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Ausdruck. In gewisser Beziehung erscheint die Gesamtmasse des Menschen als ein permanentes Belastungsobjekt für die gesamte Skelettmuskulatur. Die relative Anstrengung oder Leichtigkeit, womit letztre der Ertragung oder Fortbewegung der Körperlast Herr wird, hat auf die Selbstempfindung als Kraftgefühl die analoge Wirkung wie die durch ganz und gar äussre Belastungsobjekte hervorgerufne Widerstandsoperation. In allen diesen Fällen jedoch empfindet das Bewusstsein nicht die äussre Last als solche, sondern unmittelbar und direkt nur eine bestimmte Veränderung des in Kraftgefühle sich umsetzenden Muskeltonus. Die nämliche Veränderung wie durch Einwirkung einer sichtbaren äussern Last oder durch das Gewicht des eignen Körpers kann der Muskeltonus auch erleiden ohne äussre Belastung, nämlich durch Veränderungen der Innervierung oder der nutritiven Vorgänge im Muskel oder durch beide zusammengenommen - folgerecht werden auch diese subjektiven Veränderungen des Muskeltonus als veränderte Belastungs- resp. Entlastungszustände, d. h. als veränderte Kraftgefühle wahrgenommen; veränderter Muskeltonus wird im Bewusstsein als verändertes persönliches Kraftgefühl empfunden und verwertet dies dürfen wir für sicher halten, es mag nun im konkreten Fall die Veränderung des Muskeltonus vorwiegend durch den motorischen Nerv angeregt oder durch die nutritive Spannung des Muskels bestimmt worden sein. Hienach wird es immer eine ebenso wichtige als interessante Aufgabe sein, im einzelnen Fall der psychischen Erkrankung die Anteile abzumessen, welche beide Faktoren an dem zu pathologischer Reaktion gelangten Kraftgefühl haben, das dann in der Form einseitigen Hemmungs- oder Fördrungsgefühls des bewussten Ich, mit andren Worten als psychischer Schmerz oder als erhöhtes Lustgefühl zur Erscheinung kommt. (Solbrig, 1809-1872: Die Beziehungen des Muskeltonus zur psychischen Erkrankung, 1871: Zeitschrift für Psychiatrie.)

Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Muskel und Fascie entnehme ich der Abhandlung Muskel und Fascie von Karl Bardeleben (1881, Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft) nachstehendes. Morphologisch betrachtet sind die Fascien im wesentlichen Fortsetzungen der Muskeln, also mit den Sehnen oder „Aponeurosen" in eine Linie zu stellen. Durch Sehnen oder Fascien können ferner Muskeln in mehrere geteilt, anderseits aber

auch physiologisch und morphologisch mehrere Muskeln zu einem vereinigt werden. Eine allgemeine Erscheinung ist es, dass die Muskelendigung von den niedren bis zu den höhren Tieren hin an den Extremitäten proximalwärts rückt. Die ganzen Muskeln oder doch das eigentliche Muskelfleisch zieht sich höher hinauf, der distale Teil wird zur Fascie, die an immer mehr proximal gelegnen Knochenpunkten ihre Hauptbefestigung findet. Die Sehnen und Aponeurosen der Muskeln werden so phylogenetisch allmählich länger und länger, ein Vorgang, der wohl mit der ontogenetischen, ja vielleicht (meiner Ansicht nach sicher: vgl. das bei dem Abschnitt Fuss Angeführte) mit der mechanischen Verlängerung (Dehnung) in Parallele gesetzt, wenn nicht durch letztre erklärt werden kann. Auf solche Vorgänge weist das verschiedne Längenverhältnis von Muskelfleisch und Sehne bei verschiednen Tieren und Menschen, bei letztrem (wohl auch jenen) je nach Alter und Individuum hin. Die Muskeln verkürzen sich somit nicht nur physiologisch, sondern auch anatomisch und zwar ontowie phylogenetisch. Es scheint als ob die absolute Körpergrösse von Bedeutung in diesem Vorgang sei. Im allgemeinen kann man nämlich konstatieren, dass grössre Tiere relativ kürzre (besonders Extremitäten-) Muskeln, dafür längre Aponeurosen, Fascien, besitzen als kleinre. Zum Schluss soll nur noch auf die Verhältnisse bei der Robbe (Seehund phoca) hingewiesen werden, wo kurze, richtiger verkürzte Extremitäten und lange Muskeln sich finden. Vielleicht eröffnet sich hier ein Verständnis für die Beziehungen zwischen Muskelfleisch und Sehne oder Fascie, sowie zwischen diesen Gebilden und der Grösse des Körpers, der Länge der Extremitäten, also der Knochen. Als blosse Hüllen, sagt Langer, sind die Fascien, jene fibrösen Membranen, deshalb bemerkenswert, weil sie das schwellende Fleisch einengen, ja bis zur Bretthärte verdichten und demselben auch Stützpunkte abgeben. Da sie aber auch den Fleischkörpern Ansätze geben und sehr häufig Abzweigungen von Sehnen in sich aufnehmen, werden sie auch direkt von den Muskeln gespannt, ja können auch die Wirkung der Muskeln von einem Glied auf ein folgendes übertragen, also eingelenkige Muskeln zu mehrgelenkigen umgestalten.

Die Muskeln sind von dem Ort, wo sich ihre bewegende Kraft äussert, oft ziemlich weit entlegen, indem sie durch lange Sehnen, gleich Klingelzügen, auf die zu bewegenden Knochen wirken. Also

z. B. die Finger an und für sich sind jeder Bewegung unfähig, denn sie bestehen aus Knochen, Bändern, Sehnen, Fett und Haut, Muskeln enthalten sie nicht. Die Sehnen aber laufen längs der Hand und dem Handgelenk zum Vorderarm, wo die zugehörigen Muskeln liegen, die man bei Bewegung der Finger daselbst anschwellen fühlt. So dass die Kraft des Händedrucks, wie die äusserste Fingerfertigkeit des Virtuosen, der auf den Tasten zwischen Missklang und Harmonie den unbegreiflichen Fiertanz tanzt, ihren Sitz nicht in der Hand, nicht in den Eingern haben, sondern in dem Vorderarm. (du Bois-Reymond, Über tierische Bewegung, 1851.)

Wenn man, sagt Tiedemann (Anatomie der kopflosen Missgeburten, 1813), den Bau des Mannes und des Weibes mit dem des Fetus vergleicht, so findet man, dass offenbar das Weib dem Fetus bei weitem mehr als der Mann ähnlich ist, und dass folglich das Weib auf einer niedrern Bildungsstufe steht als der Mann.

1. Der weibliche Körper ist im Durchschnitt bei weitem kleiner als der männliche und ist hierin also dem Fetus ähnlicher.

2. Der Rumpf ist im Verhältnis zu den Extremitäten am weiblichen Körper grösser (länger, D.) als am männlichen, oder die Extremitäten sind im Verhältnis zum Rumpf kleiner wie beim Fetus.

3. Das Geripp des Weibes ist leichter als das des Mannes, und die einzelnen Knochen sind weniger ausgebildet und ausgewirkt wie im Fetus.

4. Die Brusthöhle des Weibes ist enger, kleiner, nach oben mehr kegelförmig zulaufend als im Mann, ebenfalls eine Ähnlichkeit mit dem Fetus.

5. Die Bauchhöhle des Weibes ist im Verhältnis zur Brust bei weitem grösser als die des Mannes, wie im Fetus.

6. Das Zeilgewebe ist im Weib reichlicher vorhanden und

ist weicher und laxer als im Mann, wie im Fetus.

7. Die Leber des Weibes ist relativ zum Körper grösser im Weib als im Mann, wie beim Fetus.

8. Die Lungen des Weibes sind verhältnismässig zum Körper viel kleiner als die des Mannes, wie im Fetus.

9. Die Muskeln des Weibes sind weniger ausgebildet, schwächer, blasser und laxer als die des Mannes, wie die Muskeln des Fetus.

10. Das Gehirn des Weibes ist im Verhältnis zur Masse des Körpers grösser als das Gehirn des Mannes, wie das Gehirn im Fetus.

Mit diesem letzten 10. Differenzpunkt stimmt auch überein das Verhalten des Gewichts des Schädels, indem, wie ich durch meine Skelettwägungen (s. meinen Artikel Skelett) nachwies, beim Weib 21,95% (1:4,55), beim Mann nur 16,59% (1:6,02) vom ganzen Skelett auf den Schädel treffen, und hat hienach in Anbetracht des geringren Prozentverhältnisses des Schädels im Vergleich zum Gesamtskelett der grössre Entwicklungsfortschritt beim Mann stattgefunden.

Platon setzt als Blütezeit des Körpers sowohl wie des Geistes (ακμὴ σώματός τε καὶ φρονήσεως) das 20.40. Jahr beim Weib, das 30.-55. beim Mann an. Den Jahreszeiten entsprechend kann man den Entwicklungsgang des Menschen in vier Zeitabschnitte teilen (wie wir dies auch bei Ovid, Metamorphosen, finden) in die Zeit der ersten Entwicklung oder Kindheit vom Neugebornen bis zum 15. Jahr, in die Zeit der Blüte oder das Jünglingsalter vom 16.-29. Jahr, in das fruchtbringende Mannesalter vom 30.-59. Jahr, in welchem Alter auch das geistige Leben seine Reife erreicht, das Überschwengliche der Empfindungen ist abgestreift, die Welt ist ruhiger, klarer, ernster geworden, und in die Zeit der allgemeinen Rückbildung, sich anzeigend mit 60 Jahren als allmählicher Nachlass der körperlichen Bethätigungen und dann als das eigentliche auch mit Nachlass der geistigen Thätigkeit gewöhnlich verbundne Greisenalter vom 70. Jahr an senectus ipsa morbus est, sagt Cicero (106-43 v. Chr.), und Hyrtl, annis, non animo senex, fügt in seiner anlässlich seines 80. Geburtstags (1890) an das Wiener medizinische Doktorenkollegium gehaltnen lateinischen Dankesrede hinzu: morbus certe dirus, quia nulla panacea sanabilis (Wiener medizinische Blätter 1894, Nr. 30). Und schwer auch drückt ihn das Alter χαλεπὸν δ ̓ ἐπὶ γῆρας ἱκάνει, sagt Homer in seiner unsterblichen Odyssee von des Odysseus Vater. Im übrigen ist das Alter nicht nach der Zahl der Jahre, sondern nach dem Stand der Kräfte zu bemessen. Der erste Sinn, der schon mit Beginn der 50er Jahre abnimmt, ist leider in der Regel der Sehsinn.

Multa ferunt anni venientes commoda secum,
Multa recedentes adimunt: ne forte seniles
Mandentur juveni partes pueroque viriles.
Semper in adjunctis aevoque morabimur aptis.

Horatius (65-8 v. Chr.)

Dass auch das übrige Tierreich das gleiche Schicksal mit dem Menschen teilt, der ja an seiner Spitze steht, ergibt sich aus der Paläontologie. Die Paläontologie, sagt Zittel (Aus der Urzeit, 1875), lehrt uns, dass nicht allein dem Individuum, sondern auch der Art, ja der Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, eine gewisse Lebensdauer zukommt, dass die Art, Gattung u. s. f. ebenso eine Kindheit und Jugend, ein Mannes- und Greisenalter durchlauft wie das Individuum und dass sie nach allmählicher Erschöpfung ihrer Lebenskraft unerbittlich der Vernichtung anheimfällt. Helmholtz schliesst seinen Vortrag Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittlungen der Physik (1854; in: Vorträge und Reden, 1896) mit den Worten: Wie der Einzelne, so muss auch das Geschlecht den Gedanken seines Todes ertragen; aber es hat vor andren untergegangnen Lebensformen höhre sittliche Aufgaben voraus, deren Träger es ist und mit deren Vollendung es seine Bestimmung erfüllt.

Es ist ein altes vielgebrauchtes Bild, dem urältesten Teil der praktischen Chemie entnommen, der Gewinnung der Metalle, deren Entwicklung in der Kulturgeschichte der Menschheit grosse Zeitalter voneinander scheidet, dass jeder Mensch wie eine Legierung aus edlen und unedlen Metallen zu betrachten sei, dass er im Leben und im Tod durch scharfes Feuer geprüft und geläutert werden müsse, und dass er um so mehr Edles hinterlasse, je mehr er im Leben Edles angestrebt hat. Jeder, der redlich einem höhern Ziel dient, lässt zuletzt beim Verglühen oder, wie es der Probierer nennt, beim Blicken ein grössres oder kleinres Korn edlen Metalls zurück; nur wenige verzehren sich so vollständig in der Hitze des Probierofens dieses Lebens, dass sie von der Schicht Knochenasche, auf der sie, einmal flüssig gemacht, unaufhörlich bis zu ihrem Verschwinden treiben müssen, ganz als Schlacke eingezogen werden; aber das Gewicht dessen, was zurückbleibt, ist sehr verschieden. Pettenkofer (1818-1901), Zum Gedächtnis des Dr. Justus Liebig, 1874.

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