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Syrische Quellen abendländischer Erzählungsstoffe.

I. Die Kreuzauffindungslegende.

Unter den Erzählungsstoffen der christlichen Litteratur des Mittelalters steht die Kreuzauffindungslegende an Beliebtheit und Verbreitung mit obenan. Wir wissen jetzt, dafs Syrien die Heimat dieser und anderer verwandten Legenden, wie der von der ersten Kreuzauffindung durch Protonike, die Gemahlin des Kaisers Claudius,2 gewesen ist. Nach Lipsius und Tixeront ist

1 Vgl. Adelb. Lipsius, Die edessenische Abgarsage, kritisch untersucht, Braunschweig 1880, S. 69 ff. L. J. Tixeront, Les Origines de l'Église d'Édesse et la Legende d'Abgar, Paris 1888, und hierzu Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden, Ergänzungsheft, 1890, S. 105 ff. Dieser Annahme der Entstehung der Kreuzauffindungslegende stimmt u. a. auch zu Alfr. Holder, Inventio sanctæ crveis: actorum Cyriaci pars I, Lips. 1889. Bekannt ist, dafs diese orientalische Gestalt der Kreuzauffindungslegende von Papst Gelasius i. J. 495/6 als apokryph bezeichnet und ihre Lektüre den Katholiken verboten wurde, sowie dafs sie trotz dieses Verbotes auch im Abendlande recht populär war, so dafs selbst streng kirchliche Männer wie Gregor von Tours, Beda Venerabilis, Cynewulf, Rabanus Maurus und Notker ihre Angaben vertreten.

2 Diese Übertragung der Helenalegende ins erste Jahrhundert erscheint in den syrischen Quellen immer mit dieser selbst verbunden. Vgl. den syrischen Text und die deutsche Übersetzung einiger dieser Kreuzauffindungslegenden bei Eb. Nestle, De sancta cruce. Ein Beitrag zur christlichen Legendengeschichte, Berlin 1889. Weitere syrische Stücke der Kreuzauffindungslitteratur sind von mir übersetzt worden und werden in Briegers Zeitschrift für Kirchengeschichte (Band XV, Heft 2) veröffentlicht. Zwischen dem dort von mir übersetzten Texte der Protonikelegende und denen Nestles (a. a. O. S. 7 ff. S. 39 ff. und S. 21 ff. S. 51 ff.) findet dasselbe Verhältnis statt wie zwischen den analogen Texten der Helenalegende (s. unten S. 6). Die sich daran anschliefsende Einleitung zur Helenalegende stammt aus Eusebius' Hist. eccl. III, 32, resp. IV, 5. Archiv f. n. Sprachen. XCIII.

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diese ganze Legendenlitteratur zu Edessa, dem Hauptsitze der syrischen Gelehrsamkeit und Schriftstellerei jener Zeit, entstanden, die Helenalegende wahrscheinlich noch vor 370 n. Chr., die Protonike-Erzählung, welche später in die Doctrina Addæi1 Aufnahme fand, etwa um 400, und noch etwas später die mit der Helenalegende verknüpften Acta Cyriaci. Auf das litterarische Verhältnis der beiden Kreuzauffindungslegenden näher einzugehen, ist hier nicht der Ort; doch sei noch erwähnt, dafs es jetzt als ausgemacht gelten kann, dafs nicht die Protonikesage den Grundstock bildet, sondern die Helenalegende, und dafs die ganze Legendenbildung vom Kreuze Christi und seiner Auffindung, zu der auch noch die Vita Silvestri gehört, auf die beiden

1 Vgl. George Phillips, The Doctrine of Addai, the Apostle, now first edited in a complete form in the original Syriac, with an English translation and notes, London 1876. Zu den späteren Zuthaten in der Doctrina Addai gehört auch die von ihrem Verfasser selbst eingefügte Episode von der Kreuzauffindung durch Protonike, die mit der Geschichte vom Briefwechsel zwischen Abgar und Christus in Verbindung steht. Erwähnt sei noch, dafs nach Lipsius und Tixeront die von Eusebius, Hist. eccl. I, 13, benutzten Acta Edessena älter und ursprünglicher sind als die Doctrina Addai

" Dafs die Helenalegende älter ist als die Protonikesage, und dafs die letztere nicht unabhängig von ersterer, sondern vielmehr eine jüngere Kopie derselben ist, nehmen aufser Lipsius (Die edessenische Abgarsage, S. 88-92) und Tixeront auch an Kayser, Kraus, ebenso wie schon vorher Thiel, Knöpfler, Duchesne. Dagegen war Nestle (Göttinger gelehrte Anzeigen 1880, Stück 48, S. 1520 ff.) nach Phillips u. a. der Ansicht, dafs die Protonikelegende zwar wie die Helenalegende auf dieselbe Thatsache zurückführe, nämlich auf das Vorzeigen des Kreuzes Christi in Jerusalem, und dafs sie auch so ziemlich derselben Zeit angehöre wie diese, dafs sie aber völlig unabhängig von ihr und wohl auch noch etwas früher als sie in Edessa entstanden sei, während diese dem Abendlande (gemeint ist nach De sancta cruce S. 75: dem Römerreiche, einschliefslich des 'griechischen Orients') angehöre. Der Legendencharakter der Protonike-Erzählung ergiebt sich übrigens schon aus dem Namen, der zudem in verschiedener Form überliefert ist, wenngleich alle Formen zeigen, dafs er auf tendenziöse Erfindung zurückgeht. Nach Nöldeke (Litterar. Centralblatt 1876, Nr. 29) ist er gebildet in Erinnerung an das konstantinische Ev toitų víza, in der Form Patro- resp. Petronike wird er von Zahn als Beziehung auf 'die geistlichen Eroberungen des Petrus' gefasst, doch könnte er auch auf Brittanica zurückgehen; andere Formen sind noch Patronica, Patronicia und Parthunike.

geschichtlichen Thatsachen der Auffindung des Grabes Christi i. J. 326 und der Erbauung der Grabeskirche i. J. 335 zurückgeht, weshalb sie eben erst später entstanden sein kann.1

Wie der syrische Legendenstoff der Kreuzauffindung durch Helena nach dem Abendlande gekommen ist, darüber erhalten wir durch kein äufseres Zeugnis Kunde. An sich zwar wäre es nicht unmöglich, dafs die syrische Erzählung direkt nach dem Abendlande verpflanzt worden wäre, da wir dies durch ausdrückliches Zeugnis Gregors von Tours betreffs der von ihm in die Litteratur des Abendlandes eingeführten Siebenschläferlegende wissen, die dieser mit Hilfe eines syrischen Dolmetschers ins Lateinische übersetzte und zweimal bearbeitete.2

Aber für die Helenalegende ist dies um so weniger wahrscheinlich, als verschiedene griechische Versionen noch heute vorhanden sind. So enthält der zweite Band von J. Gretseri Opera omnia (Regensb. 1734, wie B. I u. III mit dem Titel De sancta

1 Zu beachten ist dabei dies, dafs die Kreuzauffindungserzählung immer an die Auffindung des Grabes Christi angeknüpft ist, wie auch das (angeblich) wieder aufgefundene Kreuz Christi in Jerusalem erst seit der Wiederauffindung des Grabes i. J. 326 gezeigt wurde. Die ältesten Berichte über die Auffindung der drei Kreuze, des Kreuzes Christi und der zwei mit ihm gekreuzigten Übelthäter, sowie über die spätere Auffindung der Kreuzesnägel (jedoch anfangs, ohne dafs Helena daran beteiligt ist) finden sich bei Cyrillus, Katech. IV, 7. X, 9 (wogegen der Brief an Kaiser Konstantius aus dem Jahre 351 wohl unecht ist), Johannes Chrysostomus, 81. (85.) Hom. in Ioannem, bei Ambrosius, De obitu Theodosii Magni (ed. Venet. IV, 294), bei Rufinus, Hist. eccl. (X, 7 u. 8) und in Sokrates' Hist. eccl. (I, 17), die älteste Notiz über die Kreuzeskirche bei Eusebius, Vita Constantini (3, 26). Vgl. Lipsius, Die edessenische Abgarsage 1880, S. 72 ff. Weiteres über die Litteratur betreffend die verschiedenen Berichte über die zwei Kreuzauffindungen siehe in dem Artikel ‘Kreuzerfindung' in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon, 2. Auflage, B. 7, 1891, S. 1092–99, wo übrigens die Entdeckung des Kreuzes Christi in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts als historische Thatsache angesehen wird.

2 Vgl. Monumenta Germania historica; scriptores rerum Merovingicarum, Tom. I. 1885, p. 552 (am Schlusse von § 94 der Schrift De gloria martyrum): Quod passio eorum, quam Siro quodam interpretante in Latino transtulimus, plenius pandit, sowie a. a. O. p. 853 (am Schlusse der Passio septem dormientium): Translata in latinam per Gregorium episcopum, interpretante Ioanne Syro, que observatur 6. Kal. Augusti.

cruce) drei solche in griechischer Sprache abgefafste Versionen.' Von der griechischen 'Kreuzauffindung' ist dann wieder die lateinische Version abhängig, welche nach vier Handschriften und dem Drucke von Mombritius in den Acta Sanctorum IV. Mai (Maii Tom. I), p. 445 ff. abgedruckt ist, wozu jetzt auch der Text bei Holder kommt. Diese lateinische Version liegt dann wieder den verschiedenen mittelalterlichen Bearbeitungen zu Grunde, von denen wir da dieser Litteraturkreis den Lesern dieser Zeitschrift hinlänglich bekannt ist nur die Bearbeitung der Legende in Cynewulfs 'Elene'2 und in dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden mittelirischen Leabhar Breac3 anführen wollen.

1 Von diesen drei griechischen Versionen (1. S. 417-425, wieder abgedruckt bei Holder; 2. S. 425-429 b; 3. S. 429 b-434 a), die alle nur in verschiedener Weise auf den von uns übersetzten syrischen Text bei Bedjan zurückgehen, stimmt die zweite fast ganz wörtlich mit der syrischen Vorlage überein, während die erste, bei welcher die der eigentlichen Auffindungsgeschichte vorausgehende Einleitung (s. u.) fehlt, ihr ziemlich nahe steht, die dritte aber besonders in der Darstellung, weniger in den Reden, viel weiter ausgesponnen ist. Mehrfach war der syrische Text auf Grund dieser zweiten Version zu verbessern; dagegen sind Abweichungen in der Darstellung, betreff's deren die Priorität zweifelhaft ist, nicht weiter berücksichtigt worden, indem wir dies weiterer Forschung und Vergleichung überlassen, zu welcher unsere ganz genaue deutsche Übersetzung die Möglichkeit geben soll. Die eigentliche Auffindungsgeschichte beginnt S. 426 a mit einer neuen Überschrift; doch ist die Einleitung S. 425-426 a nicht eine selbständige Erzählung (wie Schirmer a. a. O. S. 65 vermuten läfst).

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Abgesehen von direkten Bearbeitungen der lateinischen 'Kreuzauffindung' wird auch sonst in der mittelalterlichen Litteratur vielfach der Bericht von der Kreuzauffindung durch die Kaiserin Helena nacherzählt, so z. B. in der Chronik des Sulpicius Severus, während schon Ambrosius gelegentlich in seiner Rede auf Theodosius der Auffindung des Kreuzes und der Kreuzesnägel durch Helena gedenkt, ebenso wie später Ælfric in einem seinen Homilia catholica angehörenden Sermon über das Fest der Kreuzauffindung den Stoff behandelt. Noch weit zahlreicher sind die Prosawerke und Dichungen, welche die mystische Bedeutung des Kreuzes Christi feiern oder wenigstens auf sie Bezug nehmen. Vgl. über diese verschiedenartigen Litteraturwerke Eberts 'Allgemeine Geschichte der Litteratur des Mittelalters im Abendlande', 3 Bde., Leipzig 1884-87 (1. Band in 2. Aufl. 1889), in welcher die Register zu den einzelnen Bänden einzusehen sind.

3 Vgl. Gust. Schirmer, Die Kreuzeslegende im Leabhar Breac. St. Gallen

Wenn nun auch nicht anzunehmen ist, dafs die mittelalterlichen Bearbeiter der Helenalegende von dem syrischen Originaltexte Kenntnis gehabt haben, so ist doch eine Publikation der syrischen Kreuzauffindung' auch für die Vergleichung mit ihren mittelalterlichen Absenkern durchaus nicht wertlos. Denn ebenso wie z. B. durch eine Vergleichung des Pseudo-Callisthenes mit den verschiedenen Bearbeitungen dieser 'Alexandergeschichte' an nicht wenig Stellen der griechische Text rekonstruiert werden kann, da gröfsere und kleinere Partien, die in den griechischen Texttypen entweder ganz verloren gegangen oder doch arg verstümmelt sind, in den einzelnen Übersetzungen sich erhalten haben, so kann auch bei der Kreuzauffindungslegende die syrische Gestalt zur Rekonstruktion fehlerhaft gewordener Partien der Bearbeitungen verwendbar sein. Aber, auch abgesehen hiervon, ist es sicher lohnend, auf Grund des syrischen Textes die verschiedenen Zuthaten der Bearbeiter besser erkennen und aus

1886, S. 31-43 und S. 61-70. Mit Cynewulfs Elene hat die irische Bearbeitung manches Gemeinsame, z. B. dafs an die Stelle der ‘Barbarenheere' in dem Originalwerke eine Aufzählung der verschiedenen Völkerschaften tritt. Trotz derartiger Einschaltungen ist doch im L. Br. der zu Grunde liegende Text so treu überliefert, dafs man mit seiner Hilfe auch ohne die griechischen Versionen und die ihr nächstverwandte lateinische Version in den Acta Martyrum an verschiedenen Stellen den verderbten syrischen Wortlaut restituieren kann. Umgekehrt erklären sich zwei Abweichungen des L. Br. am einfachsten so, dafs man sie auf ein Mifsverständnis des syrischen Textes von seiten des Verfassers der dem L. Br. zu Grunde liegenden Version zurückführt. Denn das falsche Wort 'Plan' (Schirmer, a. a. O. S. 40, Z. 1) für König' 340, 2, wie auch die griechische und lateinische Version richtig haben (gemeint ist Julianus Apostata), könnte leicht durch falsche Lesung des syrischen Nennwortes (= melka statt malka) entstanden sein, und 'der die Toten erweckt' (ib. Z. 7) statt 'der den Toten erweckt hat' 340, 7, durch falsche Lesung des syrischen Nennwortes als Plurals (freilich auch in den griech. und der lat. Version und im Texte der Acta Martyrum), was dann im L. Br. (nicht aber im Griechischen) die Ersetzung des Perfekts des Prädikats des Satzes durch das Präsens zur Folge hatte, während doch der Zusammenhang für die Ursprünglichkeit der Fassung der den Toten auferweckt hat' Zeugnis ablegt. Den ersteren Fall könnte man, da die anderen Texte das Richtige haben, für die Möglichkeit direkter Benutzung des syrischen Textes durch den Iren verwerten.

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