Page images
PDF
EPUB

Litterarisches Archiv

der

Akademie zu Bern.

Erster Jahrgang.

Viertes Stúd.

Bern,

bey der typographischen Gesellschaft.

[ocr errors]

17.

Ueber

den wahren Sinn des Naturgefeßes:

daß der Mächtigere herrsche.

1

Eine Rede
gehalten

bey dem öffentlichen Schulfest am 2. May 1807

von

Carl Ludwig von Haller,

Professor der Staatskunde und Prorektor der Akademie.

Chacun sert pour ce qui lui manque.
Mot d'un Grenadier Suisse.

Tit.

Als ich vor sechs Monaten bey Wieder-Eröffnung der Akademie öffentlich zu sprechen die Ehre hatte: da suchte ich zwar den Beweis zu leisten, daß nicht der Wille der Menschen, nicht künstlicher Vertrag, sondern die Natur selbst unser Geschlecht in gesellige Verhältnisse zusammen (Litt. Archiv. I. Jahrg. IV. Heft.)

24

führt und auch diejenigen bildet, welche wir Staaten zu nennen pflegen a). Aber es mangelte mir die Zeit zugleich zu entwickeln, nach welchem einfachen und bewundernswürdigen Gesetz jene gute Mutter dicses bewèrk, stelliget, und wie liebreich sie für das wesentlichste Be dürfniß ihrer Kinder sorgt b). Seither sind sechs Monate verflossen, während welchen die Kräfte dieser heranwachsenden Jugend beståndig geübet und gemessen worden; heute feyern wir die Fortschritte und den Zuwachs dieser Kräfte, heute wird dem Ueberlegensten Rang, Ehre, Ruhm und Auszeichnung zu Theil. Die Gaben der Natur, die Anstrengung des Fleisses werden öffentlich gekrönt und doch sind sie nur eigene, selbst entwickelte Macht, sie sind nicht durch den Willen der Wettkämpfenden ertheilt, sondern auch ohne ihn vore Handen und gegen fie errungen worden. Gewöhnt an

kleinen vom flüchtigen Aug der Menschen kaum bemerk ten Erscheinungen, die grossen Anstalten der Natur zu entdecken und zwar mit Vorsicht aber auch nicht mit Unglauben dem Finger Gottes nachzuspüren: sollte das was heute hier im Kleinen geschieht, nicht im Groffen durch die ganze Welt der Fall seyn? sollten ähnliche Ursachen nicht überall ähnliche Wirkungen hervorbringen? Last mich also, Tit., diese halbe Stunde der sich von selbst aufdringenden Betrachtung widmen, daß alle Herrschaft, alles Ansehen, alle Auszeichnung in der Welt einzig allein auf höherer Macht,

a) S. Nede über eine andere oberste Begründung des allgemeinen Staats-Nechts im 2ten Heft.

b) Ibid. Seite 156 - 157.

d. h. auf natürlicher oder erworbener Uebers legenheit beruht und daß Bedürfnisse der Grund aller Abhängigkeit, aller Dienstbarkeit, aller Unterordnung find.O! möchte es mir gelingen, Euch dieses Gesetz in seiner reinen ungetrübten Erhabenheit darzustellen, feine allgemeine Herrschaft zu beweisen, dasselbige von dem Mißbrauch der Gewalt zu unterscheiden und endlich feine göttliche Weisheit und Wohlthätigkeit erkennbar zu machen: dann dürfte ich es auch nicht bereuen, Eure Aufmerksamkeit auf einen Augenblick gefesselt und die fröhlichen Feyerlichkeiten dieses Festes mit abwechseln dem Ernst unterbrochen zu haben.

[ocr errors]

Wir sehen in unsern Tagen, gleich wie in allen Epo, chen der Geschichte, die fürchterlichsten Kräfte gegen einander gemessen, nicht weil sie ungleich waren, söndern weil sie einander gleich geachtet wurden; das ganze Les ben und Treiben dieser Welt stellt uns beynahe nichts anders als einen beständigen Wettkampf entgegenstrebender Kräfte dar. Wir hören daher häufig die Klage füh ren: es herrsche nur die Gewalt in der Welt, der Stärks ste allein sey Meister, Weisheit und Tugend würden für nichts geachtet. Sind diese Klagen gerecht? Haben ihre Urheber auch einen deutlichen Begriff von dem was sie damit sagen wollen? Haben sie je darüber nachgedacht, was alles unter dem vielumfassenden Begriff von Kraft oder Macht zu verstehen sey? Haben sie nicht den Ges brauch mit dem Mißbrauch, die Herrschaft des einen göttlichen Gefeßes mit der Verlegung eines andern nicht minder göttlichen verwechselt? O! eine Erscheinung die so allgemein ist, die nicht zerstört werden kann die

-

« PreviousContinue »