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JOHANNES CLASSEN

Geb. am 21. November 1805, gest. am 31. August 1891

Von LUDWIG MARTENS

Johannes Classen ist am 21. November 1805 geboren. Es war daher ein glücklicher Zufall, daß gerade in diesem Jahre die 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in seiner Vaterstadt tagte. So feierte denn auch der erste Vorsitzende, der Hamburgische Schulrat Prof. Dr. Brütt, in seiner Einleitungsrede mit würdigen Worten das Andenken dieses Mannes, den Ludwig Wiese eine der edelsten Gestalten unter den Vertretern des deutschen höheren Schulwesens' genannt hat.

Es ist wohl begründet, daß gerade in Hamburg das Gedächtnis Classens hochgehalten wird. Denn dort ist er geboren und gestorben, dort hat er nach 20jähriger Tätigkeit in Lübeck und 10jähriger in Frankfurt a. M. — seine letzte tiefgreifende Wirksamkeit entfaltet. Aber auch in den weiteren Kreisen der deutschen Philologen und Schulmänner ist sein Name unvergessen. Ist doch seine Thukydidesausgabe ein Werk von dauerndem Werte: ein hervorragendes Beispiel von feinsinniger, auf liebevollem Eingehen in die Eigenart des Schriftstellers beruhender Erklärung. Lehrreich sind auch seine 'Beobachtungen über den homerischen Sprachgebrauch' und die Geschichte des Wortes Natur', 'der erste und fast einzige Versuch in dieser Richtung' bis auf Diels' 'Elementum'. Seine umgestalteten Ausgaben der griechischen Elementarbücher von Friedrich Jacobs, besonders der 'Attika', sind Vorläufer des Lesebuches von Wilamowitz und können noch jetzt mit Nutzen verwendet werden. Vor allem aber muß ich auf seine vortreffliche Biographie des Lübecker Direktors Friedrich Jacob hinweisen: sie gibt in pietätvoller Darstellung das Bild eines Schulmannes der alten Zeit. Wer das Buch liest, gewinnt einen tiefen Eindruck auch von dem Verfasser. Viele Züge sind beiden gemeinsam. Offenbar ist Jacob Classens Vorbild gewesen. Tiefe der Gelehrsamkeit, herzliche Teilnahme und rührende Anspruchslosigkeit zeichneten diese bedeutenden Vertreter eines lauteren Humanismus aus. Je weniger in der Unruhe des heutigen Lebens diese Tugenden gedeihen, desto nötiger ist es uns, an dem Bilde solcher Männer uns zu erbauen und uns von dem edlen Kern ihres Wesens anzueignen, was unter den jetzigen Verhältnissen einem jeden möglich ist.

Eine treffliche Gedächtnisschrift' hat Classens zweiter Nachfolger im Direktorat der Gelehrtenschule des Johanneums, Friedrich Schulteß, im Jahre 1892 uns geschenkt. Im 'Biographischen Jahrbuch für Altertumskunde' wird

Neue Jahrbücher. 1905. II

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in diesem Säkularjahre ein Nekrolog aus der Feder Heinrich Bubendeys erscheinen. Um so mehr darf ich mich auf wenige Worte der Erinnerung beschränken.

Was gerade heute an Classens Wesen und Wirken beachtenswert ist und vorbildlich wirken kann, das ist die vornehm freundliche Art seines Verkehrs mit den Schülern und die freiere Gestaltung, die er dem Unterricht in den oberen Klassen gab. Hatte er es doch in Frankfurt, wo er von 1853-1864 das Gymnasium leitete, durchgesetzt, daß überhaupt keine staatliche Reifeprüfung eingeführt wurde. Die Primaner erhielten nach zweijährigem Besuch der Klasse das Reifezeugnis durch Beschluß der Lehrerkonferenz, wenn sie neben der befriedigenden Erledigung der laufenden Aufgaben durch größere selbständige Aufsätze sich bewährt hatten, deren Themen ihren besonderen Anlagen und Neigungen entsprachen: eine Einrichtung, die in Frankfurt bis 1873

bestanden hat!

Wie Classen später in Hamburg in ähnlichem Sinne wirkte und seine Schüler zu ernster wissenschaftlicher Arbeit, zu früher Selbständigkeit und geistiger Unabhängigkeit erzog, das habe ich in der 'Mouatschrift für höhere Schulen' (1904, S. 641 ff.) im Anschluß an eine Äußerung Eduard Meyers ausführlich beschrieben. Er bewährte, was er an Friedrich Jacob in der oben erwähnten Biographie gerühmt hatte: 'Er war ein Feind des bloßen Verbietens. Alles, was einer äußerlichen Dressur ähnlich sah und nach seinem Gefühl mit einer Polizeikontrolle Verwandtschaft hatte, war ihm in der Seele zuwider. Er hatte seine Freude daran, der Jugend, soweit nur irgend möglich, eine freie und fröhliche Bewegung zu gestatten.'

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Classen hatte sich um mit seinen Worten zu reden 'die Fähigkeit bewahrt, mit der Jugend zu denken und zu fühlen, ihre Bedürfnisse nachzuempfinden und sich in den Kreis ihrer Vorstellungen und Bestrebungen hineinzuversetzen'. Aber eben deshalb hütete er sich auch vor Übertreibungen und warnte vor jeder schädlichen Verfrühung und Überstürzung, insbesondere davor, den Vortrag an die Stelle des Unterrichtes zu setzen und Früchte zu spenden, die nicht durch selbständige Arbeit erworben wurden. 'Kein Irrtum', so sagt er, 'wird vielleicht in dieser Beziehung häufiger begangen, als daß wir, was wir selbst in reifen Jahren nach mannigfachen Erfahrungen in seiner ganzen Bedeutung erkennen, gleich fertig und vollständig der Jugend mitgeben möchten! Das schwächt gerade das Interesse der Jugend'.

Classen hatte schon damals die ungeduldige Hast zu beklagen und zu bekämpfen, die so leicht gerade tüchtigere Schüler ergreift und nur zu oft von wohlmeinenden, aber unverständigen Eltern gesteigert wird. 'Durch Hast und Ungeduld', sagt er, 'werden wir nie der Natur eine gereifte Frucht abzwingen, vielmehr nur allzuleicht unheilbaren Schaden anrichten. Und warum trachten wir oft so begierig nach dem Ziele, unserer Jugend ihre Lehrzeit abzukürzen? Sind wir doch sonst so einig in dem Preis der glücklichen Sorglosigkeit des jugendlichen Alters, der noch ungetrübten Heiterkeit des Lebensmorgens! Warum sollen wir drängen und treiben, ihr so früh wie möglich die Grenze

zu ziehen? Wahrlich, für das wahre Wohl unserer Kinder gedeiht das Jahr nicht zum Segen, das wir von ihrer Schulbildung abbrechen. Noch habe ich niemand kennen gelernt, der es beklagt hätte, zu spät von der Schule zur Universität entlassen zu sein; aber viele betrübende Erfahrungen habe ich erlebt, wie der Mangel an geistiger und sittlicher Reife durch kein Fakultätsstudium ersetzt, ja nicht selten der Grund der traurigsten Verirrungen geworden ist.'

Eine ganz eigenartige Anziehungskraft hatte Classens Unterricht. Er gewann sogar solchen Schülern lebhafte Teilnahme ab, welche an sich für sprachliche Studien nur wenig Interesse hatten. Wenn ich jetzt Abschnitte des Thukydides oder Tacitus, die Classen uns erklärte, in Erinnerung an jene Stunden lese, so wird es mir deutlich, daß der Reiz des Unterrichts darauf beruhte, daß wir unter seiner Leitung lernten, im Kleinen das Große zu finden. Der überlieferte Text wurde mit Achtung, ja ich möchte sagen, mit Pietät angeschaut. Keine Willkür, keine Ungenauigkeit konnte in solcher Stimmung geduldet werden. Und dann erwuchs uns aus der treuen Arbeit im Kleinen die Erkenntnis des Einzelnen, des Zusammenhangs, des Schriftstellers. Wie wichtig wurde uns das Wort! Es wurde zum Leben geweckt und weckte Leben in uns. Über andere Stunden klagten wir wohl, wenn's langsam ging, wenn wir nicht von der Stelle kamen. Auch bei Classen wurde an Quantum nur wenig erledigt, Ergänzung dem freien Privatfleiß überlassen; aber ich erinnere mich nicht, daß wir hier unzufrieden gewesen wären. Wir lernten ja im kleinsten Punkte die größte Kraft sammeln, wir lernten langsam lesen, den ganzen Inhalt ausschöpfen, die Schönheit der sprachlichen Form bewundern und lieben.

Für die griechischen Stunden übersetzten wir kurze Abschnitte lateinischer Schriftsteller ins Griechische, in U II Nepos, in O II Caesar, in UI Sallust und in O I Tacitus. Zu den anregendsten Stunden gehörten die Besprechungen der korrigierten Arbeiten. Hier würdigte Classen unsere Übertragungsversuche einer eingehenden Kritik, wobei er in geistvoller Weise die beiden Sprachen verglich, den Irrgängen unserer Auffassung nachging, eigenes Nachdenken des Schülers, auch wo er das Ziel nicht erreicht hatte, anerkannte, uns das Richtige finden lehrte oder bei verschiedenen Möglichkeiten uns selbst die Entscheidung überließ. Und das alles war getragen von persönlichem Interesse für den einzelnen Schüler und seine Entwicklung.

So war in diesem Manne Herzensgüte und gründliche Gelehrsamkeit, Begeisterung und selbstverleugnende, treue Arbeit harmonisch vereint. Niemand, der in seine Nähe kam, konnte sich seinem Einfluß entziehen.

Ich schließe mit einem persönlichen Erlebnis.

Die Philologenversammlung des Jahres 1877 in Wiesbaden war die letzte, welche Classen besucht hat. Er wurde trotz seines Sträubens zum Vorsitzenden in der philologischen Sektion erwählt und nahm an allen Erörterungen lebhaften Anteil. Der übliche Ausflug nach dem Abschluß der Verhandlungen galt der Stätte, wo sich das Nationaldenkmal demnächst erheben sollte, dem Niederwald. Der Grundstein war kurz vorher gelegt worden. Als wir uns

dort versammelt hatten, wurde zunächst eine offizielle Rede gehalten, eine Rede, die wohl der Bedeutung des Augenblicks sachlich gerecht wurde, aber doch nicht den Ton traf, der das Herz erwärmt. Mancher Hörer hätte vielleicht lieber seinen eigenen Empfindungen an dieser Stätte, die dem Gedächtnis der gewaltigsten Ereignisse geweiht war, sich überlassen. Mein Blick ruhte indes auf der hohen Gestalt meines alten Lehrers, von dem ich einst, als der neue Tag über unserem Vaterland aufging, Worte gehört hatte, welche die heiligsten Gefühle in unserem Innern weckten. Diesen Mann hier zu sehen, war an sich schon eine große Freude: alle jene Eindrücke wurden wieder lebendig. Aber auch Classen schien in diesem Augenblick nicht ganz befriedigt, es schien ihm etwas zu fehlen: seine Miene wie war sie doch ausdrucksvoll! glich der einst wohlbekannten, wenn er, auf dem Katheder stehend, aus unseren Antworten schließen mußte, daß wir ihn nicht verstanden: er bewegte dann bekümmert das Haupt. Nun hatte der Redner geschlossen: in demselben Augenblicke stand an dem von ihm verlassenen Platze der würdige Greis. Mächtig ergriffen, von jugendlichem Feuer erfaßt, sprach er jetzt Worte, die uns im Innersten bewegten. Jetzt waren wir alle in einem Gefühl vereinigt und erhoben, es war ein Augenblick inniger Dankbarkeit, hoher Freude, festen Entschlusses. Und als der jugendliche Greis von der deutschen Jugend sprach, sie als die Hoffnung der Zukunft, als die Erben der uns anvertrauten Güter bezeichnete: da war er ein Prophet, der durch sein Wort uns ins Herz traf, und das Hoch auf die deutsche Jugend, in das wir einstimmten, war ein heiliges Gelübde. Der deutschen Jugend an unserem Teile zu dienen: das sollte der Dank sein, den wir deutschen Lehrer den Helden darbringen wollten, deren Taten das Denkmal auf dem Niederwald verkündet.

EIN GANG DURCH DIE NEUESTE LITERATUR ZUM UNTERRICHT IN DER PHILOSOPHISCHEN PROPÄDEUTIK

Von MAX NATH
(Schluß)

Die Muße seines Lebensabends hat Otto Willmann der Ausarbeitung einer 'Philosophischen Propädeutik für den Gymnasialunterricht und das Selbststudium' gewidmet. In zwei Teilen, die Logik und die empirische Psychologie umfassend, liegt sie vollendet vor und nimmt mit vollem Recht die Aufmerksamkeit der Fachkreise in Anspruch. In Anlage und Ausführung unterscheidet sie sich aber wesentlich von den beiden eben besprochenen Werken. Sie beschränkt ihre Aufgabe nicht nur an sich auf die beiden Disziplinen der Logik und Psychologie, sondern innerhalb dieser wieder auf gewisse Gebiete, die eine sehr ausführliche Behandlung erfahren, während anderen eine um so knappere Darstellung zuteil wird. Kaum mehr als der fünfte Teil des Raumes ist in der Logik der Methodenlehre gewidmet, und in der Psychologie ist die Behandlung des Weberschen und Fechnerschen Gesetzes sehr kurz gehalten. Die Erörterungen gründen sich in allen Kapiteln auf sprachliche und historische Tatsachen, die Termini erfahren eine genaue sprachliche Analyse, die vorgetragenen Lehren selbst werden durch Heranziehung der bezüglichen Aussprüche philosophischer Schriftsteller, namentlich des Altertums, verdeutlicht. Die Logik behandelt in vier Abschnitten die Denktätigkeiten, die Denkformen, die Denkgesetze und die Denkoperationen. Der zweite dieser Abschnitte bietet in ziemlich ausführlicher Darstellung die herkömmlichen Lehren der formalen Logik, der dritte bespricht nach einem Hinweis auf Identität und Widerspruchslosigkeit als Voraussetzungen der Denkgesetze die Sätze der Identität und des Widerspruchs und weist System und Methode als Forderungen der Denkgesetze nach, der vierte endlich gibt in der Lehre von Induktion, Definition, Einteilung und Beweis die Anfänge der Methodenlehre. Die Psychologie enthält ebenfalls vier Hauptabschnitte, die von Sinn und Trieb, Vorstellungs- und Interessenkreis, Verstand und Wille, Vernunft und Gemüt handeln. Das Gesagte zeigt, daß nach einer eigenartigen Methode die Lehren der philosophischen Propädeutik behandelt worden sind. Des Selbständigen, Geistvollen und Interessanten ist in dem Buche die Fülle. Ein Lehrer, der es zu Rate ziehen kann, wird besonders für die sprachliche und historische Vertiefung seines Unterrichts aus ihm großen Nutzen ziehen. Als Lehrbuch aber es dem Unterricht zugrunde zu legen scheint uns nicht ratsam. Seine Tendenz liegt gar zu abseits von dem Ziele,

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