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Dritte Abtheilung.

Zur Didaktik und Pædagogik.

Die Fortschritte des Schulwesens in den Culturstaaten Europa's.

IV. Belgien.

(Fortsetzung von Heft VIII. S. 579 ft.)

Der höhere Unterricht.
(Enseignement supérieur.)

Der Zustand des höheren Unterrichtes war in den ersten Jahren nach der Revolution kein zufriedenstellender. Die unter der holländischen Regierung angestellten Lehrer erfreuten sich eben nicht der Gunst der neuen Machthaber und neue frische Kräfte waren nicht vorhanden. Viele Lehrer nahmen freiwillig ihre Entlassung, andere wurden dazu genöthigt. Jede der drei vollständigen Universitäten zu Gent, Lüttich und Löwen büfste eine oder die andere Facultät ein. Gent behielt blofs die medicinische und juridische, Lüttich überdies noch die mathematisch-physikalische Facultät, in Löwen verblieben die Facultäten der Philosophie und Medicin. An einigen Orten bildeten sich aus den zurückgebliebenen Professoren sogenannte freie Facultäten (facultés libres), welche von der gesetzlich stipulierten Freiheit des Unterrichtes Gebrauch machten.

Nur den Bestrebungen der Geistlichkeit brachte die politische Umwälzung Vortheil. Die belgischen Bischöfe beschlossen die Gründung einer katholischen Universität; sämmtliche Wissenschaften sollten hier durchdrungen vom Geiste des Katholicismus ihre Vertretung finden. Was an anderen Orten das sehnsüchtige Ziel des Clerus war und blieb, sollte hier seine Verwirklichung finden. Löwen war zum Sitze dieser Hochschule ausersehen. Die daselbst vorhandenen Sammlungen und Stiftungen sollten für katholische Bestrebungen benützt werden. Der Moment war gerade ein überaus günstiger. Wenn es der Geistlichkeit gelang rasch ihren Plan auszuführen, so konnte der Erfolg ihr nicht fehlen. Bei der damaligen Zerfahrenheit des höheren Unterrichtes wäre es möglich gewesen ein grofses Uebergewicht zu erlangen und die übrigen Lehranstalten für längere Zeit in Schatten zu stellen. Von der Suprematie über den höheren Unterricht

zur Beherrschung des mittleren Unterrichtes war nur ein Schritt. Man trat mit grofser Behutsamkeit auf. Unter dem Namen einer katholischen Universität wollte man Anfangs blofs die Organisierung einer theologischen Facultät verstanden wissen und der römische Stuhl wurde angegangen hiezu die Zustimmung zu ertheilen. Mit Freuden wurde dieselbe durch ein Breve vom 13. December 1833 gewährt. Schon im folgenden Jahre forderte ein erzbischöfliches Circular die Katholiken Belgiens auf mit Beiträgen dieses Streben zu unterstützen; man bezwecke wol, hiefs es darin, zunächst blofs für die Bedürfnisse der Geistlichkeit Sorge zu tragen, die Hinzufügung der anderen Facultäten sei jedoch in Aussicht genommen. Man begreife es ja in Belgien immer mehr, dass aller Unterricht, welcher nicht den Grundsätzen des katholischen Glaubens untergeordnet sei, zum Verderben führen müsse. Von den Grundsätzen des Katholicismus losgeschält sei die Wissenschaft gegen ihren Urheber, gegen Gott gerichtet. Nur die Vermählung der Wissenschaft mit dem Glauben führe zum Heile. Diese Einigung, welche früher bestanden, müsse zum Heile der Seelen wiederkehren. Die Kraft und Tiefe der Studien werde die hervorragendste Sorge der Geistlichkeit sein. Man sei auch gesonnen alte Institutionen, welche so segensreich gewirkt, zu rehabilitieren, Pædagogien und Collegien zu errichten und die Zöglinge durch Gewährung von Kost und Wohnung unter steter Aufsicht zu behalten. Es hatte allen Anschein: Belgien sollte eine Wiedererstehung der Jesuitencollegien feiern.

Um die Kosten zu decken wurden Actien zu einem Franc ausgegeben. Die Geistlichkeit wurde aufgefordert mit gutem Beispiele voranzugehen. Die Pfarrer und die unter ihnen stehende Geistlichkeit wurden verpflichtet ihre Beichtkinder aufzumuntern zum guten Werke einen Beitrag zu liefern. Der Erfolg war ein kolossaler. Binnen Jahresfrist war ein Stiftungscapital von 2 Millionen und jährliche Beiträge in der Höhe von 90.000 Frcs beisammen ').

Die katholische Partei hatte einen grofsen Erfolg errungen. Die liberale Partei hinkte nach und bemühte sich durch Gründung einer freien Universität einen Mittelpunct für ihre Bestrebungen zu finden. Brüssel wurde zum Sitze derselben ausersehen. Die Hauptstadt des neuen Reiches besafs bislang keine höhere Lehranstalt, aber die theilweise reichhaltigen naturhistorisch en Sammlungen konnten einem neuen Institute zur Verfügung gestellt werden. Auch glaubte man anfangs gerade nicht bedeutender Mittel zu bedürfen, da sich wissenschaftlich gebildete Männer, von denen einige sich eines guten Namens erfreuten, freiwillig zur Uebernahme einzelner Lehrkanzeln anboten. Ein „conseil d'administration de l'Université libre de Belgique" nahm die Organisation in die Hand; am 20. Nov. 1834 fand die feierliche Eröffnung der Universität statt. Die Bedeutung und Aufgabe der neuen Anstalt suchte der Secretär des Verwaltungsrathes Baron in's rechte Licht zu setzen. Er hob hervor, dass die Bibliotheken,

') Sämmtliche die Gründung der katholischen Universität betreffende Actenstücke finden sich in dem alljährlich von der Universität herausgegebenen Annuaire de l'Université catholique de Louvain, dessen erster Band 1837 erschien.

die wissenschaftlichen und artistischen Museen, die Hospitäler, der botanische Garten Brüssels bisher für den Unterricht der Jugend verloren waren, die neue Lehranstalt werde nun Gelegenheit bieten dieselben nutzbringend zu machen. Die Befürchtungen, dass die Hauptstadt Mittel zur Zerstreuung, Gelegenheit zur Verführung biete, könne nicht in die Wagschale fallen. Die Hauptstädte seien in neuerer Zeit aller Orten Mittelpuncte des Fortschrittes und der Intelligenz geworden, in Belgien sei es ebenfalls geboten die Jugend mit dem Geiste der Hauptstadt bekannt zu machen, dies heifse sie nationalisieren. Man müsse mit dem Episcopat in die Schranken treten, die Lehren an der katholischen Universität würden unvollständig und willkürlich sein, indem sie an ein Dogma geknüpft seien, welches selbst in katholischen Staaten von religiös gesinnten Geistern bestritten werde. Die Lehrer müssen sich daselbst der ganzen Sachlage nach in engen Grenzen herumbewegen, während sämmtliche Wissenschaften, die Philosophie und Jurisprudenz, die Medicin so wie die historisch - politischen Wissenschaften eine Freiheit der Bewegung gebieterisch heischen. Ohne dem Katholicismus feindlich zu sein, habe die freie Universität auch die Aufgabe, die Grenzlinien zwischen dem Gebiete des geistlichen und weltlichen im Unterrichte zu ziehen und die unermesslichen Bezirke der freien Forschung mit Unabhängigkeit zu durchwandern 2).

In der Rede Baron's grenzen Wahrheit und Dichtung hart aneinander, sie strotzt von bombastischen Phrasen. Aber trotzdem man die Wortführer der freien Universität als gefährliche Männer und Feinde des Glaubens in der katholischen Presse verlästerte, hat die freie Universität bis auf die Gegenwart ganz unbehelligt eine nicht unbedeutende Wirksamkeit entfaltet, obwol sie mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Während der katholischen Universität die Mittel reichlich aus allen Theilen des Reiches zuflossen, brachten die Sammlungen für die freie Universität nur eine geringfügige Summe und sie war genöthigt an die Liberalität einzelner Männer zu appellieren, welche ganz unentgeltlich einzelne Lehrfächer übernahmen, und erst in jüngster Zeit kam man in die Lage bessere Gehalte für den Lehrkörper anzusetzen.

Diese Bestrebungen von katholischer und liberaler Seite und die allseitigen Klagen, dass der höhere Unterricht darnieder liege, zwangen endlich die Regierung die Regelung desselben in Angriff zu nehmen. Schon 1834 war ein das gesammte Unterrichtswesen betreffender Entwurf den Kammern vorgelegt worden; die Annahme der ersten beiden Abschnitte, den Primär- und Secundärunterricht betreffend, stiefs auf Schwierigkeiten. Die Regierung beschloss den dritten Theil des Entwurfes über den höheren Unterricht loszutrennen und selbständig zur Berathung zu bringen. Die Geistlichkeit selbst unterstützte die Regierung in ihrem Bestreben eine Organisation der staatlichen Lehranstalten anzubahnen. Sie wünschte die Aufhebung der Facultäten zu Löwen, um von den Räumlichkeiten und

2) Die auf die Geschichte der Universität zu Brüssel sich beziehenden Thatsachen findet man in dem zur Feier des 25jährigen Jubiläums der Universität erschienenen Buche: l'Université libre de Bruxelles pendant vingt cinq ans. 1834-1860. Bruxelles 1860.

Sammlungen der bisherigen Hochschule Besitz ergreifen zu können. Eine mit der Prüfung der Vorlage betraute Commission beabsichtigte die Gründung einer einzigen Universität zu Löwen; der Vorschlag fand natürlich keinen Anklang. Auch ein anderes Project, mit der freien Universität in Brüssel die bisher vorhandenen Lehrcorporationen zu vereinigen und auf diese Weise eine Hochschule zu begründen, welche in erfolgreicher Weise der katholischen Universität Concurrenz machen sollte, konnte der Natur der Sache nach die Zustimmung nicht erhalten. Man machte mancherlei für die Erhaltung der beiden Universitäten zu Gent und Lüttich geltend. Die Debatten über die einzelnen Puncte des Gesetzentwurfes wurden nicht ohne Heftigkeit geführt. Am 27. September 1835 erhielt er endlich die königliche Sanction, nachdem in den beiden Kammern mancherlei Modificationen waren angebracht worden.

Man adopțierte die Erhaltung zweier Staatsuniversitäten, zu Gent und zu Lüttich, in Verbindung mit einigen Specialschulen für Bergwesen, Manufacturen und Gewerbe; Löwen wurde unterdrückt. Die Geistlichkeit erreichte die Verlegung ihrer Universität von Mecheln nach Löwen. Die Gemeinde unterstützte bereitwilligst diese Bemühungen. Die Uebersiedelungskosten wurden durch eine neue Subscription gedeckt, welche abermals 800.000 Fres. abwarf; mit dem Beginne des Studienjahres 1836 wurden die Vorlesungen in Löwen eröffnet.

Schon nach drei Jahren stellte sich die Nothwendigkeit heraus, das Gesetz über den höheren Unterricht einer Aenderung zu unterziehen. Der damalige Minister de Theux legte einen hierauf bezüglichen Entwurf am 7. December 1838 den Kammern vor. Zur Verhandlung kam er nicht. Im Jahre 1842 brachte Nothomb den Entwurf mit geringen Modificationen wieder ein, ohne dass er zur Discussion gelangte. Erst 1849 wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen und das revidierte Gesetz über den höheren Unterricht wurde am 15. Juli promulgiert, welches im wesentlichen gegenwärtig noch in Kraft besteht.

Die beiden Staatsuniversitäten blieben aufrecht erhalten, trotzdem abermals einige Stimmen die Zusammenlegung derselben in eine einzige Anstalt befürworteten. Sie fanden keinen Anklang.

Jede Universität umfasst vier Facultäten: die philosophisch-literarische (faculté de philosophie et des lettres), die mathematisch-physikalische (des sciences mathématiques, physiques et naturelles), die juridische und medicinische Facultät. Von einer theologischen Facultät ist abgesehen, man überliefs dieselbe ausschliefslich der Geistlichkeit. Mit der mathematisch-physikalischen Facultät in Gent stehen Fachschulen für die Heranbildung von Civil- und Fabriksingenieuren, mit jener in Lüttich Fachschulen für Berg- und Fabriksingenieure so wie für Maschinenbauer in Verbindung.

Die Gegenstände, welche an der philosophischen Facultät gelehrt werden sollen, sind dem Gesetze vom Jahre 1849 zu Folge: orientalische Literatur, Anthropologie, Logik und Moralphilosophie, Metaphysik, griechische Literatur, lateinische Literatur, Aesthetik, französische Literatur, vlämische Literatur, römische Antiquitäten, Archæologie, Geschichte des

Alterthums, politische Geschichte des Mittelalters, politische Geschichte Belgiens, Geschichte der alten und neuen Philosophie, politische Geschichte der Neuzeit, politische Oekonomie, griechische Alterthümer, Geschichte der alten Literatur. Diese Lehrfächer sollten von 8-10 Professoren vorgetragen werden. Im Jahre 1864 waren in Lüttich sechs ordentliche und vier aufserordentliche Professoren angestellt, Gent zählte blofs neun Lehrkräfte, sechs ordentliche und drei aufserordentliche.

An der mathematisch-physikalischen Facultät normierte das Gesetz vom J. 1849 folgende Lehrkanzeln: für höhere Mathematik und analytische Geometrie, darstellende Geometrie nebst Schattenlehre, Perspective, Steinschnitt, Integral- und Differentialrechnung, Wahrscheinlichkeitsrechnung und politsiche Arithmetik (arithmétique sociale), analytische Mechanik und mécanique céleste, Maschinenlehre, Astronomie, Experimentalphysik, industrielle Physik, mathematische Physik, unorganische und organische Chemie, angewandte Chemie, Mineralogie, Geologie in Verbindung mit physikalischer Geographie, Botanik nebst Anatomie und Physiologie der Pflanzen, Zoologie, vergleichende Anatomie und Physiologie. Aufserdem noch in Gent: Civilarchitektur, Schiffsbau, Hydraulik, Strafsen- und Canalbau, descriptive Geometrie und ihre Anwendung auf Maschinen, Strafsen und Canäle; in Lüttich: Metallurgie, Bergbau, descriptive Geometrie und ihre Anwendung auf Maschinen. Für die Faculté des sciences sind 9-11 Lehrkräfte präliminiert. Es sind gegenwärtig an beiden Universitäten zehn Professoren angestellt, in Lüttich sieben ordentliche und drei aufserordentliche, in Gent acht ordentliche und zwei aufserordentliche.

An der Rechtsfacultät waren folgende Lehrfächer festgesetzt: Rechtsphilosophie, Pandekten, allgemeines und specielles Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Elemente des modernen Civilrechtes, Civilrecht, Strafrecht, Civilprocess, Handelsrecht, science du notariat. Hiefür sind 7--9 Lehrkräfte in Aussicht genommen; Lüttich zählt nach dem neuesten Ausweise neun, Gent acht Professoren an der juridischen Facultät.

Die Lehrgegenstände der medicinischen Facultät, welche von acht bis zehn Lehrern vorgetragen werden sollen, sind folgende: Encyklopædie und Geschichte der Medicin, descriptive Anatomie, pathologische Anatomie, Physiologie des Menschen und vergleichende Physiologie, Gesundheitslehre, allgemeine Pathologie, allgemeine Therapie, Pharmakologie und die Elemente der Pharmacie, theoretische und praktische Pharmacie, Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, innere Klinik, chirurgische Pathologie, Chirurgie, externe Klinik, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin. Beide Universitäten haben gegenwärtig neun Professoren der Medicin.

Man sieht, einen Ueberfluss an Lehrern besitzen die belgischen Universitäten nicht. Es ist eben nur für das allernothwendigste gesorgt. Specialcollegia werden nicht oder nur äusserst selten gelesen, man begnügt sich dasjenige vortragen zu lassen, was bei den Examen gefordert wird; nicht obligate Lehrgegenstände sind nur spärlich im Lectionskataloge vertreten. Das Vorbild Frankreichs, welches man bei den den höheren Unterricht betreffenden Institutionen zu sehr nachgeahmt hat, war in dieser Hinsicht für die Hebung wissenschaftlichen Sinnes nicht gerade vom Vortheil. Zeitschrift f, d, österr. Gymn, 1867. X. Heft.

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