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,,Der Gelehrte ist nur dem Gelehrten brauchbar, allein der Weise ist dem Unweisen und Weisen gleich nüglich. Ein Gelehrter hat seinen Geist nicht über andre erhoben; seine Urtheile sind nicht schårfer, seine Bemerkungen nicht feiner und seine Handlungen nicht schöner als die eines andern; er treibt blos ein andres Handwerk als sie, seine Hånde haben eine andre Beschäftigung, wovon er den größten Theil ohne Kopfverrichten kann. Allein ganz anders ist der Weise. Er ragt weit über den Alltaghaufen hervor; er be= trachtet alles aus einem besondern Gesichtspunkte; in seinen Beschäftigungen ist immer Endzweck, in seinen Ideen immer Freiheit und alles ist bei ihm mehr als gewöhnlich.“

Sonntag, den 23. September.

„Die Einsamkeit vermehrt den Stolz; mit je weniger Menschen man umgeht, über desto mehrere segt man sich hinauf. Daher wird allzeit der auf dem Dorfe sich mehr dûnken als der in der Stadt; daher liebt der Schwärmer die Einsamkeit, weil er am meisten den Stolz liebt. Die Gelehrsamkeit, die man von Büchern einsammelt, macht stolz, die man von andern Menschen hört, macht bescheiden, denn

man glaubt das schreiben zu können, was man liest, allein man glaubt nicht, das sagen zu können, was uns oft der andre fagt."

Dienstag, den 25. September.

„Der Trieb, den andern zu gefallen, begleitet je= den Menschen bei jeder seiner Handlungen und die Ruhmbegierde ist eine von den Haupttriebfedern, die uns ́in Thätigkeit segt. Man will also von andern geschägt sein. Aber nicht genug; der andere soll uns nicht nur so hoch schågen, als wir uns selbst, sondern er soll auch eine noch größere Meinung von uns bekommen. Wir verbergen unsre Fehler vor andern; ja, was noch mehr ist, wir hören nicht einmal gern diejenigen Mångel aus seinem Muude, die wir selbst eingestehen. Man würde dem, der aus Bescheidenheit einen seiner wenigen Fehler selbst erzählte, einen unangenehmen Dienst erweisen, wenn man ihm die Wirklichkeit dieser Fehler zugabe."

So war Jean Paul im neunzehnten Jahre seines Lebens oder zu Ende des Jahres 1781; so scharf und tiefsinnig dachte er schon damals, und so eilte seine geistige Beobachtungsgabe und

feine innere Anschauung der äußern Erfahrung voraus *).

*) Wir bemerken noch, daß Paul, neben den erwähn= ten Studien, und neben kurzen, blos dem Sinn nach ausgewählten und mit eigenen Worten kurz ausgedrückten, wissenschaftlichen Erzerpten, auch wörtliche Auszüge aus den Schriften machte, die er las. Zwölf Quartbånde hatte er schon, bevor er auf die Universitåt ging, zusam= mengetragen, unter demselben Titel, welchen auch der folgende führt, den er in Leipzig niederschrieb, nämlich: „Verschiedenes aus den neuesten Schrif ten. Dreizehnter Band. Leipzig, 1781. Dies fer hat 216 eng und sorgfältig geschriebene Seiten und ein dreifaches Register, wovon das erste ein Verzeichnis von 21 Schriften, aus denen die Auszüge entnommen, das zweite ein Verzeichnis der (135) ausgezogenen Sachen, das dritte aber ein Verzeichnis der Unmerkungen, Sena tenzen und auffallenden Ausdrücke aus verschiedenen (nicht namentlich angegebenen) Schriftstellern enthält.

Erste

IX. Beginn der Räthsellösung.
Stazion des Schriftstellerlebens im
März 1782.

In seiner Vorschule der Aesthetik spricht Jean Paul vom passiven Genie, das reicher an em pfangender als schaffender Phantasie ist und nur über schwache Dienstkräfte zu gebieten hat. Man kann es ein negatives poetisches Talent nennen, welches im Gegensah mit dem positiven oder mit der Fähigkeit, Dichtungen zu schaffen nur die untergeordnete Fähigkeit besißt, von fremden Dichterwerken durchdrungen, belebt und begeistert zu werden. In der Jugend ist eine gefährliche Verwechselung beider nur zu leicht möglich, weil die, welche an einem Einzigen, zu geschwind vergehenden Pfingsttag mit fremden

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Zungen sprechen und den Wiederhall fremder Be· geisterung vernehmen lassen, wähnen, jeden ihrer künftigen Lebenstage zu einem heiligen Pfingsttag machen zu können, und wegen solchen Wahns sich vorsehen, ihn in der That dazu zu machen. Sie verwechseln den guten, aber zu kecken Vor

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fag mit der gelungenen That; rechnen sich ̧jenen für diese an und rufen wol auch im überschwånglichen Selbgefühle aus: Ich bin Dichter! Ich bin Künstler!

Seit bei den Deutschen in Rücksicht der Worte, Redensarten und Gedanken eine Art von . Stereotypen - Poesie oder Versmacherei

fast

der ålteren französischen ähnlich, über die sich
die neueste emporzuschwingen anfängt ent=
standen und eine damit verschwisterte Reminis-
zenzen - Anwendung sowol, als Vergeßlichkeit vor-
herrschend geworden, haben sogar Männer
als wollten sie das selbertäuschende Jünglings-
alter verlängern und nie zur rechten Besinnung
und wahren Selbkenntnis kommen sich durch

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