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gebnis' sei. Doch wir können uns zur Widerlegung auf ihn selbst berufen. Zur Vorbereitung der Schulkonferenz im Jahre 1900 hatte Ziehen ein Gutachten auszuarbeiten über die Frage: 'Empfiehlt es sich, den fremdsprachlichen Unterricht an Gymnasien und Realgymnasien mit der französischen Sprache anzufangen und das Lateinische bis in Quarta oder in Untertertia hinaufzurücken?' Den ersten Teil der Frage bejahte er, in Bezug auf den zweiten führte er aus1): 'Der französische Anfangsunterricht muß Zeit haben, sich bis zu einem vorläufigen ersten Abschluß mit einer gewissen Ruhe auszuleben, ehe eine neue Fremdsprache einsetzt. . . . Die guten Dienste, die nach den bisher in Frankfurt gemachten Erfahrungen der französische Anfangsunterricht von Sexta bis Quarta dem lateinischen Unterricht von Tertia an geleistet hat, würden meines Erachtens in Wegfall kommen oder beträchtlich an Qualität verlieren, wenn der französische Anfangsunterricht auf zwei Jahre beschränkt würde.' Damit erkennt Ziehen an, daß von den beiden hier verglichenen Sprachen das Französische die geringere Kraft hat, eine grundsätzliche Aufnahmefähigkeit weiteren Fremdsprachen gegenüber' zu erzeugen; denn daß Schüler, die in Sexta mit Latein begonnen haben, das hinzutretende Französisch in Quarta gut bewältigen, ist allgemeine Erfahrung und wird auch von ihm nicht bezweifelt.

Auf dieses wertvolle, ob auch ungewollte Zugeständnis habe ich schon früher hingewiesen2), und das macht mir nun Ziehen zum Vorwurf.3) Er meint, daß ich 'bitterbösen Mißbrauch' mit seinen Worten getrieben und Dinge 'kühn verquickt' hätte, die 'schlechterdings nicht auf eine Stufe zu bringen' seien, nämlich die beiden Fragen: ob überhaupt der lateinische Unterricht hinausgeschoben werden solle, und, wenn ja, ob nach Quarta oder nach Untertertia. Ich habe Ziehens Ausführungen wiederholt gelesen, mit kritisch gestimmten Freunden besprochen, und kann bei ernstester Bemühung nicht finden, wo hier auf meiner Seite ein Denkfehler stecken soll. Beide Fragen sind von Natur eng verbunden, wie sie ja auch von der Regierung zu einer einzigen zusammengefaßt waren. Die Entscheidung darüber, wie viel Zeit jede der beiden Sprachen erfordert um den Schüler auf eine verständnisvolle Aufnahme der anderen vorzubereiten, ist sogar die wichtigste Voraussetzung für das Urteil über die Hauptfrage. Aus dem von Ziehen anerkannten Tatbestand 'bei Latein von Sexta an kann man nach zwei Jahren das Französische beginnen, bei Französisch von Sexta an nach zwei Jahren das Lateinische nicht' ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit der Schluß, noch nicht ganz wie ihn mir in den Mund legt, also verdient der lateinische Unterbau des Gymnasiums vor dem lateinlosen den Vorzug' denn daß in dieser letzten Entscheidung für ihn und seine Parteigenossen äußere Rücksichten über innere Gründe den Ausschlag geben, weiß ich ja und beklage es laut genug, wohl aber der

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1) Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin 6. bis 8. Juni 1900 (Halle a. S. 1901) S. 303.

*) Duplik in Sachen des Reformgymnasiums (1903) S. 6, Sonderabdruck aus Bd. XII dieser Jahrbücher.

Der Frankfurter Lehrplan und die Art seiner Verbreitung S. 30 f.

Schluß, wie ich ihn ausgesprochen hatte: 'Also wird die bessere Grundlage zu allgemein sprachlicher Schulung durch das Lateinische gegeben.'

Trotz der Erschwerung, mit der so das Reformgymnasium arbeitet, leisten seine oberen Klassen auf dem Gebiete der alten Sprachen sehr Gutes, in Frankfurt; denn über ähnlich glänzende Erfolge an anderen Orten, z. B. in Schöneberg und Solingen, ist bisher nichts bekannt geworden. Daß am GoetheGymnasium ein auserlesenes Kollegium zusammen wirkt, sieht jeder, der dorthin kommt. Reinhardt hat es wiederholt bestritten; und Ziehen warnt, man möge doch die Lehrer in anderen Städten nicht gegenüber ihren Frankfurter Kollegen herabsetzen. Dies ist eins jener Argumente, die eher geeignet sind einen Gegner einzuschüchtern, als zu widerlegen. Reinhardt würde sich schwerlich. zu seinem Versuch entschlossen haben, wenn er sich die Mitarbeiter nicht selbst hätte aussuchen dürfen, sondern sie so hätte nehmen müssen, wie sie ihm von der Provinzialbehörde der Anciennetät nach zugewiesen worden wären. Trotzdem habe ich nie geleugnet, daß in Frankfurt auch sachliche Momente zum Gelingen beigetragen haben.1) Vor allem eben das Neue der ganzen Aufgabe, wodurch die Lehrer mit innerer Notwendigkeit dazu gebracht wurden, sich über alle großen und kleinen methodischen Fragen lebhaft zu besprechen und gründlich zu verständigen, so daß jene 'Einheitlichkeit des Verfahrens' erzielt worden ist, die auch Ziehen mit Recht hervorhebt (S. 12). In der Durcharbeitung des Stoffes, die sich dabei vollzogen hat, liegt wirklich ein Gewinn, und zugleich ein Vorteil gegenüber Schulen mit überliefertem Lehrplan, bei denen ein gleiches Maß gegenseitiger Aussprache und Rücksichtnahme nur durch persönliche Einwirkung des Direktors erreicht werden könnte und dann oft gerade von den Tüchtigsten drückend empfunden werden würde. Wie es künftig einmal sein wird, wenn auch der Frankfurter Lehrplan zu den überlieferten gehört, bleibt abzuwarten. Daß er aber schon jetzt auf Schulen, die ihn als einen fertigen übernehmen, nicht dieselbe befruchtende Wirkung ausüben kann wie an seinem Ursprung, ist im voraus sicher. Zumal da muß diese Wirkung versagen, wo die Schulen inmitten einer Bevölkerung stehen, die umgekehrt wie die Frankfurter von dem Reformgymnasium eine Beseitigung des Einflusses der alten Sprachen erwartet.

Diese Stimmung, wie sie am unbefangensten in den Verhandlungen der Dresdener Stadtverordneten vor drei Jahren sich kundgab), meinte der verstorbene Stadtschulrat Voigt in Berlin, als er von 'Reformtaumel' sprach, meinte ich, als ich gelegentlich diesen Ausdruck ihm nachbrauchte. Wenn Ziehen es unangenehm empfindet (S. 32), daß das Wort - übrigens doch nur von sehr oberflächlichen Lesern in eine nähere Beziehung zu ihm und Reinhardt gebracht werden könnte, so liegt die Schuld daran wahrlich nicht auf unserer Seite. Warum hat Reinhardt es immer vermieden, sich von einer Bundesgenossenschaft loszusagen, die uns zwingt in ihm nur den Gegner zu sehen? Warum spricht Ziehen selbst mit so viel Schonung, ja mit Sympathie

1) Vgl. meine Schrift 'Der Plan des Reformgymnasiums' (Düsseldorf 1902) S. 7. 9. 11. 2) Bericht darüber in diesen Jahrbüchern X (1902) S. 569 f. Vgl. die folgende Anm.

von Friedrich Lange und seinen Anhängern1), von denen er doch weiß, daß es ihr klar verfolgtes Ziel ist, die Kraft des Gymnasialunterrichtes zu brechen? Statt dessen wirft er uns vor, daß wir Reinhardt und seine Genossen 'immer und immer wieder ohne weiteres und unterschiedslos mit der großen Masse der Schulreformer identifizieren', und sieht darin das sichere Zeichen, daß 'böser Wille' uns leite. Ein hartes Wort, das ich nicht zurückgeben will, obgleich es keiner besonderen dialektischen Kunst bedürfen würde, um Anhaltspunkte dafür in Ziehens Ausführungen zu finden. Er zitiert die Dresdener Verhandlungen und fügt hinzu: 'Ich urteile nach der Wiedergabe im Humanistischen Gymnasium' (S. 26). Warum tut er das, wo doch andere Quellen leicht zugänglich waren? Und warum sagt er es? Soll im Leser der Zweifel entstehen, ob etwa der Bericht, auf Grund dessen Ziehen einer in Dresden gefallenen Äußerung widerspricht, zu ungunsten derer, die dort geredet haben, gefärbt sei? Er leiht einer Ansicht, die er bekämpfen will, übertriebenen Ausdruck, und sagt dies freilich nachher selbst (S. 24 f.); aber die Wirkung auf den Leser und die Leichtigkeit der Widerlegung bleiben sein Gewinn. Trotzdem sage ich nicht: 'Das ist böser Wille'. Und zwar nicht nur, um, soviel an mir liegt, den Ton der Debatte auch fernerhin, wie es bisher auf beiden Seiten gelungen war, von persönlicher Bitterkeit frei zu halten, sondern aus Überzeugung. Mit solchem Hinübergreifen aus dem logischen Gebiet ins moralische wird nichts Rechtes geschafft. Keiner von uns kann dem anderen ins Herz sehen. Wer über verborgene Absichten Vermutungen aufstellt, ist überall dem Irrtum ausgesetzt; und Irrtum ist ein schlechter Bundesgenosse. Dagegen die Logik einer Beweisführung zu prüfen und solche Prüfung urteilenden Hörern oder Lesern vorzulegen, dazu ist jedem die Möglichkeit gegeben.

Hiervon zum Schluß noch ein Beispiel. Ziehen macht den Verteidigern des eigentlichen Gymnasiums den Vorwurf, daß sie von unzulässigem Egoismus für ihre Schulart sich leiten ließen (S. 30); er mahnt, das Gymnasium nicht zu 'isolieren' (S. 24. 42), und warnt vor 'jenem Geiste der wie mit Scheuklappen blickenden Einseitigkeit, der innerhalb und außerhalb der Mauern des humanistischen Gymnasiums noch keineswegs ausgestorben' sei (S. 25). Zieht man von diesen Gedanken die unfreundliche Form ab, so bleibt nichts übrig als die Verwerfung eben des Grundsatzes, für den so lange vergebens gekämpft worden war, der endlich durch den Allerhöchsten Erlaß vom 26. November 1900 öffentlich anerkannt worden ist: daß jede Schule sich frei in ihrer Eigenart solle entwickeln dürfen. Man durfte bisher die Besorgnis hegen, ob dieser Grund

1) S. 6. 7. 18 f. Besonders bemerkenswert ist die Art, wie sich Ziehen (S. 35 f.) mit dem abfindet, was einige der Stadtverordneten in Dresden gesagt haben: "Es spielt bei allen diesen Äußerungen ein gut Teil diplomatischer Augenblicksrücksichten mit, und Freund und Feind der Sache, auch wenn sie sachverständig sind, heben leicht nur das hervor, was ihnen im Moment gerade für die Erreichung ihrer Zwecke dienlich erscheint. Die schon einmal berührten Dresdener Verhandlungen zeigen, wenn die mir allein vorliegenden Berichte einiger Zeitschriften zuverlässig sind, ja deutlich genug, wie da auch beim besten Willen aller Beteiligten manchmal ein recht verkehrtes Bild das Ergebnis sein kann.'

satz, der noch der lebendigen Durchführung harrt, vielleicht zum bloßen Schlagwort werden sollte; nun ist umgekehrt ein Schlagwort erfunden, um ihn zu beseitigen. 'Kräftigere Betonung der Eigenart' heißt jetzt: 'egoistische Isolierung'; und davon muß jeder Gutgesinnte sich abwenden. — 'Raffiniert geschickt', sind wir versucht zu sagen; doch das wäre voreilig und wahrscheinlich geradezu unrecht. Wer beweist uns denn, daß Ziehen nicht aufrichtig meint, es handle sich hier um verschiedene Dinge? daß er nicht wirklich glaubt, die selbständige Entwicklung des Gymnasiums zu fördern, indem er es auf der Grundlage einer anders gearteten Schule aufbaut? Etwas ähnliches hat auch Reinhardt einmal gesagt, im Jahre 1892; nicht in der bereits erwähnten Schrift, sondern in einem etwa gleichzeitig erschienenen Vortrag.1) Dort heist es: 'Die Trennung der höheren Schulen, die sich jetzt immer mehr vorbereitet, wird eine möglichst lange Vereinigung der Zöglinge etwa bis zum zwölften oder dreizehnten Lebensjahre verlangen. Diese Unempfindlichkeit gegen inneren Widerspruch bei sonst klugen Männern ist eine Tatsache, mit der wir rechnen müssen. In ihr rächt sich die unglückliche Natur der Sache, der sie sich Reinhardt mit ausgesprochenem Verzicht auf einen früher eingenommenen klareren Standpunkt gewidmet haben, die sie nun auch theoretisch zu ver

treten genötigt sind.

Aber diese unglückliche Sache hat Glück; và xegelova vixã. Die Reden von Ziehen und Reinhardt, die uns hier beschäftigt haben, bezeichnen wieder einen Fortschritt der Bewegung, die dahin gerichtet ist, daß das Reformgymnasium immer weiter verbreitet und prinzipiell als das bessere anerkannt werde. An dem guten Willen beider Männer zu zweifeln haben wir keinen Grund; aber auch mit gutem Willen kann Böses geschaffen werden. Und so ist es hier. Von dem Wettstreit realistischer Bildungsanstalten droht dem Gymnasium keine Gefahr; er wird nur auf beiden Seiten das Können steigern, schlummernde Kräfte wecken. Die Gefahr liegt in dem Zwittergebilde, in dem trotz aller früheren Mißerfolge unter etwas veränderter Gestalt erneuten Versuch, altüberlieferte und moderne Bildungselemente in dem Lehrplan einer einzigen Schule zum Gleichgewicht zu bringen, wobei unvermeidlich die alten Sprachen immer mehr zurückgedrängt werden; anstatt jenes Gleichgewicht dadurch herzustellen, daß man die verschiedenartigen Stoffe auf getrennte, miteinander konkurrierende Schulen verteilt. Dies haben die Veranstalter der Berliner Protestversammlung im November v. J. Kübler, Lück, Harnack, Michaelis klar erkannt und deshalb nicht nur für das Gymnasium, sondern gegen das Reformgymnasium ihre Stimme erhoben. Damit haben sie einer guten Sache einen guten Dienst geleistet, mag ihnen auch von klugen Vermittlern ihre Entschlossenheit verdacht werden. Besser doch ein offener, entschiedener Kampf, als ein Zustand, in dem diejenigen den Ton angeben von denen der Prophet gesagt hat: 'Sie rufen Friede, Friede, und ist doch nicht Friede.'

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1) Reinhardt, 'Die Umgestaltung des höheren Schulwesens'. Aus den Schriften des Freien Deutschen Hochstiftes (Frankfurt a. M. 1892) S. 24.

ZUR FRAGE DES AUSWENDIGLERNENS

Von RUDOLF WESSELY

(Schluß)
III

Bei den Versuchen mit den vor einem Jahre gelernten Gedichten hatten wir gesehen, daß die durchschnittlichen Gedächtnisleistungen von V bis O III allmählich wachsen, in U II wieder auf das Niveau der IV zurückfallen und in O II sogar ein wenig unter das der V heruntersinken, und ähnlich bei den vor zwei Jahren gelernten Gedichten, daß U II und UI hinter der IV zurückstanden. Mögen nun auch hier sehr verschiedene Ursachen zusammen- und gegeneinanderwirken, wie die ungleiche Schwierigkeit des Stoffes, zufällige Verschiedenheiten der Lehrer und Schüler, ferner die absolute und relative Bedeutung des gleichen Zeitraums, so tritt doch deutlich hervor, daß das in den Entwicklungsjahren Gelernte während der gleichen Zeit in bedeutend höherem Grade vergessen wird als das kurz vorher Gelernte, und daß auch schon in den Entwicklungsjahren selbst das früher Gelernte stark vergessen wird. Wo die Resultate in einer Klasse im Vergleich zu der tieferen Stufe günstige waren, da könnte man zunächst annehmen, daß sie zum Teil auch der für diese bestimmte Gedächtnisfunktion gesteigerten Übung verdankt werden; beweisen läßt sich das nicht. Jedenfalls aber liegt die Frage nahe: wenn sich die Leistungen von UII an trotz des weiteren Auswendiglernens so stark verschlechtern, darf dann von der Übung des Gedächtnisses überhaupt so viel erwartet werden, wie in der Schulpraxis noch häufig angenommen wird?

Um der Beantwortung dieser für das gesamte Schulwesen ungemein wichtigen Frage näher zu treten, habe ich in den Klassen VI, IV, O III und O II, die alle durch einen zweijährigen Kursus voneinander getrennt waren, einen Versuch mit dem Lernen und Behalten lateinischer Vokabeln angestellt. Diese schienen mir für einen solchen Versuch besonders geeignet. Steht ja doch der Unterricht in den fremden Sprachen auf dem Gymnasium im Vordergrund, die Zahl der obligatorischen Unterrichtsstunden in den fremden Sprachen beträgt die Hälfte sämtlicher wissenschaftlichen Unterrichtsstunden, und das Lernen der Vokabeln spielt von Anfang an und dauernd eine große Rolle, so daß man hier einen besonders starken Einfluß der Übung erwarten

könnte.

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