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Der Lehrer soll seine besten geistigen Kräfte auf das Lehramt verwenden. Es soll als sehr schlimm angesehen werden, wenn er pädagogische Fehler wie den der Unfehlbarkeit einreißen läßt. Sein ganzer Unterrichtsgang soll ihn davor bewahren. Das ist nur möglich durch eindringendes Beschäftigen mit verschiedenen Auffassungen der Grundlagen, durch die Einsicht, daß in der Mathematik ein Einschwören auf bestimmte Erklärungen vom Übel ist. Niemals soll er aufhören daran zu denken, worin der Hauptwert seiner Wissenschaft besteht. Er soll, wenn er irre geht, was immerhin bei jedem hier und da vorkommen wird, bald wieder von selbst zu der Einsicht gelangen: Hier verliert mein Unterricht den besonderen Wert, den er haben sollte!

Dem Lehrer wird es erwünscht sein, im Anschlusse an diese allgemeinen Betrachtungen einige Beispiele zu hören, in denen sich die Möglichkeit zeigt, nicht völlig bis zum Ende vorzudringen, dem Kinde Spielraum zu gewähren, noch nicht entschiedene Fragen hereinzuziehen und doch unterrichtlich gut mathematisch zu sein und den wahren Zweck des mathematischen Unterrichts zu erreichen.

Es darf wohl heute als zweifellos gelten, daß ohne das Unendliche eine gute Aufstellung der mathematischen Grundlagen unmöglich ist. Gerade das, was man früher so vielfach vernachlässigte, die Möglichkeit und deren Begründung, an beliebigen Stellen der Mannigfaltigkeit die Sätze und Vorstellungen anzuwenden, die Mannigfaltigkeit z. B. der Zahlen immer wieder zu erweitern, ähnlich die Mannigfaltigkeit der auf Linien und Flächen vorgestellten Punkte, gerade dies scheinbar Selbstverständliche ist es, worauf der eigentliche Wert in der Mathematik beruht. Die Stetigkeit, welche dem Raume und der Zahlenmannigfaltigkeit als notwendig und eigentümlich anhaftet, diese hat im Verlaufe der Entwicklung der Wissenschaft vielfach Veränderungen in ihrer Auffassung erfahren. Man sagte früher vielfach, man könne sich beliebig (!) viele Punkte auf einer Linie, in der Fläche etc. vorstellen oder beliebig viele Zahlen einschieben, z. B. zwischen zwei ganze natürliche Zahlen wie 1 und 10. Man sagte, man könne die Gerade beliebig verlängern oder beliebig verkürzen, und dachte nicht hinreichend darüber nach, was denn dies Beliebig schlechthin bedeutet.

Wenn es freilich keine anderen Größen gibt als endliche, sinnlichvorstellbare, so kann dies Beliebig auch nur endliche sehr große oder sehr kleine Größen bedeuten. Wenn z. B. die Unendlichkeit des Raumes nichts weiter ist, als daß man weiter und weiter um immer nur endliche Größen und immer nur um eine endliche Anzahl derselben in Gedanken reisen kann, so paßt hier auch „beliebig" ohne weiteren Zusatz. Aber schon ein kleines Kind denkt bei der Unendlichkeit des Raumes an mehr als dies, ebenso jeder Erwachsene aus einem ungebildeten Naturvolke; beim unendlichen periodischen Dezimalbruche wie 0,11111... oder 10+100 + 1000+.. lernt schon der Quintaner, daß dies genau gleich einem Neuntel ist. Dies Resultat kommt nur zustande, wenn man schließlich den Bruch 1 dividiert durch eine so große Zahl setzt, daß der Bruch Null ist. Jedem Schüler ist es viel natürlicher beim Kleinerwerden stehen zu

bleiben und nicht zu sagen, der immer kleiner werdende Bruch sei Null, sondern unendlichklein. Dieses Unendlichklein ist nicht mehr beliebig Endlichklein. Es ist nicht mehr so, als ob man zu einem sinnlichvorgestellten Werte einen viel kleineren hinzufügte. Denn dieser letztere ist immer noch eine Vermehrung des ersteren, hier aber soll der unendlich kleine Bruch keine Vermehrung mehr sein. Der Schüler versteht sehr leicht, daß die unendlichen Größen etwas Neues, eine in dieser Beziehung neue Gattung von Größen sind, nämlich dadurch, daß eine unendlich kleine Größe eine endliche nicht vermehren kann. Auch versteht er ganz entsprechend, daß unendlichgroße solche sind, die durch eine endliche in ihrem Wesen nicht vermehrt werden. Wenn z. B. von einem vorgestellten Punkte A eine gerade Linie sich nach einer Seite in das Unendliche erstrecken soll, und wenn man nun nach der anderen Seite hin ein sinnlichvorgestelltes Stück BA daransetzt, so ergibt sich das Sonderbare, daß auch von B aus über A hinweg sich die unendliche Gerade erstreckt. Und man möchte meinen, für die unendliche Länge sei es ganz gleichgültig, ob man sie bei B oder bei A beginne. So kann der Schüler den Grundsatz der Weitenbehaftungen (wie ich mich ausdrückte im Buche: Die Grundsätze und das Wesen des Unendlichen in der Mathematik und Philosophie, B. G. Teubner 1902) wohl verstehen: die endliche Strecke vermag zur Vermehrung der unendlichen als solcher nichts beizutragen, ist Null für das Unendliche, trotzdem aber keineswegs Null für das Endliche.

Nachdem im Verlaufe des vorigen Jahrhunderts, hauptsächlich durch Cauchy, die Ansicht bei den Mathematikern mehr und mehr durchdrang, es dürften in der Mathematik eigentlich unendliche Größen, also solche, für die es besonderer Grundsätze bedürfte, die nicht einfach nach den Gesetzen des Sinnlich vorstellbaren behandelt werden können, nicht vorkommen, was z. B. Gauß lebhaft vertrat, hat sich in den letzten zwanzig Jahren jenes Jahrhunderts eine Wandlung vollzogen, indem viele überendliche Größen, die sogenannten transfiniten (Bolzanos, Dedekinds, Cantors), annahmen. Aber sonderbarerweise wurden nur die unendlichgroßen, nicht die unendlichkleinen als neue Gattung von Größen angenommen. Wenn man nämlich auch noch unter den beliebigkleinen endlichen noch wirklich untersinnvorstellbare angenommen hätte, so wäre die Lehre Cauchys und anderer vom Limesbegriffe, die vielen Nutzen gebracht hatte, umgestoßen oder richtiger überwunden worden. Daran aber zu rühren, das hätte einer noch viel größeren Umwälzung bedurft. In der genannten Schule, wenn ich so sagen darf, behielt man die Ansicht bei, beim Grenzbegriff käme nur endlich Beliebigkleines vor. Diese Annahme, die der Schüler schwer oder gar nicht versteht, rührte hauptsächlich von der Art her, wie man das Unendlichgroße einführte. Man stellte sich z. B. vor, es gäbe (!) auf einer Linie eine bestimmte, aber unendliche Menge von Punkten, es gäbe (!) eine zwar unendliche, aber feste und unveränderliche Anzahl aller natürlichen Zahlen, es gäbe (!) zwischen zwei Zahlen wie 1 und 10 eine bestimmte feste Anzahl von unendlich vielen (gebrochenen, rationalen oder auch irrationalen) Zahlen. Ich habe mehrfach gezeigt, daß diese Annahme, die als solche natürlich nicht bewiesen ist

und niemals bewiesen werden kann, zu wenig Rücksicht nimmt auf den Begriff des Seins. Derselbe läßt sich nicht so einfach abmachen; daß es Zahlen gibt, ohne daß man sie doch anders als geistig bildet, wenigstens nicht nachzählbargroße oder unendliche, das erfordert eine verschieden ausfallende philosophische Untersuchung. Daß es auf einem Kreise bestimmter Größe wirklich eine feste Anzahl von Punkten gibt, das ist auch nur eine Behauptung. Wenn man sie annimmt, wirft man freilich damit die Vorstellung fort, daß man ganz nach Belieben, d. h. nach geistiger Bildung, sich auch unendlich viele Punkte auf jedem endlichen Teile solchen Kreises vorstellen kann und die unendlich große vorgestellte Anzahl auf irgend einer Linie keine feste ist. Der Schüler begreift nach meiner Erfahrung viel leichter die Ansicht von der Vorstellung von Punkten z. B., wenn er eine Strecke durch ein Strahlenbüschel durchschneiden läßt und nur dadurch die Anzahl von Punkten auf derselben als Schnittpunkte erhält. So leicht er begreift, daß jene endliche Strecke BA für das Wesen der unendlichen nichts beiträgt, so wenig begreift er z. B. G. Cantors Lehre, daß eine unendliche (transfinite) Anzahl von Strecken, welche eine unendliche Strecke ausmacht, die Eigenschaft haben soll, Strecke für Strecke, Element für Element einer anderen Anzahl von Strecken zugeordnet zu werden, wenn diese andere Anzahl eine Linie ausmacht, die unendlich, aber kleiner als die erstere ist. Man ist in genannter Schule dahin gekommen, eine unendliche Größe zwar verschieden sein zu lassen von einem Teile derselben, aber doch die Elemente der einen Stück für Stück der anderen zuordnen zu können. Dabei wird der Begriff des wirklich Unendlichkleinen natürlich aufgegeben und behauptet, es gebe dergleichen nicht. Dann bleibt der Grenzbegriff bestehen, und es ist doch eine Erweiterung des Endlichen, aber nur nach oben hin ausgearbeitet worden. Um aber dem Bedürfnisse in der Geometrie nachzukommen, daß gerade Linien in das Unendliche gehen, hat man gesagt, es habe jede Gerade nur einen einzigen, unendlichfernen Punkt, und es bildeten alle diese unendlichfernen Punkte der in der Ebene liegenden Geraden zusammen die 'unendlichferne Gerade'. Es ist schon mehrfach mit vollem Rechte gesagt worden, daß diese uneigentlichen Punkte für die Schule absolut unbrauchbar seien. Der Schüler wird immer mit Kopfschütteln hören, daß solche Punkte zwar nicht mehr räumlich vorgestellt wären, aber doch einen räumlichen Namen aus gewissen Zweckmäßigkeitsgründen erhalten sollten. Dagegen nimmt nach meiner vielfach bestätigten Erfahrung der konsequent ausgeführte Gedanke der Behaftung mit Punkten (beliebig vielen, auch im Unendlichen) nicht in unmöglicher Weise die räumliche Phantasie in Anspruch. Aber man mache seine Versuche selbst! Es ist nicht zu befürchten, daß solche Betrachtungen die Gemüter ermüden, abstumpfen oder gar verwirren würden, wenn der Lehrer dann nur versteht das Wesentliche, was schließlich mathematisch sicher ist, herauszuheben. Im Gegenteile ist das Interesse in jeder Klasse von Quarta ab stets für solche Fragen groß.

Vielfach gerade aus dem Bedürfnisse der Schule heraus und unter steten pädagogischen Erfahrungen ist meine Lehre von den Weitenbehaftungen entstanden, welche auch wissenschaftlich die Schwierigkeiten des Unendlichen in

einer möglichen (!) Weise löst. Die Wissenschaft strebt natürlich nach einer möglichst vollkommenen Form der Zusammenstellung aller Grundvorstellungen und Axiome z. B. der Geometrie '); für den mathematischen Unterricht heißt es nicht einen wissenschaftlichen Streit ausfechten, sondern eine Gedankenarbeit im jugendlichen Kopfe so weit fördern, daß er darauf weiter bauen kann und das Wesen der mathematischen Tätigkeit versteht. Ein tüchtiger Lehrer wird, auf welcher Stufe auch die Schüler stehen mögen, oft auf die Grundlagen zurückgehen und Unklarheiten, die sich hierin zeigen, auf irgend einem Wege durch die Schüler selbst zur vorläufigen Erledigung bringen lassen. Und zwar wird er dabei eine Ansicht zugrunde legen, die möglich ist, da es einen Beweis für Grundlagen überhaupt nicht gibt. Einen gewissen Vorzug kann man wohl darin finden, daß hier nur von Möglichkeit die Rede sein kann. Denn dies erlaubt dem Lehrer, sich den Ideen der Schüler, die nicht immer gleich ausfallen, in gewissem Grade anzupassen. Man ist so davor bewahrt, mit Gewalt etwa die Lehre von den uneigentlichen oder imaginären Punkten einzutrichtern. Man kann sich der jugendlichen Fähigkeit anschmiegen. Daß hierdurch mehr erreicht wird als durch zwangvolle Hineinfügung in die Resultate irgend welcher wissenschaftlichen, aus schweren Kämpfen erst hervorgegangenen Richtung, braucht kaum gesagt zu werden. Die Freudigkeit ist eine viel größere, ebenso das Verständnis. Daran aber liegt uns. Sind die Ansichten so, daß daraus auf widerspruchslosem Wege das für den späteren Aufbau der Mathematik Nötige hervorgeht, so brauchen sie auch dem Schüler nicht als unfehlbar hingestellt zu werden. Er begreift ohne das, und zwar besser, den wahren Wert der Mathematik. Wenn aber ein Lehrer bei den Grundlagen im Anfange und später bei dem häufigen Wiederauftauchen derselben doziert: So und nicht anders darf man diese Elemente auffassen, dann fängt sein Unterricht an das zu tun, wovor ich warnen wollte: seinen eigentümlichen mathematischen Wert zu verlieren.

1) Eine kurze Übersicht für die Weitenbehaftungen ergibt der Aufsatz: Die geometrischen Grundvorstellungen und Grundsätze und ihr Zusammenhang (Jahresber. der Deutschen Mathem.-Vereinigung, Teubner XII Heft 5, Mai 1903), und: Die Kegelschnitte und ihr Zusammenhang, H. W. Schmidt, Jena 1905; 5 Mk.

AUS DER JUGENDZEIT DER FÜRSTENSCHULE GRIMMA UND DEM LEBEN DES MARTIN HAYNECCIUS

Von PAUL MEYER

(Schluß)

II. Aus der Zeit des Rektorats des Martin Hayneccius (1588-1610) 1. Schülerklagen gegen die Schulverwalter Lindner (1587) und

Ziegler (1590)
a) 1587

Rectori nostro S. P.

Accusamus non Oeconomum nostrum, quem et virum optimum et nec nimis tenacem nec nimis prodigum esse videmus, sed eius familiam. Illa enim, illa partim negligentia, partim studiose obnixeque facit omnia, nobis ut incommodet, praeter aequum et bonum. Culinarii sane susque deque habent sive carnem edamus crudam sive coctam, sive mundam sive immundam, sive sapidam condimentis sive non. nec purgantur nec largo condiuntur sale nec pulcre coquuntur. Quid de reliquis dicamus, qui apponuntur, cibis? quam sordide, quam parce, quam tenaciter omnia? Pistores autem, qui cerevisiam promunt, nos quoque omnibus vexant modis. Nam potum nostrum, satis alioqui laudatum, aqua ita diluunt, ut illaudatus fiat, atque hoc ignaro et forsitan invito fit oeconomo. Hoc sane fieri hinc colligimus. Cerevisia, quae inter priora fercula obambulat, satis quidem placet, quippe quae nondum aqua est infecta: quae autem sequitur, nec placet nec palati gratiam inire potest, quippe undis iam contaminata et mixta.

Quandoquidem igitur haec fieri cum detrimento valetudinis nostrae cotidie videmus et facile mutari posse, si modo Oeconomus certior esset factus his de rebus, confidimus, noluimus ranae, quod aiunt, esse Seriphiae, sed illa tibi explanare. Tu pro tua prudentia et erga discipulos amore, non haec silentio, ut speramus, involves, sed ut omnia ad commodiorem statum dirigantur, efficies; nos beneficiorum fore pollicemur gratos memoresque Totus coetus scholasticus. (28. April 1587)

b) 1590

Etsi Tuam, v. D. R., humanitatem querelis haud libenter oneramus nostris, tamen hanc ut schedulam tibi offeramus, necessitas nos impellit summa. Calceos nobis et chartam, quam debet, Oeconomus nondum dedit nobis; nescimus, quam ob causam tamdiu nos suspendat. Cum igitur tam calceorum quam chartae inopia laboremus singuli, quos Illustrissimus Princeps Dominus noster clementissimus hac in schola alit et nutrit, ad tuam Humanitatem confugere cogimur submisse petentes et obsecrantes, ut Ea Oeconomum officii hac in parte prorsus immemorem sui ad

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