren, kann den Kopf nicht aufrecht halten, seine Glieder nicht bewegen; das Schlucken ist erschwert. Die Sprache fehlt und Speichelfluss besteht. 38) Cassirer: Krankenvorstellung.

Cassirer stellt einen 49 jährigen Mann aus der Oppenheim'schen Poliklinik mit Störung der Bewegungsfähigkeit vor. Bis 1900 gesund, merkte er von da ab eine Schwäche der Arme, die allmählich zunahm, so dass er nach 1/2 Jahr nicht mehr arbeiten konnte. Später hatte er die Sprache nicht mehr so in der Gewalt, war schwer verständlich, verschluckte sich leicht bei festen Bissen. Es besteht eine tuberkulöse Lungenaffektion. Der mässig genährte Mann zeigt an gewissen Muskeln des Körpers Atrophien. Die Gegend der Deltoidei ist beiderseits abgemagert. Die Oberarme zeigen eine Volumenabnahme. Beiderseits fehlt das Muskelrelief des Supinator longus. Im Gegensatz dazu steht die starke Entwicklung des Thenar und Hypothenar. Im Rücken sind die fossae supra- und infraspinatae abgemagert. Es treten Konturen der Rhomboidei hervor, die sonst nicht so deutlich zu sehen sind. Also ist eine Atrophie des unteren Cucullarisdrittel vorhanden. Funktionell bestehen erhebliche Störungen. Der leiseste Druck genügt, um die Bewegungen aufzuheben. Eine Schwäche der Unterarme und Kleinhandmuskulatur ist zu konstatieren. Der Gegensatz zwischen dem verhältnismässig guten Muskelvolumen und der geleisteten Kraft

ist hier auffällig. Weiter sind bulbäre Symptome in Sprache, Schlucken, Kauen nachweisbar. Gesichtszüge schlaff, Augenschluss unkräftig. Stimmbänder schliessen nicht genügend. Es sind also dystrophisch-paretische Veränderungen in gewissen Muskelgruppen vorhanden, neben denen aber in anderen myotonische Prozesse bestehen; eine Kombination, wie sie von Erb, Gaupp u. a. beschrieben ist und nicht als zufällig angesehen werden kann. In einzelnen Muskeln entspricht die mechanische und elektrische Erregbarkeit durchaus dem Bilde der Myotonie, ebenso wie die Art der funktionellen Behinderung. Vortr. glaubt, dass wahrscheinlich eine Myopathie von sonderbarer Verteilung vorliegt, insofern als die bulbären Symptome im Vordergrund stehen. Von Interesse wäre das Zusammenvorkommen des myotonischen und myopathischen Prozesses, der in der einen Muskelgruppe zu einer Art der Störung, in der anderen zur anderen geführt habe, ohne dass man sich über die Genese genauere Vorstellungen bilden könnte.

39) Seiffer: Krankenvorstellung. (Eigenbericht.)

Seiffer stellt einen Kranken mit Manganvergiftung vor.

Der Patient, zurzeit 34 Jahre alt, ist seit 3/2 Jahren als Müller in einer Braunsteinmühle im Harz beschäftigt gewesen und erkrankte vor zwei Jahren unter den Symptomen von Nachtschweiss, unwillkürlichen Nick- und Schüttelbewegungen des Kopfes, Schwäche und Schwere der Arme und Beine und allgemeiner Mattigkeit des ganzen Körpers. Dazu kam im weiteren Verlauf Speichelfluss, Kraftlosigkeit der Stimme und Zwangslachen. Die Symptome hatten allmählich zugenommen, so dass der Kranke etwa 1 Jahr nach Beginn der Erkrankung völlig arbeitsunfähig wurde.

Hereditäre Belastung, andere frühere Krankheiten, speziell auch Syphilis und Alkoholmissbrauch liegen nicht vor.

Die Beschäftigung des Pat. bestand in dem Mahlen des Braunsteins, wobei der feine Braunsteinstaub die Luft der Arbeitsräume erfüllt und von den Arbeitern teils eingeatmet, teils mit dem Speichel und den Speisen verschluckt wird.

Der gegenwärtige Befund ist folgender:

Starrer Gesichtsausdruck, häufiges Zwangslachen und Zwangsweinen, Sprache verwaschen, eintönig und von hohem Ton, ohne Lähmungserscheinungen am Kehlkopf, Schwerbeweglichkeit der Zunge, Erschwerung rascher Kopfbewegungen, z. B. beim Nicken und Schütteln, Erschwerung der feineren Handbewegungen und der Schleuderbewegungen der Arme, dabei deutliches Schütteln, aber kein eigentlicher Intentionstremor, Herabsetzung der groben Kraft, schwere Retropulsion, so dass Pat. beim Versuche auf den Hacken zu stehen oder rückwärts zu gehen, sofort hintenüberfällt; Gang spastisch paretisch, am rechten Bein deutlicher ausgeprägt als am linken, passives Zurücksinken beim Niedersitzen, Erschwerung rascher Körperwendungen, Steigerung der Sehnenreflexe und eigentümlicher kleinschlägiger Fussklonus. Zeitweilig besteht Speichelfluss und unwillkürliches Nicken mit dem Kopfe.

Nicht vorhanden sind: Störungen der Sensibilität, weder objektive noch subjektive, der Blasen- und Mastdarmfunktion, der Potenz und der elektrischen Erregbarkeit der Muskulatur. Es fehlt auch das Romberg'sche und das Babinski'sche Phänomen, jede Spur von Ataxie, irgend welche Zeichen psy

chischer Störung, abgesehen von dem Zwangslachen und -weinen, insbesondere besteht kein Intelligenzdefekt, sowie keine Störungen der höheren Sinnesorgane; speziell das Verhalten der Pupillen, des Augenhintergrundes, des Gesichtsfeldes und der Augenbewegungen ist durchaus normal. Nur bei extremen Blickrichtungen nach der Seite zeigen sich ganz geringe nystagmusartige Zuckungen.

Auch die inneren Organe weisen keinen krankhaften Befund auf, nur die Pulsfrequenz ist etwas gesteigert: gewöhnlich 90-100 p. M.; keine Arteriosklerose; keine Veränderung der Blutbeschaffenheit. Urin frei von Eiweiss, Zucker und Mangan.

Nach dem Berufe, der Entstehung, dem Verlauf und dem Vergleich des Krankheitsbildes mit den von Couper, v. Jaksch und Embden beschriebenen Krankheitsfällen kann es keinem Zweifel unterliegen, dass es sich hier um eine chronische Braunstein- resp. Mangan vergiftung handelt.

Der Vortr. stellt diese Art der Metallintoxikation den anderen uns bekannten Metallvergiftungen an die Seite, erwähnt die bisher in der Literatur beschriebenen ähnlichen Fälle, deren Zahl sich auf ca. 15 beläuft, so dass gegenwärtig etwa 16 Fälle dieser Art bekannt sind.

Wenn auch eine sehr weitgehende Aehnlichkeit mit dem Krankheitsbilde der multiplen Sklerose nicht zu verkennen ist, so bestehen doch mehrere Differenzpunkte.

Immerhin muss die anatomische Grundlage des vorgestellten Symptomenkomplexes ähnlich gedacht werden wie bei der multiplen Sklerose, und es ist von ganz besonderem Interesse, dieses, in allen mitgeteilten Fällen so typische, und der Sklerosis multiplex so ähnliche Krankeitsbild auf eine ganz bestimmte Ursache zurückführen zu können.

Vortr. weist darauf hin, dass die Erkrankung des vorgestellten Pat. bereits von Kreisarzt Dr. Friedel in Wernigerode erkannt und in der Zeitschrift für Medizinalbeamte kurz mitgeteilt worden ist.

Ausführliche Publikation erfolgt demnächst in den Charité-Annalen. 40) Rothmaun (vor der Tagesordnung): Demonstration eines Falles von einseitiger multipler Hirnnerven lähmung. (Eigenbericht.)

Bei dem vorzustellenden 38 jährigen Eisenbahnarbeiter sind sämtliche Hirnnerven der rechten Seite mehr oder weniger befallen. Er hatte vor siebzehn Jahren ein Ulcus molle, ist verheiratet, hat vier gesunde Kinder. Nach anfänglichen Magenbeschwerden mit Erbrechen im Januar 1903 kam es im Juli zu Doppeltsehen beim Blick nach linksauf, bald darauf zu schwerden. Ende November wurde die Stimme heiser, das rechte Augenlid fiel herunter; es entwickelten sich rechts Kaustörungen.

Die rechtsseitigen Hirnnerven zeigen folgendes:

I. Geruch leicht herabgesetzt.

II. Neuritische Opticus-Atrophie ohne Sehstörung.

III. und IV. total gelähmt.

V. In allen sensiblen Aesten und im motorischen Teil deutliche Parese.
VI. Unsichere Bewegung des Bulbus beim Blick nach aussen, sonst normal.
VII. Deutliche Parese in allen Aesten.

VIII. Wegen alten eitrigen Mittelohrkatarrhs nicht zu prüfen.

IX. Rechts Schluckstörungen, Gaumensegelparese und Hypästhesie des Rachens. Geschmack für alle vier Qualitäten aufgehoben.

X. Rechtes Stimmband in Mittelstellung mit geringer Excavation. Hypästhesie des Larynx (Recurrens gelähmt, Parese des Laryngeus sup.). An den übrigen Vagus-Aesten nichts Abnormes.

XI. Innerer Ast bei den Störungen von IX und X mitbeteiligt. Aeusserer Ast leicht affiziert (geringe Parese des Cucullaris und Sternocleidomastoideus). XII. Geringe Parese des Hypoglossus. Beim Herausstrecken weicht die Zungenspitze nach rechts ab bei verschmälerter linker Zungenhälfte.

Die linksseitigen Hirnnerven sind völlig normal.

Allgemeinbefinden gut. Leichte Schmerzen in den linksseitigen Extremitäten. Im Urin Spur Albumen; keine Polyurie. Sonst normaler Befund. Vortr. schliesst eine Neubildung an der Schädelbasis und eine Neuritis Die auf eine syphilitische meningeale Erkrankung an der Hirnbasis zu stellende Diagnose dürfte bei der eingeleiteten Schmierkur ex juvantibus ihre Bestätigung erfahren.

aus.

41) Henneberg demonstriert ein Kaninchen mit Zwangshaltung des Kopfes und lokomotorischen Störungen. (Eigenbericht.)

Der Symptomenkomplex hat sich seit Juni 1903 in langsam progressiver Weise ohne erhebliche Störung des Allgemein befindens entwickelt. Das Tier zeigt jetzt dauernd eine Drehung des Kopfes um die Längsachse derart, dass die rechte Kopfhälfte, bisweilen die rechte Stirnhälfte dem Fussboden aufliegt. Das linke Auge ist weit geöffnet, der Bulbus ist dauernd nach oben und aussen gerichtet, rechts besteht Ptosis und Deviation des Auges nach unten und innen. Cornealreflex und Fundus normal. Emporgehoben bewegt das Tier die Beine in gleichmässiger Weise. Beim Sitzen wird das linke Vorderbein gestreckt und abduziert gehalten. Das Tier lässt sich leicht nach rechts umwerfen und verharrt dann auf der rechten Seite liegend regungslos; wendet man die linke Seite, so treten sofort Rollbewegungen um die Längsachse auf. Das Tier kann sich nicht vorwärtsbewegen, es geht bisweilen etwas rückwärts, in der Regel treten Zeigerbewegungen im Sinne des Uhrzeigers auf. Vortragender lässt es unentschieden, in wie weit die Symptome von einer Affektion des Labyrinthes oder des Pons abhängig sind. In der nächsten Sitzung soll über den anatomischen Befund berichtet werden.

42)

es auf

Kronthal: Ueber die Beziehungen des Nervensystems zur

Psyche.

Der Vortr. ist auf Grund der anatomischen Bilder von Nervenzellen und der vergleichend anatomischen Forschung an aufsteigender Tierreihe zu einer von den bisherigen Anschauungen abweichenden Auffassung über den Sitz der Psyche gelangt. Die Annahme, dass das Nervensystem das Organ der Psyche sei, könne nicht richtig sein. Die freibeweglichen Rhizopoden, zu denen die Amöbe gehört, reagieren auf Reize reflektorisch. Aus dem Reflex schliessen wir auf Empfindung. Letztere sei Teilerscheinung der Psyche. Es seien hier also nervöse Erscheinungen ohne Nervensystem vorhanden. Bei den Flagellaten zeige jede Zelle einen sensiblen und motorischen Teil und nach Reizung des ersteren kontrahiert sich der letztere, aber nur der motorische Teil derjenigen

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