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DER SOGENANNTE IRREALIS DER GEGENWART
IM LATEINISCHEN

Von RUDOLF METHNER

(Schluß)

II. Der Irrealis der Gegenwart in Wunschsätzen

Es wird gelehrt, daß in Wunschsätzen der Coni. impf. oder plusqpf. steht, wenn der Redende sich den Wunsch als unerfüllbar vorstellt. Bezüglich des Unterschiedes zwischen Impf. und Plusqpf. enthalten die Lehrbücher entweder keine Feststellung, oder sie lehren, wie R. Kühner, Stegmann, H. J. Müller, Ellendt-Seyffert, daß das Impf. steht, wenn der Wunsch als unerfüllbar für die Gegenwart bezeichnet werden soll. Und wenn sie hierbei auch den Ausdruck 'Irrealis der Gegenwart' vermeiden, so ändert dies doch nichts an der Tatsache, daß auch hier der Coni. impf. in Beziehung zur Gegenwart gebraucht sein soll.

Gegen diese Bezeichnung und Auffassung erheben sich folgende Bedenken: 1. Was zunächst den Begriff der Unerfüllbarkeit betrifft, so ist, worauf schon von anderen Seiten hingewiesen worden ist, zu bedenken, daß, wer einen wirklichen Wunsch ausspricht, und mag er auch noch so phantastisch sein, im Augenblicke des Wünschens gar nicht daran denkt, und auch gar nicht daran denken will, daß sein Wunsch keine Aussicht auf Erfüllung hat; er läßt der Phantasie die Zügel schießen, die Verstandestätigkeit ist dabei ausgeschaltet. Und so finden sich bei Plautus und Terenz eine ganze Menge solcher Beispiele, s. Blase, Gesch. d. Irr. S. 3. Nun sagt Blase, Cicero (und doch wohl die Schriftsteller der klassischen Zeit überhaupt?) würde in einem solchen Falle den Coni. impf. setzen; in demselben Sinne äußert er sich auch in Landgrafs hist. Gr. S. 131: der Coni. praes. werde im Altlatein auch da gebraucht, wo in der späteren Latinität regelmäßig Coni. impf. eintreten würde. Und das ist wohl die allgemeine Ansicht. Danach hat also Cicero, ehe er einen Wunsch aussprach, sich erst überlegt, ob dieser Wunsch erfüllbar ist oder nicht! Aber weshalb sollte er auch nur das Bedürfnis gehabt haben, eine solche Scheidung vorzunehmen und diesem Unterschiede auch sprachlichen Ausdruck zu geben? Auch stimmt damit nicht die Tatsache, daß nicht nur bei den Dichtern der klassischen Zeit der Coni. praes. bei zweifellos unerfüllbaren Wünschen vorkommt, z. B. Verg. Aen. VIII 560 o mihi praeteritos referat si Juppiter annos, Prop. II 2, 15 hanc utinam faciem nolit mutare senectus, sondern auch bei Cicero selbst, z. B. Nat. deor. I 32, 91 utinam tam facile vera

Neue Jahrbücher. 1905. II

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invenire possim quam falsa convincere, das ist doch gewiß ein Wunsch, von dem der Wünschende weiß, daß er unerfüllbar ist. Verr. I 23, 61 plurimas tabulas optimas deportasse te negare non potes: atque utinam neges. Ebd. III 45, 107 illud quidem non dices (quod utinam dicas) ad Apronium non pervenisse tantum. Cat. I 9, 22 utinam tibi istam mentem dii immortales duint. Cicero will Catilina bewegen Rom zu verlassen, aber die vorausgehenden Worte tu ut ullam fugam meditere? tu ut ullum exilium cogites? zeigen deutlich, daß Cicero sich so stellt, als sähe er diesen Wunsch für unerfüllbar an. Und es ist auch klar, weshalb er sich so stellt. Im andern Falle nämlich müßte er fürchten, daß Catilina gerade deshalb Rom nicht verläßt, weil er sieht, daß Cicero darauf rechnet. Dieser Auffassung widerspricht es nicht, wenn Cicero bald darauf (§ 23) ihn direkt auffordert proficiscere, denn hier benutzt er wieder ein anderes Motiv: er will ihn bewegen Rom zu verlassen, indem er ihm zu bedenken gibt, was für üble Folgen dies für ihn (Cicero) haben würde. — Ich bemerke, daß die genannten Stellen nur aus den Reden entnommen sind nach Merguets Lexikon. Wenn sich auch sonst bei Cicero solche Fälle nur in geringem Maße finden, so werde ich diese Tatsache weiter unten auf eine andere Weise zu erklären versuchen. Umgekehrt finden sich bei ihm auch solche Beispiele mit Coni. impf., wo man durchaus nicht sagen kann, daß der Redende den Wunsch als unerfüllbar ansehen mußte, z. B. Phil. I 7, 16 vellem adesset M. Antonius. Antonius weilte damals noch in Rom, warum hätte also seine Anwesenheit im Senat irgend jemand als unmöglich erscheinen sollen? Tusc. V 22, 63 utinam ego tertius vobis amicus adscriberer. Weshalb sollte denn dieser Wunsch des Tyrannen unerfüllbar gewesen sein oder ihm so geschienen haben? Cicero selber hält die Erfüllbarkeit nicht für ausgeschlossen, indem er an einer anderen Stelle (Off. III 10, 45) sagt: admiratus eorum fidem petivit, ut se ad amicitiam tertium adscriberent. Wenn er sie darum bat, so hielt er die Erfüllung der Bitte doch nicht für unmöglich. Ebenso sagt Hyginus (Fab. 257): rogavit eos, ut se in amicitiam reciperent, und nach ihm Schiller: 'so nehmt auch mich zum Genossen an'.

2. Was soll es ferner heißen unerfüllbar für die Gegenwart'? Jeder Wunsch, den ich ausspreche, ist in dem Augenblicke, wo ich ihn ausspreche, noch unerfüllt. Ob er erfüllbar ist oder nicht, lehrt nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft, z. B. Att. II 13, 5 utinam adesses. Für die Gegenwart ist dieser Wunsch nur unerfüllt, für unerfüllbar sieht der Redende ihn nicht an, setzt er doch gleich hinzu: sed tamen, si erit necesse, arcessemus. Dementsprechend ist es auch falsch, von einem Wunschsatz mit Coni. plusqpf. zu sagen, das Plusqpf. stehe, um den Wunsch als unerfüllbar für die Vergangenheit zu bezeichnen. So sagt R. Kühner (S. 139) von der Stelle Att. XI 9, 3 utinam ne quid ex eadem matre postea natum esset, das Plusqpf. stehe hier, weil der Wunsch nicht in Erfüllung gehen konnte. Aber warum hätte es denn unmöglich sein sollen, daß Ciceros Mutter keinem weiteren Sprößling mehr das Leben schenkte?

3. Es ist, ebenso wie bei den Bedingungsätzen, von vornherein unwahrschein

lich, daß der Coni. impf. in Wunschsätzen in Beziehung auf die Gegenwart des Redenden stehen soll. Und das behauptet Blase mit Entschiedenheit. So sagt er in der Gesch. d. Irr. (S. 3): 'Von ganz besonderer Wichtigkeit ist es, daß Plautus und Terenz den Coni. impf. in Wunschsätzen in präteritaler Bedeutung setzen, ein Gebrauch, der bei keinem Schriftsteller der klassischen Zeit oder der späteren Zeit sich wiederfindet, es müßte denn ein Afrikaner sein', und bei Landgraf (S. 154): [Nur] im Altlatein hat der Coni. impf. gelegentlich präteritale Bedeutung.' [Über die Tempus verschiebung, mit der Blase dieses angebliche Faktum zu erklären versucht, habe ich mich oben S. 86 ff. geäußert.]

Auch die Tatsachen beweisen die Unrichtigkeit jener Behauptung. Nicht bloß bei Plautus und Terenz (z. B. utinam te di perderent, hätten dich doch damals die Götter vernichtet), sondern auch bei Cicero und den Dichtern der klassischen Zeit finden sich gar manche Wunschsätze mit Coni. impf., in denen dieser ganz sicher in Beziehung auf die Vergangenheit steht, und sehr viele Sätze, in denen eine Beziehung auf die Vergangenheit mindestens ebensogut angenommen werden kann wie eine solche auf die Gegenwart. Verg. Aen. I 576 atque utinam rex ipse Noto compulsus eodem afforet Aeneas. Der Zusammenhang und die enge Verbindung von afforet mit den Worten Noto compulsus eodem (sc. quo vos compulsi estis) ergibt deutlich, daß Didos Wunsch sich auf die schon erfolgte Landung der Trojaner bezieht: 'Wenn er doch von demselben Winde, wie ihr, ans Land getrieben worden wäre. Da er aber wo anders gelandet ist, so werde ich Leute schicken' u. s. w. Cic. Phil. V 2, 5 qui utinam omnes ante me sententiam rogarentur. Hier hat Cicero die nunmehr schon der Vergangenheit angehörende Aufforderung des Vorsitzenden im Sinne, und wir können nicht anders übersetzen als: wenn sie doch vor mir befragt worden wären. Ebd. I 7, 17 pecunia utinam ad Opis maneret. Cicero spricht hier von den acta Caesaris, die Antonius nicht erst jetzt, sondern bald nach dem Tode Cäsars angeblich zur Ausführung brachte. Ironisch meint er, daß eine jener Verfügungen wohl dahin gegangen sei, daß Antonius sich des Schatzes bemächtige (quamquam eo quoque sit effusa, si ita in actis fuit). Hieran denkt er, wenn er sagt: wenn doch wenigstens das Geld im Tempel geblieben wäre, wenn Ant. wenigstens das nicht geraubt hätte. Koch-Eberhard erklären: maneret (adhuc) exstaret. Selbst wenn diese Erklärung sprachlich richtig ist, so doch nicht sachlich. Denn Cicero mußte sich doch sagen, daß, wenn das Geld jetzt noch da wäre, A. sich nicht besinnen würde, es an sich zu nehmen. Sull. 19, 54 utinam quidem haec ipsa aequorum exspectationi satis facere posset. Es handelt sich um Vorgänge, die ein Jahr vor der Rede stattgefunden hatten. Cicero gibt zu, daß Sulla damals eine Gladiatorenbande angeworben habe, aber für Faustus, der Spiele zu geben hatte. Er sagt nun: ach wenn doch eben diese von Sulla geworbene Bande zur Verwendung bei den Spielen gekommen wäre; dann wäre ja der Verdacht, sie sei ad caedem ac tumultum geworben worden, widerlegt gewesen. Mil. 38, 103 utinam di immortales fecissent, . . . utinam P. Clodius non modo viveret, sed etiam praetor, consul, dictator esset. Ohne Anakoluth würde es heißen: utinam di fecissent,

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ut viveret.

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Der Redner versetzt sich also in die Vergangenheit, und daran ändert sich nichts, wenn er mit Anakoluth sagt: utinam viveret = wenn er doch am Leben geblieben wäre. Or. 41, 141 si profitear quod utinam possem me studiosis dicendi praecepta et quasi vias, quae ad eloquentiam ferrent, traditurum, quis tandem id iustus rerum existimator reprehendet? Worauf bezieht sich quod? Doch nicht auf das vorangehende profitear, sondern, wie so häufig, auf das Folgende, nämlich auf den in den Worten praecepta traditurum liegenden Begriff tradere utinam possem tradere. Was ist nun traditurum zu ergänzen, ein esse oder ein fuisse? Das ist hier mit Sicherheit festzustellen, denn der Coni. impf. ferrent ist nur dann zu erklären, wenn er abhängig ist von einem traditurum fuisse. Cicero würde also unabhängig sich so ausdrücken: si profitear id: vias, quae ad eloq. ferrent, traditurus fui, ich habe bei der Abfassung die Absicht gehabt zu lehren. Er hat also jenen Zeitpunkt der Vergangenheit im Auge. Wenn er nun hinzufügt: quod utinam possem, so bezieht sich dies auch auf jene Zeit und ist zu übersetzen 'hätte ich doch auch die Fähigkeit dazu gehabt'. Gewiß gilt der hierin enthaltene Gedanke 'leider hatte ich nicht die Fähigkeit auch noch für die Gegenwart: 'leider habe ich nicht die F.', aber dadurch verliert possem nicht seine präteritale Bedeutung. Phil. XI 5, 12 quibus utinam contenti essent. Sowohl die Worte vorher agrum est largitus, ut haberent als die Worte nachher quidvis patiendum fuit zeigen, daß Cicero mit seinen Gedanken in der Vergangenheit weilt, und es ist zu übersetzen: 'wenn sie doch sich begnügt hätten'. Brut. 73, 256 f. sed tamen malim mihi Crassi unam pro M.' Curio dictionem quam castellanos triumphos duo. At plus interfuit rei publicae castellum capi Ligurum quam bene defendi causam M.' Curii. - Credo. Sed Atheniensium quoque plus interfuit firma tecta in domiciliis habere quam Minervae signum ex ebore pulcherrimum; tamen ego me Phidiam esse mallem quam vel optimum fabrum tignarium. Reisig (§ 296) erklärt den Unterschied zwischen malim und mallem folgendermaßen: 'Im ersteren Falle, bei malim, treibt den Cicero seine Gesinnung, die ihm einen Wunsch gestattet: wenn ich wählen wollte [auch handelt es sich um sein eigenes Fach, die Beredsamkeit]. Im zweiten Falle, bei mallem, liegt zum Grunde: wenn ich wählen sollte, ich mag aber nicht wählen, denn nicht nur ein Zimmermann, sondern selbst auch ein Phidias zu sein war für einen Römer nichts Ehrenwertes; [vielmehr: ich kann nicht wählen, denn die Wahl betrifft Vorzüge, die ihm ganz fremd sind.]' Beide Erklärungen helfen uns nichts. Denn warum sollte Cicero nicht wählen mögen, da er selbst annimmt, er sei vor diese Wahl gestellt? Und warum sollte er nicht wählen können, da doch keine Fachkenntnisse dazu gehören, zu entscheiden, daß ein Bildhauer höher im Werte steht als ein Zimmermann? Die richtige Erklärung liegt doch ganz nahe, wenn wir beachten, daß Cicero bei den Worten sed Atheniensium interfuit mit seinen Gedanken in die Vergangenheit schweift: Ich hätte, wenn ich damals gelebt hätte, lieber Phidias als ein noch so tüchtiger Zimmermann sein wollen. Reisigs Erklärung ist um so auffallender, als er in demselben Paragraphen sagt: "Zugleich heißt vellem auch «ich hätte gewünscht» für voluissem'.

An anderen Stellen ist eine Beziehung auf die Vergangenheit zwar nicht zu beweisen, aber auch nicht ausgeschlossen, z. B. Cic. Man. 10, 27 utinam virorum fortium copiam tantam haberetis, ut haec vobis deliberatio difficilis esset. Die Frage nach einem Nachfolger des Lukullus wurde doch nicht erst jetzt erörtert, sondern war schon lange vorher unter den Bürgern vielfach ventiliert worden, und so hindert uns nichts, anzunehmen, daß Cicero sich in jene Vergangenheit versetzt: hättet ihr doch die Wahl zwischen mehreren Männern gehabt, aber es war ja von vornherein klar, daß nur ein Mann in Betracht kommt. Natürlich gilt der Wunsch auch noch von der Gegenwart, aber deshalb verliert haberetis nicht seine präteritale Bedeutung. Auch R. Kühner, Griech. Gr. II S. 195 bemerkt: 'Auch kann sich der Wunsch aus der Vergangenheit in die Gegenwart erstrecken.' (Für das Lateinische nimmt er merkwürdigerweise diese Möglichkeit nicht an.) Planc. 3, 7 quid? tu dignitatis iudicem putes esse populum? Fortasse nonnumquam est. Utinam vero semper esset. Dieser Wunsch gilt doch nicht bloß von der Gegenwart, sondern mindestens ebenso für die Vergangenheit, Cicero denkt dabei an die Erfahrungen, die er gemacht hat. Derartige Beispiele lassen sich noch mehr anführen.

Nun finden sich aber auch Beispiele, wo ein solches Sichhineinerstrecken des Gedankens aus der Vergangenheit in die Gegenwart nicht nachzuweisen ist, z. B. Cic. Att. II 19, 5 utinam adesses. Cicero wünscht, daß sein Freund jetzt hier wäre, vgl. § 1 me miserum, cur non ades? Weshalb steht nun hier das Impf.?

Wenn ich es jetzt unternehme, meine Erklärung vorzutragen, so knüpfe ich damit an einen Versuch an, den ich schon in den 'Untersuchungen' angedeutet habe.

Nur diejenigen Wunschsätze, die einen Coni. praes. oder perf. aufweisen, drücken einen wirklichen Wunsch aus. Der Gedanke an die Erfüllbarkeit spielt dabei, wie schon gesagt, gar keine Rolle. Wie der Coni. praes. auch da steht, wo der Redende weiß, daß der Wunsch nicht in Erfüllung gehen kann, so steht auch der Coni. perf., der zunächst bloß ausdrückt, daß der Redende das Vollendetsein einer Handlung wünscht, auch da, wo der Redende weiß, daß das Gegenteil des Gewünschten schon eingetreten ist, z. B. Ter. Andr. 463 utinam hic surdus aut haec muta facta sit, wenn er doch das Gehör oder sie die Sprache verloren hätte.

Wenn derartige Wunschsätze bei Cicero im Verhältnis zu den Komikern nur im geringsten Maße vorkommen, so braucht man zur Erklärung dieser Tatsache nicht irgend welche historische Entwicklung anzunehmen, sondern es genügt, den Unterschied der Stilgattungen zu beachten. Die Personen der Komödie, Sklaven, Dirnen, Mägde, unerfahrene Jünglinge u. s. w. lassen doch leicht ihre Phantasie mit dem Verstande durchgehen und sprechen die phantastischsten Wünsche aus. Ebenso schwelgt der bierfidele Studio in einer grotesken Vorstellung, wenn er singt: Ich wollt, ich wär ein Lujedor. Und auch der fromme, der begeisterte Sänger läßt seiner Phantasie die Zügel schießen, wenn er wünscht: O daß ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen

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