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Quo spectanda modo, quo sensu credis et ore? Qui timet his adversa, fere miratur eodem, 10 Quo cupiens, pacto; pavor est utrobique molestus, Improvisa simul species exterret utrumque. Gaudeat an doleat, cupiat metuatne, quid ad rem, Si, quidquid vidit melius peiusve sua spe, Defixis oculis animoque et corpore torpet? 15 Insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui, Ultra quam satis est virtutem si petat ipsam.

1, 7: si mobilium turba Quiritium certat tergeminis tollere honoribus.

Quiritis] vgl. Carm. 2, 7, 3. 8. spectanda] vgl. V. 5: spectent.

Die zwischen den Zeilen liegende Antwort lautet: ebenfalls formidine nulla imbuti = sine formidine oder allgemeiner sine admiratione,

welche bei dem nicht Besitzenden als cupido, bei dem Besitzenden als metus, Furcht vor dem Verluste, sich zeigt. †

=

V. 9-11. Auch in der Furcht vor dem Nicht-Besitz oder Verlust (his adversa) der irdischen Güter verrät sich ein (dieselben überschätzendes) Anstaunen (fere oxedóv, im ganzen genommen, im allgemeinen; so Caes. de b. G. 3, 18: fere libenter homines id, quod volunt, credunt; vgl. Ep. 1, 17, 24); in beiden Fällen (utrobique) aber findet eine die Freiheit des Geistes hemmende Betäubung statt, pavor (nach Cic. Tusc. 4, 8, 19 = metus mentem loco movens, die Besinnung raubend), θάμβος, ἔκπληξις, bei der wahre Glückseligkeit nicht bestehen kann. (Ovid. Fast. 3, 362: sollicitae mentes speque metuque pavent.) molestus] Attribut, nicht Prädikat. 11. improvisa utrumque] Hauptsatz, welcher das Vorhergehende (pavor. . . molestus) weiter ausführt. improvisa] = cum improvisa sit, angоvóητos ovбα, als eine, auf die man sich vorher nicht gefaßt gemacht hat. simul] nicht Konjunktion (= simulac; vgl. Sat. 1, 1, 36), sondern Adverbium (= pariter). species] die Erscheinung irgendeines der Gegenstände, wie sie gefürchtet oder begehrt werden.

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exterret] dem vorhergehenden

pavor entsprechend, hier als vox media (außer Fassung bringen') auf einen Gegenstand sowohl der Freude wie des Schreckens, der Begierde wie der Furcht bezogen. Vgl. Verg. Aen. 11, 806: fugit ante omnes exterritus Arruns laetitia mixtoque metu. Lucr. 2, 1040: novitate exterritus ipsa. † utrumque] dem vorhergehenden utrobique sprechend: sowohl den cupientem, wie den timentem. Sinn: 'die Erscheinung irgendeines Gutes oder Übels bringt, da man sich vorher nicht auf sie gefaßt gemacht hat, beide (den Fürchtenden wie den Begehrenden) in gleicher Weise außer Fassung.' †

ent

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I nunc, argentum et marmor vetus aeraque et artes Suspice, cum gemmis Tyrios mirare colores; Gaude, quod spectant oculi te mille loquentem; 20 Navus mane forum et vespertinus pete tectum, Ne plus frumenti dotalibus emetat agris Mutus et (indignum, quod sit peioribus ortus) Hic tibi sit potius quam tu mirabilis illi.

Quidquid sub terra est, in apricum proferet aetas,

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und dem Streben nach denselben
fehlerhaft. Selbst in dem Streben
nach den edelsten Gütern
z. B.
Weisheit (sapiens) und Gerechtig-
keit (aequus) - muß das rechte Maß
beobachtet werden; es darf nicht
in eine Leidenschaftlichkeit aus-
arten, bei der die ruhige Fassung
des Gemüts verloren geht. Vgl. zu
Ep. 1, 2, 70; auch Sat. 1, 2, 24:
dum vitant stulti vitia, in contraria
currunt. Zur Erläuterung vgl.
Cic. Tusc. 4, 25, 55: studia vel opti-
marum rerum sedata tamen et tran-
quilla esse debent. Ebend. 4, 29, 62:
etiam si virtutis vehementior appetitus
sit, eadem est omnibus ad deterren-
dum adhibenda oratio.
Cic. pro
Mur. 30, 63: nostri illi a Platone et
Aristotele, moderati homines et tem-
perati, aiunt . omnes virtutes
mediocritate quadam esse moderatas.
Theogn. 335: μηδὲν ἄγαν σπεύδειν
πάντων μέσ' ἄριστα, καὶ οὕτως,
Κύρνο, ἕξεις ἀρετήν, ἣν τε λαβεῖν
χαλεπόν. 15. ferat] Potentialis.

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aequus iniqui] infolge der Übertreibung (V. 16) wird er in seinem Urteile über andere zu streng und ungerecht. Vgl. summum ius summa iniuria.

V. 17-23. Folgerung aus dem Vorhergehenden hinsichtlich der Wertschätzung der äußeren Güter, eingekleidet in eine ironische Aufforderung. Sinn: wenn nicht einmal die virtus mit unruhvollem, übertriebenem Eifer erstrebt werden darf, so ist ein solches Streben um so weniger in betreff der äußeren Güter zu rechtfertigen. — 17. i nunc] Aufforderung, etwas zu tun, was unter den obwaltenden Umständen (nunc) unmöglich oder gar nicht zu erwarten ist. Dieses eben wird immer durch den nachfolgenden

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25 Defodiet condetque nitentia. Cum bene notum Porticus Agrippae et via te conspexerit Appi, Ire tamen restat, Numa quo devenit et Ancus.

Si latus aut renes morbo temptantur acuto,
Quaere fugam morbi. Vis recte vivere (quis non ?):
30 Si virtus hoc una potest dare, fortis omissis
Hoc age deliciis. Virtutem verba putas et

κἀναρίθμητος χρόνος φύει τ ̓ ἄδηλα
καὶ φανέντα κρύπτεται.
26. por-
ticus Agrippae] von der vornehmen
Welt zur Promenade viel auf-
gesucht; eine von Agrippa zum Dank
für den Seesieg bei Actium auf
dem Marsfelde dem Neptun geweihte
Säulenhalle, porticus Vipsania oder
Neptuni, auch Argonautarum ge-
nannt, weil sie mit Bildern aus
dem Argonautenzuge geschmückt
war; erst seit 25 v. C. dem öffent-
lichen Gebrauche übergeben.
via... Appi] vom Zensor Appius
Claudius Caecus um 311 v. C. an-
gelegt, führte nach Capua, später
bis Brundisium, die regina viarum
nach Stat. Silv. 2, 2, 12, eine der fre-
quentesten Heerstraßen. Epod. 4,
14. 27. Numa
et Ancus]
vgl. Carm. 4, 7, 15.

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V. 28 ff. Über die Verbindung der hier beginnenden neuen Gedankenreihe mit dem Vorhergehenden vgl. die Einl. u. das Nachfolgende. si latus aut renes fugam morbi] ein den nachfolgenden Hauptgedanken vergleichungsweise (vgl. Ep. 1, 2, 38 f.: quae laedunt oculum, festinas demere: si quid est animum, differs curandi tempus in annum?) vorbereitender Gedanke, der an den in V. 24 ff. enthaltenen Hinweis auf die Vergänglichkeit alles Irdischen naturgemäß sich anlehnt. Eine ähnliche argumentatio a minore ad maius s. Ep. 1, 16, 25; 2, 2, 146; Sat. 2, 3, 211. morbo acuto] eine hitzige, möglicherweise zum Tode führende Krankheit. 28.] mit geringer Abweichung aus Sat. 2, 3, 163 wiederholt. 29. vis] wie V. 31 putas, hypothetisch zu fassen; vgl. Ep. 1, 1, 33. recte vivere] bene vivere (V. 56), εὖ πράττειν, εὐδαιμονεῖν hier ohne Beziehung

-

=

auf das Moralische, eine Bezeichnung des seelischen Wohlbefindens im Gegensatze zu dem eben erwähnten Streben nach dem körperlichen Wohlbefinden. Diesem recte vivere stellt sich gewissermaßen ebenfalls als morbus acutus das einseitige Verlangen nach Tugend (V. 30), Reichtum (V. 31 ff.), äußerer Ehre (V. 49 ff.), Wohlleben (V. 56 ff.), Liebeslust (V. 65 f.) entgegen. Der Weg zur Heilung ist in allen diesen Fällen nach der Ansicht des Dichters das im ersten Teile der Epistel gepriesene nil admirari. Die große Mehrzahl der Menschen dagegen pflegt, um zu dem (vermeintlichen) recte vivere zu gelangen, diesen Begierden rückhaltlos nachzuleben. Vor dieser Verkehrtheit warnt der Dichter indirekt, indem er die Anhänger solcher Lebensanschauung scheinbar mit ernsthafter Miene, tatsächlich aber ironisch auffordert, in ihren Bestrebungen bis zum Äußersten konsequent zu sein, nicht aber gewissermaßen halbe Arbeit zu machen, um den Leser an diesen aus dem Leben gegriffenen Beispielen der Maßlosigkeit erkennen zu lassen, wohin solche einseitige, verkehrte Maßlosigkeit mehr und mehr führt. † (quis non?)] vgl. Plat. Euthyd. p. 278, Ε: τίς γὰρ οὐ βούλεται εὖ πράττειν; οὐδεὶς ὅς τις 30. si . . .] diese auch im folgenden (V. 47, 49, 56 und 65) gleichmäßig festgehaltene hypothetische Einkleidung des Gedankens läßt nach der Absicht des Dichters durchblicken, daß er selbst diese einseitige, auf die Spitze getriebene Anschauung nicht teilt. fortis] mit stetiger voller Hingabe. 31. hoc age] = hanc rem

οὐκ.

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age, schlage diesen Weg ein.

Lucum ligna: cave ne portus occupet alter,
Ne Cibyratica, ne Bithyna negotia perdas;

Mille talenta rotundentur, totidem altera, porro et
35 Tertia succedant et quae pars quadrat acervum.
Scilicet uxorem cum dote fidemque et amicos
Et genus et formam regina Pecunia donat,
Ac bene nummatum decorat Suadela Venusque.
Mancipiis locuples eget aeris Cappadocum rex:
40 Ne fueris hic tu. Chlamydes Lucullus, ut aiunt,

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32. lucum ligna] nach der Ansicht des Spötters, der in dem heiligen Haine nichts als gewöhnliches Holz sieht. cave ne portus . . .] Sinn: 'suche so reich als möglich zu werden, z. B. durch Handelsgeschäfte.'occupet alter] im Sinne des griechischen φθάνειν. Doch vgl. Carm. 1, 14, 2. 33. ne Cibyratica perdas] Neben

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satz zu cave ne occ. alter; damit die Geschäfte dir nicht verunglücken'. Cibyra, Stadt in GroßPhrygien, reich durch Manufakturen und besonders Eisenwaren. Bithynien beherrschte durch seine zahlreichen Seestädte den Handel auf dem Schwarzen Meere. Vgl. Carm. 3, 7, 3; 1, 35, 7. 35. et quae pars quadrat acervum] d. h. also totidem quarta talenta, WOdurch der Haufen quadratur, zu einem aus 4000 bestehenden gemacht wird. Ursprünglich ist quadrare viereckig machen; daher quadratus in der bekannten Bedeutung, z. B. agmen quadratum, saxum quadratum; metaphorisch:

einer

Sache das gehörige Ebenmaß geben, şie gehörig fügen; daher quadrata (verborum) compositio bei Quint. 2, 5, 9; quadrare orationem bei Cic. Or. 197 (auch neutral oratio quadrat: Cic. de orat. 3, 44, 175); überhaupt: einem Ganzen die erforderliche Vollendung geben; so hier mit besonderer Beziehung darauf, daß der

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Haufen gerade durch das vierte
Tausend erst voll gemacht wird.
V. 36-38. Ironische Aufzählung
der angeblichen Vorzüge des Reich-
tums. 36. uxorem cum dote] vgl.
Carm. 3, 24, 19: dotata... coniunx.
Ep. 1, 2, 44: beata uxor. fidem]
Vertrauen; sowohl in Geldsachen
(Kredit) (vgl. Iuv. 3, 143: quantum
quisque sua nummorum servat in
arca, tantum habet et fidei), wie in
anderen Angelegenheiten.
38. ac
bene
Venusque] Sinn: 'der
Besitz eines vollen Beutels verleiht
eloquentia und venustas.' † Sua-
dela] persuadendi dea Quint. 10, 1,
82, hier gedacht als Begleiterin
der Göttin der Anmut. Πειθώ,
auch Suada genannt von Ennius
bei Cic. Brut. 15, 59. Venusque]
derselbe Gedanke bereits vor-
bereitet durch formam donat.

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V. 39-46. Ein reicher Mann steht selbst höher als ein armer König; individualisiert durch zwei Beispiele. 39. Cappadocum rex] von Ariobarzanes, dem Könige von Kappadozien, sagt Cic. ad Att. 6, 1, 3: nullum aerarium, nullum vectigal habet.. nihil illo regno spoliatius, nihil rege egentius; und 6, 3, 5: erat rex perpauper. der Reichtum des kappadozischen Königs an Sklaven wird hier nur mit Geringschätzung erwähnt, da die kappadozischen Sklaven, deren es zu Rom viele gab, ihrer Roheit wegen nur in geringem Werte standen. 40. ne fueris hic tu]

=

Auch

talis, wie Ep. 1, 15, 42; strebe also vielmehr nach Lukullischem Reichtum, welcher durch die nachfolgende Anekdote veranschaulicht wird. Dieselbe erzählt auch Plutarch Luc. c. 39, doch etwas anders.

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ut

Si posset centum scaenae praebere rogatus,

'Qui possum tot?' ait; 'tamen et quaeram et quot habebo Mittam'; post paulo scribit sibi milia quinque Esse domi chlamydum; partem vel tolleret omnes. 45 Exilis domus est, ubi non et multa supersunt Et dominum fallunt et prosunt furibus. Ergo, Si res sola potest facere et servare beatum, Hoc primus repetas opus, hoc postremus omittas.

Si fortunatum species et gratia praestat, 50 Mercemur servum, qui dictet nomina, laevum Qui fodicet latus et cogat trans pondera dextram

aiunt] s. zu Ep. 1, 7, 49. 41. si posset] über si vgl. Ep. 1, 7, 39. praebere] darleihen. 44. tolleret] der Unternehmer des Schauspiels, ein Ädil oder Prätor. 45. exilis] dürftig. Vgl. Carm. 1, 4, 17.

V. 47-48. Abschluß des Vorhergehenden. 'Ist also Reichtum nach deiner Ansicht die einzige Bedingung des recte vivere' (vgl.V. 2)... 48. hoc ... opus] 'so sei du der erste, der immer wieder (repetas) mit jedem neuen Tage dieses Geschäft geht, nämlich an das im vorhergehenden beschriebene Bestreben, Geld zu sammeln'.

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an

V. 49-55. Ebenso konsequent mag in der Anwendung der Mittel zur Erlangung äußerer Ehre sein, wem diese für die Bedingung des recte vivere gilt. 49. species] äußerer Glanz. Cic. in Pis. 11: magna species, magna dignitas, magna maiestas consulis. gratia] namentlich beim Volke; Ep. 1, 4, 10. praestat] nicht einfach reddit, sondern =

=

gewährleisten, verbürgen; vgl. Ep. 1, 11, 14; 16, 16. 50. mercemur servum . . .] launige Schilderung des mühseligen Strebens (ambitus, Betätigung der ambitio), als Bewerber um ein Staatsamt sich die Gunst des Volkes zu erwerben. Zu den bezüglichen Mitteln gehörte u. a. freundliche Begrüßung der Begegnenden, wenigstens derjenigen, auf deren Stimme etwas ankommen konnte, indem man sie, wie Bekannte, selbst bei ihrem Namen anredete (vgl. Sat. 2, 5, 32). Um das letztere

man

möglich zu machen, hielt
sich besondere Sklaven (nomen-
clatores), welche, dem Herrn zur
Seite gehend, ihn auf die Begeg-
nenden aufmerksam machen und
ihre Namen ihm zuflüstern mußten
(vgl. Cic. pro Mur. 36, 77). Darauf
bezieht sich qui dictet nomina,
laevum qui fodicet latus (sc. domini;
S. zu Sat. 2, 5, 17), um ihm ein
Zeichen zu geben. 51. et cogat

dextram porrigere] der Nomenklator treibt den Herrn dazu an, einflußreichen Männern bei der Begegnung zum Gruße die Hand zu reichen, die Hand zu drücken

(manus prensare). trans pondera] über die Schrittsteine hin'; vgl. Corp. inscr. lat. I 570 X 3789: haec pondera et pavimentum faciendum.

=

'Pondera war ein technischer oder populärer Ausdruck sowohl für die Schrittsteine, welche quer über die Straße von Trottoir zu Trottoir laufen, als auch für die am Rande des Trottoirs entlang oder auch nur hier und da angebrachten höheren Sprungsteine, die zum Aufsteigen aufs Pferd dienten. Der Kandidat mit seinem Sklaven geht auf dem Trottoir links und erblickt, durch jenen aufmerksam gemacht, einen einflußreichen Philister, der auf dem Trottoir rechts spazieren geht. Er winkt ihm einen Gruß zu; aber um ihm die Hand zu drücken, muß er quer über die Schrittsteine auf die andere Seite gehen; denn da die Trottoirs der antiken städtischen Straßen sehr hoch sind, hätte er sonst aufs Pflaster herab

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