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den Erfordernissen des Lebens näher rücken möchten'. Den Gymnasien kann es auch nichts schaden, wenn sie statt der abgestandenen Lektüre von Michaud, Salvandy, Thiers und ähnlichen veralteten Historikern einmal zu frischem lebendigem Stoff greifen, wie er hier geboten wird, um so den Vokabelschatz nicht einseitig werden zu lassen. Der erste Aufsatz L'air et la vie von Henry de Varigny behandelt die Bestandteile der Atmosphäre, die Bedeutung der Luft für das Leben der Tiere und Menschen, die Bedeutung des Wasserdampfes und der festen Körperchen in der Luft, den Luftdruck und seine Beziehung zu den lebenden Wesen. Der zweite Aufsatz nach J. Jamin und J. Fleury: Les ballons et la navigation aérienne, geht von der Erfindung der Montgolfière aus, behandelt die Theorie der Ballonlenkung, die Versuche zur Lenkung, die militärischen Ballons, die Flugmaschine (aéroplane) und die baro-, thermo-, hypsometrischen, sowie die physio- und meteorologischen Beobachtungen in den Ballons. Der dritte Aufsatz von Antoine de Saporta über die Nordlichter ist nicht minder lesenswert als die vorhergehenden. Er behandelt den Gegenstand sowohl historisch als auch beschreibend und erklärend, und geht besonders auf Nordenskiölds und Lenströms Untersuchungen ein. Auch dies Bändchen der vortrefflichen Sammlung sei den Fachgenossen empfohlen.

Berlin.

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W. Mangold.

Joseph Bédier, Les Fabliaux. Études de littérature populaire et d'histoire littéraire du moyen âge (= Bibliothèque de l'École des Hautes Études, fasc. 98, und zugleich Pariser Dissertation). Paris, Émile Bouillon, 1893. XXVII, 485 S. 8.

Schon der Titel scheint anzudeuten, dafs es sich in diesem umfangreichen Buche weniger um eine Geschichte der Fableaux, als um allgemeinere Studien über volkstümliche Litteratur und elegant hingeworfene Aperçus aus der Litteraturgeschichte des Mittelalters handelt. Diese Betrachtungen sind Les Fabliaux betitelt, weil in ihrem Mittelpunkte ein Teil derjenigen Gedichte steht, welche Schriftstellern vom Ende des 16. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart unter dieser Bezeichnung mehr oder weniger klar vorschwebten. Der in Betracht kommende Teil ist das Fablel des 12. bis 14. Jahrhunderts, das der Verfasser für gut befindet, mit dem der Form und dem Inhalt nach vollständig verkehrten neufranzösischen Namen Fabliau zu belegen. Die Gründe, die er dafür anführt, ermangeln jedes Scheines irgend einer Berechtigung. Der Verfasser weils sehr genau (S. 4), dafs gemeiniglich das neufranzösische Wort fabliau einen viel weiteren Umfang hat, als das alte fablel; dafs der Begriff von fabliau bei den Schriftstellern der Neuzeit im allgemeinen ein ebenso unklarer ist, wie der von Komödie und Tragödie im Mittelalter. Selbst wenn wir also genötigt wären was mir übrigens als das Non plus ultra eines verschrobenen Konservatismus vorkommt, eine seit drei Jahrhunderten überlieferte Bezeichnung, wie verkehrt sie auch sein möge, für eine

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und dieselbe Sache beizubehalten, so würde es doch nur angezeigt sein, etwas davon Verschiedenes auch anders zu benennen. Freilich, wenn das neufranzösische fabliau der vom Mittelalter der hier in Betracht kommenden Dichtungsart beigelegte Name wäre, so müssten wir ihn beibehalten und nur den in der Neuzeit gefälschten Begriff richtig stellen. Der Verfasser meint zwar, es sei 'unlogisch, heutzutage altfranzösisch zu sprechen' (S. 3), und als altfranzösisch sprechen sieht er es an, wenn man die fraglichen Gedichte fableaux nennt; wenn man 'französisch' (d. h. neufranzösisch) sprechen wolle, so solle man contes à rire sagen. Aber das letztere bedeutet doch etwas anderes, und wie kann man eine Dichtungsart, für die es im Neufranzösischen eine völlig entsprechende Bezeichnung nicht giebt, anders nennen als mit dem Namen, den ihr die Zeitgenossen gaben? Wer wollte es unternehmen, für descort, jeu parti, tençon, lai, pastourelle u. s. w. neufranzösische Benennungen zu wählen, denen man erst den entsprechenden Sinn geben müfste? Das wäre doch auch nicht 'französisch' gesprochen. Übrigens wäre eine solche Anschauung bei unserem Verfasser um so auffälliger, als er ja seine neufranzösische Prosa auch ohne alle Not beständig mit altfranzösischen Wörtern spickt, so z. B. dans Guillaume (= dominus, als Casus obliquus verwendet, S. 266, Anm. 1; in den Études romanes dédiées à Gaston Paris · par ses élèves français..., 1891, S. 25, heisst es dan, wie im afrz. Texte), provoire (S. 274), gabe und escharnit (S. 330) u. s. w. Er meint nur, wenn man altfranzösische Bezeichnungen in die neue Sprache aufnehme, so könnten es ebensogut auch altpikardische sein. Da wir jedoch neufranzösich und nicht neupikardisch sprechen, so wäre es doch ganz unvernünftig, wenn man die Wahl hat, die pikardische statt der ebenfalls überlieferten französischen Form zu wählen; ja, sogar wenn blofs die pikardische Form überliefert wäre, hätte man das Recht, ihr die Gestalt zu geben, die das Wort nach französischen Lautgesetzen haben müsste. Jedoch könnte fabliaux, und zu gewissen Zeiten sogar auch der Singular fabliau, ebensogut centralfranzösisch sein wie fableau, fableaux, nur mufs man letztere Schreibung wählen, weil sie allein der modernen Orthographie entspricht und man fabliau heutzutage dreisilbig sprechen würde, wie es ja auch thatsächlich allgemein geschieht, und wie auch Victor Hugo an der von Bédier citierten Stelle im Verse mifst. Fabliau dreisilbig ist aber ein Monstrum, das niemals einem Dialekte angehört hat, und das also Bédier völlig zu Unrecht für pikardisch ausgiebt, und der Umstand, dafs Personen, die es eben nicht besser verstanden, diese Form gebraucht haben, kann kein Grund sein, ein solches Sprachungeheuer beizubehalten. Es liefsen sich genug Stellen beibringen, wo langue romane für Altfranzösisch gebraucht ist; nach Bédiers Princip müfste man das auch beibehalten. Wie kann man aber nur sœur (statt sereur) zum Vergleiche herbeiziehen, ein Wort, das stets dem Sprachschatze angehört hat und im höchsten Grade volkstümlich ist, während fabliau ein gelehrtes Wort ganz neuen Datums ist, der grofsen Masse des Volkes völlig unbekannt, und unter dem sich kaum hundert Personen etwas Richtiges vorstellen können? Die

Gerechtigkeit nötigt uns übrigens einzugestehen, dafs alle diese unhaltbaren Gründe für Bédier blofs Nebengründe sind; sein Hauptgrund ist der, dafs es nach seiner Meinung geschmacklos, affektiert, pedantisch und kindisch ist, fableau zu sagen, und dafs er, wie er erklärt, nicht den Mut hat, sich um dieser Form willen dem imperceptible sourire de nos contemporains auszusetzen. Beherzter als er, werden wir dieses Lächeln um so gleichgültiger hinnehmen, als es ja 'unmerklich' ist. Von den Zeitgenossen kommt eben für uns nur die verschwindend kleine Zahl in Betracht, die etwas von der Sache versteht; Bédier dagegen wendet sich auch an diejenigen, die nichts davon verstehen. Das ist aber ein eitles Beginnen, das der Verfasser mit der Zeit vielleicht als solches erkennen wird, denn die letzteren hören und lesen ihn nicht, und man schreibt doch nur für seine Leser.

Die Rücksicht auf diese imaginären Leser hat auch den Verfasser veranlasst, sich in der Vorrede zu entschuldigen, dass er ein Buch über solche veralteten Scherze, wie die Fableaux, schreibe, die uns im Grunde doch nichts mehr angingen. Entschuldbar scheint ihm dieses Unterfangen auch nur deshalb, weil die Geschichte der Fableaux mit allgemeineren Problemen verknüpft ist; für sich selbst aber würden sie nach seiner Meinung eine wissenschaftliche Betrachtung nicht verdienen (S. VII f.). Diese Worte müssen befremden, und man fragt sich, von welchem Standpunkte aus diese humbles contes à rire du XIIIe siècle ... indifférents par euxmêmes sein können. Vom Standpunkte des Mittelalters doch gewiss nicht, denn an zahlreichen Beweisen ihrer grofsen Beliebtheit (Gaston Paris, Les contes orientaux dans la littérature française du moyen âge, S. 21, nennt sie: le plus vraiment populaire de nos anciens genres poétiques) und ihres aufserordentlichen Einflusses nicht nur in der französischen Litteratur bis hinab zur Neuzeit, sondern in der Weltlitteratur überhaupt, fehlt es nicht. Also von einem rein modernen ästhetischen Standpunkt aus? Ich will nicht dagegen ins Feld führen, dafs andere diese Gedichte sogar einer Umdichtung ins Neufranzösische für wert gehalten haben, sondern gegen diesen Standpunkt überhaupt Verwahrung einlegen. Von einem solchen Gesichtspunkt aus darf man mittelalterliche Litteraturwerke, auch Dantes Komödie, nun einmal nicht betrachten; mit dem modernen Publikum haben sie ebensowenig übrigens wie Aristophanes und Rabelais nichts zu schaffen. Geniefsbar sind sie blofs für denjenigen, der sich mit Ernst in die Zeiten vertieft; wer blofs daran naschen will, der bleibe davon!

Dieselbe Geringschätzung für die mittelalterliche Litteratur und Kultur, für das Mittelalter überhaupt, hat Bédier auch an anderer Stelle (Revue des deux mondes, 15. Juni 1890, S. 886) an den Tag gelegt. Was ist uns Arras? meint er am Schlusse einer Besprechung von Adam de la Halles Jeu de la Feuillée; was kümmern uns die Händel zwischen den im mittelalterlichen Gedankenkreise beschränkten Bürgern dieser Stadt? Die Gemüter dieser Leute konnten vielleicht durch das Jeu de la Feuillé in Wallung gebracht werden, aber was geht es uns an? Dann hätte der

Verfasser doch wahrhaftig besser gethan, sich und seine Leser nicht mit so gleichgültigen Dingen aufzuhalten. Für uns andere aber ist Arras durch sein reiches litterarisches Leben eine Stadt von hervorragendster Bedeutung; dazu kommt, dafs wir durch die Zusammenwirkung glücklicher Umstände gerade über das Treiben in dieser Stadt ausnahmsweise gut unterrichtet sind, wozu das Jeu de la Feuillée nicht wenig beiträgt. Welch höchst interessantes Bild entrollt es uns von den Sitten und Anschauungen der damaligen Zeit, und von welch unschätzbarem Werte ist es als eines der ältesten und eigenartigsten Denkmäler des französischen Theaters ungleich wertvoller als unzählige Denkmäler aller Art, Epen, Abenteuerromane u. s. w. Was kümmern uns diese, was die altfranzösische, was die mittelalterliche Litteratur und Kultur überhaupt! Der Verfasser mufs sich doch selber bedauernswert vorkommen, dafs er sich mit so nichtigen Fragen beschäftigt.

Bédiers Buch zerfällt in zwei ungleich grofse Teile, denen ein einleitendes Kapitel (18 Seiten) vorangeht und vier Appendices, ein alphabetisches Verzeichnis der Eigennamen und eine ausführliche Inhaltsübersicht folgen. Der erste, bei weitem gröfsere Teil (231 Seiten) beschäftigt sich nur mit der Frage nach dem Ursprung und der Weiterverbreitung volkstümlicher Erzählungen in der Art der Fableaux und kommt zu einem vollständig negativen Resultat. Abgesehen von einer geringen Anzahl, werden wir, meint er, von all den übrigen Erzählungen niemals wissen, wo noch wann sie entstanden sind, und wie sie sich weiter verbreitet haben. Es ist vollständig aussichtslos, danach zu fragen, und es ist auch ganz gleichgültig, ob wir es wissen, oder nicht. Ist damit die Theorie derjenigen vernichtet, die, wenn nicht jede einzelne Erzählung, so doch die Dichtungsart im allgemeinen aus Einflüssen des Orients herleiten? Gewifs nicht, da der Verfasser, nachdem er über 200 Seiten der Bekämpfung dieser Theorie gewidmet, nur zu einem non possumus gelangt, ja sogar gern zugiebt (S. 247), dass elf Fableaux aus Übersetzungen indischer Sammlungen stammen. Diese elf Fableaux sollen aber auch die einzigen sein, für die Bédier orientalische Formen kennt (S. 115). Die Anzahl scheint etwas gering, bei näherem Zusehen aber erkennt man leicht, dafs sich der Verfasser unter dem Scheine einer vollkommenen Objektivität einer ganz auffallenden Engherzigkeit in der Bekämpfung der orientalischen Theorie schuldig macht. Zunächst sind es nicht elf, sondern ein undzwanzig Fableaux. Die Geschichte von den Zöpfen (Des Tresces, M. R. IV, 94, und De la Dame qui fist entendant son mari qu'il sonjoit, M. R. V, 124) und die von Bérengier (M. R. III, 86 und IV, 93) finden sich je in zwei verschiedenen Fassungen, das Fableau von den Trois Boçus gar, das wieder blofs einzeln unter den elf figuriert, die unermüdlich als die einzigen ausgerufen werden, von denen Parallelen im Orient nachweisbar

1 Mit welcher Genauigkeit diese Untersuchungen gemacht sind, zeigt auch neben anderem, das ich gleich erwähnen werde, das Beispiel von Constant du Hamel, s. unten S. 223.

Archiv f. n. Sprachen. XCIII.

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sind, kommt in acht verschiedenen Gestaltungen vor. Durands Fableau Des trois Boçus (M. R. I, 2) schliefsen sich nämlich fünf Fassungen an, deren Anfang an Constant du Hamel erinnert, und zwar zunächst der Estormi (I, 19) und Haiseaus Des quatre Prestres (VI, 142), dann das Fableau Du Moine (oder Du Secretain, V, 123), Du Segretain moine (V, 136) und Jean Le Chapelains Dou Soucretain (VI, 150), nur dass in den drei letzteren Fableaux an Stelle der drei, oder genauer vier, Priester ein einziger Mönch getreten ist. Dem Grundstoffe nach gleich, aber durch einige stärker abweichende Züge, besonders zu Anfang, unterschieden, reiht sich diesen wieder an das Fableau De la longue Nuit (oder Du Prestre qu'on porte, M. R. IV, 89) und noch weiter ab steht dann die Geschichte Dou Sagretaig (VI, S. 243 ff.). Übrigens findet sich die Beschränkung auf den Leichnam einer einzigen Person auch in Tausend und Einer Nacht, wo der Umstand, dafs es sich um den Leichnam eines Buckeligen handelt, die Verwandtschaft mit der Geschichte von den drei Buckeligen noch deutlicher hervortreten läfst (vgl. Gesamtabenteuer III, S. LI ff.). Das Fableau von Constant du Hamel, das wir eben erwähnt haben, weil es in seinem Anfang Analogien mit einigen anderen Fableaux aufweist,

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1 Während, wie gesagt, die Erzählung von den Trois Bogus allein in der erwähnten Liste genannt ist, so giebt Bédier an anderer Stelle (S. 201 ff.), ohne aber danach seine Liste um ein Fableau zu vermehren, die Geschichte von Estormi als das einzige ihm bekannte altfranzösische Fableau an, das neben den Trois Boçus den betreffenden Stoff überliefert. Das ist bezeichnend für die Sorgfalt, mit der Bédier arbeitet, da doch das Fableau Des quatre Prestres mindestens ebenso eng mit den Trois Boçus verwandt ist, wie der Estormi. Im Appendice II, das die Parallelen zu sämtlichen Fableaux aufzählen soll, ist beim Estormi (S. 418) nur auf die Trois Bossus und auf den Prêtre qu'on porte, und bei diesem letzteren (S. 425) auf die übrigen verwandten altfranzösischen Fableaux verwiesen, aber Haiseaus Quatre Prestres sind wieder vergessen; erst auf S. 426 finden wir dann bei Gelegenheit dieses letzteren Fableaus einen Verweis auf die Trois Bossus, und doch waren sämtliche acht Fassungen nebeneinander schon bei Montaiglon und Raynaud VI, S. 242 aufgezählt. S. 206 und 210 f. hatte Bédier wenigstens richtig erkannt, dafs der Anfang des Estormi (das Gleiche gilt aber noch von vier anderen verwandten altfranzösischen Fableaux, s. oben) dem des Constant du Hamel nahe kommt, wogegen es ganz verkehrt ist, wenn es S. 425 heifst: Le fabliau d'Estormi combine, comme plusieurs des contes ci-dessus indiqués, les données du Prêtre quon porte et des Trois bossus ménestrels. Der darauf folgende Satz beweist dann vollends, dafs Bédier sich die Mühe gespart hat, die betreffenden Erzählungen noch einmal genauer anzusehen. Endlich beweisen auch die drei Geschichten V, 123. 136 und VI, 150, dafs die S. 203 von Bédier für die Trois Bogus aufgestellte forme nécessaire et substantielle, in der z. B. trois cadavres (plus ou moins, mais deux au minimum) u. a. m. verlangt werden, unrichtig ist, da ein und derselbe Leichnam von anderen Personen zurückgebracht werden kann und aufserdem noch Modifikationen vorkommen können und auch thatsächlich vorkommen, die nach der forme substantielle ausgeschlossen wären. Das Gleiche gilt von der forme schématique zu Constant du Hamel (S. 411), in der u. a. mehrere galants verlangt werden, während einer genügt (s. oben). Überhaupt ist mit den von Bédier zu diesen und zu verschiedenen anderen Fableaux aufgestellten Grundformen nicht viel anzufangen, da er die Wandlungsfähigkeit der Erzählungen viel zu sehr unterschätzt, auch nicht alle ihre überlieferten Erscheinungsformen kennt (siehe z. B. unten S. 222 ff.) oder (wie wir eben gesehen haben) berücksichtigt.

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