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verborgen habt!' Judas sprach: 'Gemäfs dem, was uns die Denkwürdigkeiten kundthun, trug sich diese Sache 336 vor ungefähr zweihundert Jahren zu; und wir, die wir heutzutage junge Leute sind woher können wir dies wissen?'

Die Königin antwortete und sprach: 'Und wie [kommt es denn, dafs] man von den Kriegen, die vor Generationen in Troas und Ilion [syr. Ilol] waren, noch heutzutage eine Erinnerung hat, und dafs man auch noch ihre Grabstätten* kennt?' Judas 5 spricht: Erlauben Eure Hoheit! Woher sollen wir eine Schrift, von welcher wir kein Exemplar haben, kennen?'

Die Königin sprach: 'Siehe, soeben hast du vor mir zugestanden, dafs ihr [falsch cod. Berol.: wir] Denkwürdigkeiten des Leidens unseres Herrn besitzt!' Judas spricht: 'Ohne Überlegung habe ich vor Eurer Majestät geredet. Erlauben Eure Hoheit! Es kann sich aus Büchern ergeben, dafs diese Geschichte 10 niedergeschrieben ist; aber wir haben kein Buch, das diese Geschichten enthält.'

Die Königin sprach: Es existiert ein wahrer Bericht im Evangelium, welcher uns genau sagt und angiebt, wo er gekreuzigt worden ist. Nur den Ort, der Golgatha heifst, sollst du mir zeigen; und [dann] werde ich kraft meiner Machtbefugnis anordnen, dass man diesen Ort aufdeckt. Und ich bin der Zuversicht, dafs ich mein Verlangen danach 15 werde befriedigen können.' Judas spricht: 'Auch den Ort kenne ich nicht; und ferner bin ich auch nicht auf derartige Schriften gestofsen.'

Die Königin sprach: 'Wissen sollst du, o Judas, dass ich, wenn du nicht die Wahrheit gestehst und mir sagst, durch Martern und durch Hunger deinem Leben ein Ende machen werde.' Darauf befahl die Königin ihn in eine trockene Cisterne zu werfen und ihn 20 sieben Tage lang ohne Nahrung und ohne Wasser darin zu verwahren; 'und nach sieben Tagen in der Cisterne will ich andere Martern anordnen!'

Und, als Judas sieben Tage in der Cisterne gewesen war, schrie er mit lauter Stimme 337 und sprach: 'Holt mich herauf

* Das syrische Textwort der mesopotamischen Handschrift, deren Text Bedjan wiedergiebt, könnte ungefähr bedeuten: 'ihre Zeitgenossen'; doch ist diese Lesung sicher falsch.

von hier, und ich will der Königin den Ort des Kreuzes Jesu zeigen!' Da gab die Königin Befehl, und man holte den Judas aus der Grube herauf. Und er machte sich auf und ging hin bis zu dem Orte, obwohl er in Wirklichkeit nicht näher mit ihm bekannt war. Und Judas erhob seine Stimme 5 auf hebräisch und sprach also: 'Gott, der den Himmel durch seinen Wink geschaffen hat, und der da thront auf dem Wagen der Cherube, jener Geisterwesen, die im herrlichen Lichte wohnen wohin das Menschengeschlecht nicht zu dringen vermag,* weil du, o Herr, sie zu deinem Dienste geschaffen hast, welche, sechs an der Zahl, je sechs Flügel haben, von denen vier tragen und laufen 10 und mit unaufhörlicher Rede dienen und rufen: "Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der allgewaltige Gott, von dessen Lobeserhebungen Himmel und Erde voll sind" - und du bist der Herr von ihnen allen, weil alles das Werk deiner Hände ist

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und [von denen] du zwei ins Paradies gebracht hast, um den Baum des Lebens zu bewachen, welche Serafe heifsen ** und du bist der Herr von ihnen allen und sie sind das Werk 15 deiner Hände, und der du die Engel, die nicht gehorsam waren, der untersten Tiefe überliefertest, dafs sie dort innerhalb der Thore des Abgrundes bleiben und von dem Drachen auf deinen Befehl gepeinigt werden und nicht sich deinem Willen zu widersetzen vermögen! Und nun, o Herr! wenn es mit deinem Willen geschieht, dafs der Sohn der Maria, der von dir ausgesandt worden ist, herrsche, und dafs die Botschaft 20 seiner Predigt sich ausbreite nach allen Seiten hin zum Preise seiner Ehre und zum Ruhme seines Glaubens und für alle Gläubigen, die [bereits] gläubig geworden sind, und die [noch] an Christus glauben werden - denn, wenn er nicht von dir [gesandt] gewesen wäre, 338 so hätte er nicht diese Wunder gethan, und, wenn er nicht dein Sohn gewesen wäre, so hättest du ihn nicht

* So wird zu lesen sein. Im gegenwärtigen Texte: 'wie das Menschengeschlecht nicht gleich ihm zu schaffen vermag', ist das Wort 'gleich ihm' wahrscheinlich sekundärer Zusatz, veranlafst durch das Zeitwort 'schaffen'. Thatsächlich fehlt das Wort im cod. Berol.

** Diese ganze Stelle geht zurück auf eine Benutzung und zum Teil auf eine Vermengung des Inhalts von Ps. 18, 11. Ez. 1, 14. Jes. 6, 2 f. 1. Mos. 3, 24.

Archiv f. n. Sprachen. XCIII.

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aus dem Grabe auferweckt!; so thu nun, o Herr, auch jetzt dieses Wunder, und, wie du [einst] deinen Knecht Moses erhört hast, indem du ihm die Gebeine Josephs, unseres Vaters, zeigtest [Exod. 13, 19], so zeige nun auch jetzt, o Herr, wenn 5 du es willst, mir diesen deinen kostbaren Schatz und mache, dafs von dem Orte, wo das heilige Kreuz verborgen liegt, ein Balsamduft emporsteige, damit auch ich an den gekreuzigten Christus glaube, der herrschen wird in alle Ewigkeit.'

Und, nachdem Judas gebetet hatte, entstand sogleich ein gewaltiges Erdbeben 10 an dem Orte, und viel Dampf lieblichen Duftes wehte von dem Orte her, so dafs es viele in Erstaunen versetzte, und dafs [auch] Judas erstaunte und in die Hände schlug und sprach: 'Wahrhaftig, du bist Christus, der Erlöser der Welt! Ich danke dir, o Herr, dafs du mir, obwohl ich dessen nicht wert bin, doch deine Gnade nicht entzogen hast. Ich bitte dich, unser Herr Jesus Christus! Du wollest nicht 15 meiner Sünden gedenken, sondern mich beizählen und mich zugesellen dem Stephanus, meinem Bruder, der in der Apostelgeschichte (syr. noάşaç) als der zwölfte deiner Apostel verzeichnet ist!'

Und, als Judas dies gesagt hatte, gürtete er mannhaft seine Lenden und nahm eine Hacke und trat herzu* und fing an zu graben. Und, als er etwa zwanzig Ellen tief gegraben hatte, da fand er drei Kreuze, die [dort] verborgen lagen. Und, als er sie sah, erfafste ihn grofses Staunen; und er nahm 20 sie und brachte sie in die Stadt hinein zu der gläubigen Königin, der Mutter des Konstantinus, des siegreichen Königs. Als aber die Königin sie sah, stand sie sogleich auf und breitete ihre Hände gen Himmel und dankte Gott, dafs er ihr 339 ihren Wunsch nicht versagt hatte; und sie fragte den Judas: 'Welches von ihnen ist das, woran Christus gekreuzigt worden ist? Denn ich weifs, dafs zwei von ihnen den Räubern sind, welche mit ihm ge

* Hier folgt noch im cod. Mus. Brit. I: 'und war stark [sc. im Glauben] wie Abraham', was auf Röm. 4, 20 zurückgeht, während der Text der zweiten und dritten griech. Version: 'gegürtet wie der edle Abraham', auf eine stilistische Kürzung zurückgeht. Auf 'und fing an zu graben' folgt dann noch: 'Da traten herzu zu seiner Hilfe die, welche von der Königin gesandt worden waren.'

kreuzigt wurden.'* Da legten sie dieselben in der Mitte der Stadt hin 5 und warteten darauf die Herrlichkeit Gottes zu sehen.

Zur Zeit der neunten Stunde aber, da ward ein Toter auf der Bahre vorübergetragen; jener Tote war aber ein Jüngling. Als aber Judas den Toten sah, frohlockte er in seiner Seele und sprach zur Königin: Jetzt, o Herrin, hast du [Gelegenheit] zu erfahren, welches das Kreuz ist, an welchem unser Herr gekreuzigt wurde; und auch 10 seine Wunderkraft kannst du erkennen.' Und, als Judas dies gesagt hatte, hielt er die Bahre an und legte zwei Kreuze darauf; und nicht lebte der Tote auf. Und er nahm diese beiden Kreuze von der Bahre weg und legte das dritte hin, das ist das, woran unser Herr gekreuzigt worden war; und, sobald nur das Kreuz unseres Herrn auf den Toten hingelegt wurde, 15 ward er lebendig und stand auf. Und alle die, welche dort standen, priesen Gott; der Satan aber, der gewohnt ist edle Thaten zu beneiden, schrie sogleich auf und sprach: Wer ist wieder der, der mich nicht läfst die Seelen in Empfang nehmen? Oder rührt es von dir her, Jesus von Nazareth? Du hast die ganze Welt zu dir hingezogen! Und warum hast du nun wieder 20 dein Kreuz gegen mich zum Vorschein gebracht? Judas! warum hast du dies gethan? Ehedem habe ich durch einen Judas Verrat geübt und habe das Volk veranlasst sich zu versündigen; 340 und jetzt werde ich nun durch einen Judas verfolgt. Wohin soll ich denn von hier weg hingehen? Ich habe [aber] herausgefunden, was ich gegen dich thun will: einen anderen König, der herrschen soll, will ich aufstacheln, und er wird den Namen dessen, der gekreuzigt wurde, abschaffen, und er wird mir nachfolgen und meinen Willen thun, indem er dich 5 vielen Martern hingeben wird; alsdann wirst du den verläugnen, der gekreuzigt wurde.'

Judas aber, als er solches hörte, ward heftig und fuhr diesen Geist an, hob an und sprach: 'Christus, der die Toten auferweckt hat, der möge dich schelten!'** Als aber die selige

*Im cod. Mus. Brit. I folgt: 'Er sprach: "Ich weifs es nicht". In der fehlerhaften Lesung der Stelle bei Bedjan scheint noch ein Rest des Obigen zu stecken. Doch fehlt der Satz auch in den griechischen Versionen. ** Dafür nach cod. Mus. Brit. I: 'der verurteile dich in die unterste Tiefe des brennenden Feuers.'

Helena dies hörte, wunderte sie sich über den Glauben des Judas; und sogleich beruhigte sich jener Mann seitens seines Dämons* und ward ruhig.

10 Die selige Helena aber bewahrte mit vieler Sorgfalt das anbetungswürdige Kreuz des Herrn; und sie fafste es ein in Gold und Edelsteine und machte dafür einen silbernen Kasten und legte es hinein. Und sie fing an eine Kirche an dem Orte, der Schädelstätte heifst, zu bauen. Den Judas aber, nachdem 15 er die unvergängliche Taufe auf Christus empfangen hatte und gläubig geworden war infolge der Zeichen, die er gesehen hatte, übergab sie dem Bischof, der zu jener Zeit dort war, welcher ihn auch auf Christus getauft hatte. Als aber die selige Helena in Jerusalem sich aufhielt, war [gerade] der Bischof gestorben; Helena aber berief den Eusebius, den Bischof von Rom, und veranlafste es, dafs Judas Bischof 20 in Jerusalem werden sollte, und sie veränderte seinen Namen und nannte ihn Cyriacus.

Da aber die selige Helena voll war des Glaubens an Gott. und der Kenntnis der göttlichen Schriften, der alten und der neuen [Erkenntnis], so bemühte sie 341 sich auch noch die Nägel eifrig zu suchen, mit denen unser Herr durchbohrt worden war (eig. die durch unseren Herrn gebohrt worden waren), als er ans Kreuz gehängt wurde. Und sie berief den Judas und sprach zu ihm: 'Mein Verlangen nach dem Kreuzesholze ist erfüllt worden; aber die Nägel, mit denen die Hände 5 und Fülse unseres Herrn durchbohrt wurden, bin ich begierig noch zu finden. Und nicht kommt mein Herz zur Ruhe und Befriedigung, bis dafs unser Herr mir auch dieses Verlangen erfüllt. Aber bete immer wieder zu unserem Herrn um deswillen! Er aber kam zu dem Orte, der Schädelstätte heifst, mit vielen Brüdern, die an unseren Herrn Jesus Christus glaubten, die da das Wunder gesehen hatten, 10 welches geschehen war, als das Kreuz gefunden wurde, und wie es auch den Toten auferweckt hatte. Als er aber hinkam, hob er seine Augen auf gen Himmel, indem

* So zu lesen nach dem syr. Text des cod. Mus. Brit. II bei Nestle, a. a. O. S. 33, Zeile 201. Gemeint ist Judas, der sich nicht länger durch die Anklagen des Satans irritieren liefs. Der Satz fehlt in den griechischen und in der lateinischen Version.

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