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Prof. L. Fr. Kämtz. Ursache der früheren grössern Ausdehnung der Gletscher.

X.

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Bemerkungen über die Ursache der früheren grösseren Ausdehnung der Gletscher in den Alpen und in Skandinavien.

Von Prof. Dr. L. F. Kämtz in Dorpat.

(Aus einem Schreiben vom 11. Mai 1858 an W. Haidinger.)

Mitgetheilt in der Versammlung der k. k. geographischen Gesellschaft am 1. Juni 1858.

Obgleich meine vorjährige Reise eigentlich mehr eine Erholungsreise war, so habe ich doch mit warmen Interesse auch die Gletscher und die von ihnen hervorgebrachten Phänomene betrachtet; ich bin vielleicht einer der ältesten Anhänger von Charpentier's Ansicht über die frühere Ausdehnung der Gletscher, da mich Charpentier 1832 auf die Umgebungen seines Wohnortes aufmerksam machte und ich wenige Zeit später alte Moränen und Felsschliffe auf dem Wege nach dem St. Bernhard fand.

Aber durch Verhältnisse verhindert, während einer Reihe von Jahren die Alpen wieder zu sehen, habe ich zwar mit Interesse die Arbeiten Anderer verfolgt, doch ohne selbst etwas zu thun. Bei den mancherlei Discussionen über die Ursache dieser Ausdehnung hat man, wie ich glaube, einen Punkt ganz übersehen, welcher dabei eine Hauptrolle zu spielen scheint. Die Alpen nämlich, von welchen die Geschiebe bis zum Jura und ins Salzburgische geführt wurden, sind nicht die jetzigen gewesen.

Möge Granit, Protogyn feurig- oder wässerig-flüssig gewesen sein, das war nicht möglich, dass die fast senkrechten Kalkschichten öfter Tausende von Fussen unter den krystallinischen Spitzen zurückblieben, ohne dass die flüssigen Massen weit nach allen Richtungen überflossen, zumal dadurch der Boden doch heftig erschüttert wurde. So bildeten gewiss die meisten krystallinischen Kämme und Spitzen nur gewaltige Gänge in weit höheren Kalkgebirgen, die vielfach zerstörten Blöcke stürzten in die Tiefe und der Kalk, theils mechanisch, theils chemisch aufgelöst, wurde sofort abgeführt. Blieben nun nach der Erkaltung die krystallinischen Massen auch stehen, so wurden sie doch eben so, wie jetzt, von dem Wechsel zwischen Wärme und Kälte angegriffen und auch sie wurden niedriger. Wollen wir uns also einen Begriff von den Gebirgen in jener Zeit machen, so müssen wir die Blöcke, welche wir fern von den Alpen treffen, und welche doch gewiss nur ein verhältnissmässig kleiner Theil dessen sind, was von ihnen herrührt, da die feineren Theile durch die Gewässer fortgeführt wurden, wir müssen alles, was die ehemaligen Seen und was die lombardische Ebene ausfüllt, die vielen Gerölle, welche bis zur Donau sich erstrecken, auf das Gebirge zurück versetzen und wir bekommen Höhen, die sich über die Schweizer Ebenen um mehrere tausend Fuss mehr erheben als gegenwärtig.

Indem ich die beschriebenen Geschiebe so weit als möglich nach ihrem Ursprunge zurück versetzte, konnte ich die Punkte näher angeben, welche bedeutend höher gewesen waren als gegenwärtig und nach Vollendung dieser Zusammenstellung war es mir interessant zu sehen, dass Studer namentlich das grosse Thal des Mer de Glace bei Chamouni als ein Seebecken angeführt, wo eine grosse Lücke im Kamme sich findet, was er aus einer Einsenkung ableitet, wo mir aber die grosse Zerstörung wahrscheinlicher ist. Ganz dasselbe glaube ich von der Gruppe des Monte Rosa und den beiden Thälern von Saas und Zermatt, welche gewiss anfänglich verhältnissmässig unbedeutende Risse in der zu

sammenhängenden Masse bildeten, die später durch Erosion weiter ausgearbeitet wurden. So mochte der Montblanc in jener Zeit eine Höhe von 20,000 Fuss gehabt haben (auf das jetzige Meeresniveau bezogen).

Geben wir aber in jener Periode der Schneegrenze eine Höhe von mehr als 9000', also 1000' mehr als jetzt, so war es nach demjenigen, was wir über Zusammenhang zwischen Höhen von Bergspitzen und unterer Gränze der Gletscher wissen, sehr wahrscheinlich, dass sich die Gletscher bis zum jetzigen Meeresspiegel herabziehen konnten, dass sie sich also auf den jetzigen Schweizer Ebenen viel weiter verbreiteten. Bei dieser grösseren Höhe des Gebirges konnten die südlichen Winde noch schwerer über das Gebirge kommen als jetzt und eben so fanden die an der nördlichen Seite aufsteigenden Winde ebenfalls grossen Widerstand, so dass Nebel und Wolken häufiger waren als gegenwärtig, was alles zu der Grösse der Gletscher beitrug, zumal dann viele Theile des Gebirges steiler sein mochten.

War das skandinavische Phänomen gleichzeitig mit dem alpinen, was ich zwar für wahrscheinlich, aber nicht für nöthig halte, so waren diese nördlichen Winde feuchter als jetzt und dieses trug ebenfalls das Seinige zur grösseren Ausdehnung der Gletscher bei. So kommen die Eismassen auf die vielen Seen der damals noch nicht ausgefüllten Thäler, in welchen allen die Temperatur sich gewiss wenig über den Gefrierpunkt erhob, hier gewiss drängten sie vorwärts und konnten sich mit ihren Blöcken weithin bewegen. Ohne dass die Temperatur der Erde im Ganzen niedriger war als jetzt, sondern vielleicht noch grösser war, halte ich diese grössere Ausdehnung der Gletscher für möglich. So wie das Gebirge niedriger wurde, zogen sich auch die Eismassen zurück. Diese Zerstörung, die noch gegenwärtig vor sich geht, ist weit bedeutender als man glaubt. Ich will hier nicht mich mit Zahlen aufhalten, aber wenn man eine Schätzung von dem Inhalte einer Moräne eines grösseren Gletschers macht, die in etwa allen hundert Jahren sich erneuern lässt, und dieses etwa 20,000 Jahre fortsetzt. Ganz dasselbe gilt von dem Schlamme der Flüsse. Leider sind bei keinem Alpenflusse Messungen über die Menge suspendirter Theile vorgenommen; aber wenn ich die Zahlen bei Bischof im Mittel nehme und die Zuflüsse des Rheins bis zu ihrem Eintritte in die grossen Seen nur die Hälfte des Wassers gäbe als bei Basel, so führen diese Zuflüsse eine Schlammmasse fort, welche bei 45o Neigung jährlich einen Kegel von etwa 400 Fuss Höhe geben würden.

Ganz auf dieselbe Weise leite ich auch das skandinavische Phänomen nur von der grösseren Höhe ab. Hier ist die Zerstörung bedeutend grossartiger gewesen als in den Alpen, die geschichteten Gebirge sind hier bis auf unbedeutende Massen zerstört.

In ganz Finnland habe ich nur abgerundete und geschliffene Kuppen gesehen. Der Raum, auf welchem die Geschiebe zerstreut sind, beträgt mehr als 70,000 geographische Quadratmeilen, dabei ist oft das Gerölle sehr mächtig. So verschwindet in Liefland der Sandstein in etwa 4 bis 500' Höhe, aber einzelne Spitzen erheben sich bis gegen 1000' und bei einer barometrischen Vermessung dieser Höhen traf ich mehrere bedeutende Wasserrisse, aber alles war nordisches oder Esthländisches Geschiebe. Nehme ich nach einer ungefähren Schätzung des Inhaltes dieser Massen die Hälfte für Schweden und Norwegen, so kann ich auf den Gipfel der 225 Meilen langen Gebirgskette ein Prisma von mehr als 1000' mittleren Höhe legen, wenn der Neigungswinkel etwa 10° beträgt. Eben so mag es in Finnland Höhen von mehr als 10,000' gegeben haben. Dabei mussten die Eismassen selbst bei einer höheren Temperatur der Erde im Ganzen eine Ausdehnung haben, welche wir uns jetzt nicht vorzustellen im Stande sind.

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Dieses sind also meine Ideen über das vielbesprochene Phänomen. Es ist wenigstens darin nichts, was den übrigen geologischen Phänomenen widerstreitet; das Einzige, was vielleicht zu hypothetisch ist, könnte meine Rechnung über den Zusammenhang zwischen der Höhe der Bergspitzen und des unteren Gletscher-Endes sein, doch fehlt es gerade hier noch an umfassenden Messungen, dass die Formel genau wäre. Aber man darf nicht vergessen, dass, wenn manche Gletscher, wie z. B. die der Aar etwas bedeutender wären, so dass sie sich bis in die Berner Thäler erstreckten, sie sich plötzlich viel weiter ausbreiten mussten, anderseits aber in den engen Thälern stark zusammen gepresst wurden, so dass die Eismassen eine weit grössere Mächtigkeit erreichten; daher finden wir so häufig diesen Einmündungen der Querthäler gegenüber so gewaltige Schuttmassen, und ich erinnere in dieser Hinsicht nur an die Gegend von Imst dem Oetzthale gegenüber; doch will ich hiervon abbrechen, da eine ausführliche Discussion für meinen Brief zu ausführlich würde.

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